Als Walter Benjamin vor knapp 100 Jahren den Verlust der Aura von Kunst beklagte, machte er diese Entwicklung an technischen Neuerungen wie Film und Fotografie fest. Er konstituierte die gesteigerte Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks, das „grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen“[1] ist, als Signum gesellschaftlicher Umbrüche. Heute finden wir uns in einer ähnlichen Situation wieder, wenn die fortschreitende Digitalisierung Kunst in einer Imitation der Wirklichkeit in den virtuellen Raum überträgt, die vollzogene Transferleistung jedoch die auratische Wirkung der Werke vermissen lässt.
Dieser Tage in eine ungeahnt tiefe Krise gestürzt, greift der Kulturbetrieb aktuelle digitale Entwicklungen auf und feiert den virtuellen Raum als neu erobertes Terrain. Digitale Ausstellungen, interaktive Führungen, partizipative Gesprächsrunden und Podcasts erleben einen regelrechten Boom seit Beginn der Pandemie. Museen und Ausstellungshäuser, die bisher zumeist keine kohärente digitale Strategie verfolgt haben, erkennen darin eine Möglichkeit auch in Zeiten der physischen Abwesenheit im Gespräch zu bleiben, die Kunst für das Publikum weiterhin sichtbar zu machen. Plötzlich sind viele Formate, die kürzlich erst unmöglich schienen, lästige Zusatzarbeit waren, zum Mittel der Wahl geworden.
So gut virtuelle Ausstellungen auch kuratiert sind, so ambitioniert ihre technische Umsetzung, so groß ist der Verlust der Sinnlichkeit von Kunstwerken, die auf eine Wahrnehmung im realen Raum ausgelegt sind. Historisch vorgeprägte und jüngst immer populärer gewordene Tendenzen hin zu einer Kunst als alle Sinne begreifendes Erlebnis, als ein Eintauchen in immersive Bildwelten, ist derzeit nur noch in der virtuellen Realität erfahrbar.
Für Benjamin war die Entauratisierung der Kunst, der Verlust des „Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“[2], aber nicht gleichbedeutend mit dem Untergang der Kunst, sondern vielmehr der Weg zu einem demokratischeren Verständnis derselben.
Die Kunst löste sich von religiöser Verehrung, von ihrer Verankerung im Ritual und beschritt ein neues Zeitalter, welches in seiner kathartischen Kraft gänzlich neue Möglichkeiten offerierte.
Krisen waren gestern wie heute immer schon Treiber von Fortschritt und Erneuerung. Kunst im virtuellen Raum darf jedoch nicht den Austausch vor Ort ersetzen oder gar zu der falschen Annahme führen, dass ein digitales Angebot lokale Formate sowie entsprechende Gelder obsolet mache. Vielmehr müssen die im virtuellen Raum gesammelten Erfahrungen als Ergänzung und Bereicherung des breiten Spektrums diverser Vermittlungsangebote begriffen werden, als neue Impulse für längst überfällige Veränderungen.
Digital Culture als fester Bestandteil kultureller Bildung öffnet den Blick auf die Lebenswirklichkeit des Publikums, offenbart neue Erzählmuster und erschließt bisher unerreichte Besuchersegmente. Digitale Formate können als Experimentierfelder für neue Diskursplattformen und offenen Austausch gesehen werden, die der zunehmenden Heterogenität der Besucherschaft gerecht werden. Das Teilen von Kunst im digitalen Raum trägt letztlich zur Sichtbarkeit sowie zur Unverzichtbarkeit kultureller Institutionen bei.
Das Problem liegt nicht in dieser Form der Demokratisierung von Kunst und all den darin enthaltenen neuen Möglichkeiten, es liegt in einem Konsumverhalten, das Kunst und Kultur wie Werbung konsumiert, es liegt in der Aufnahmefähigkeit des Menschen, die fernab jeglicher Kontemplation ob der schieren Fülle des Angebots überfordert ist.
Zu keiner Zeit war die Menschheit einer größeren Bilderflut, einer unüberblickbareren Menge an Kunst, Literatur, Musik, allerorts und jederzeit frei verfügbar, ausgesetzt. Der enorme Verbrauch an ästhetischen Werken heutzutage ist unvergleichlich in der Geschichte der Menschheit. Abgeleitet vom ursprünglichen Wortsinn des Ästhetischen – aísthēsis – ist es der Kunst ein intrinsisches Anliegen, eine in sich selbst liegende Motivation, uns durch betrachtende Wahrnehmung tief im Innern zu berühren, uns aufzustören aus dem Alltäglichen, dem Gewöhnlichen. In ihrem medialen Konsum aber ist die Kunst mehr zum Weg- als zum Hinsehen bestimmt. Benjamin machte den Verlust der Aura an einer veränderten Art der Wahrnehmung fest, die in der heutigen Zeit mit dem Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie beschrieben werden kann. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, das in fluiden Datenräumen zum begehrten Kapital wird.
Im digitalen Raum fließt eins ins andere, sind alle Themen in der Tiefe verfügbar, aber werden sie oftmals nur oberflächlich konsumiert. In diesem Sinne boten doch ein Museumsbesuch, ein Konzert oder ein Abend im Theater in ihrer Einmaligkeit, in ihrer Dauerhaftigkeit, eine willkommene Auszeit von medialer Überfülle, vom ständigen Blick auf das Handy, vom neuzeitlichen Bildersturm. Ich jedenfalls freue mich auf ein Wiedersehen mit der Kunst in der Wirklichkeit, die gerne in den digitalen Raum erweitert, aber nie ersetzt werden darf.
Julia Stellmann
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[1] Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935-39), in: „Walter Benjamin – Gesammelte Schriften“, Band I, Teil 2, Frankfurt am Main 1980, S. 474.
[2] Benjamin 1980, S. 475.
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