In diesem Jahr hätte Ingolf Timpner (1963–2018) seinen 60. Geburtstag feiern können. Der Nachlass des Düsseldorfer Fotokünstlers, betreut von seiner Frau Nahlah Saimeh, will das Œuvre des Künstlers, der mit den Alten Meistern auf vertrautem Fuß stand, durch Ausstellungen und Publikationen bekannter machen.
von Jörg Restorff
Der demographische Wandel macht vor der Kunstwelt nicht Halt: Immer mehr Künstler werden immer älter. Weil Kreativität kein Verfallsdatum kennt, verspürt kaum einer von ihnen Lust auf Ruhestand. Die Folge: Der Output wächst und wächst. Gar nicht selten kommt er erst mit dem Tod zum Erliegen. Womit wir beim Thema Nachlass sind. Klingt potenziell morbide, ist aber ungemein vital, wie die immens gestiegene Zahl der Initiativen und Publikationen beweist, die sich mit der künstlerischen Hinterlassenschaft befassen. In Berlin haben Loretta Würtenberger und Daniel Tümpel sogar ein „Institut für Künstlernachlässe“ gegründet – nach eigenem Bekunden „die einzige Forschungseinrichtung in Europa, die sich ausschließlich dem Themenkomplex der Künstlernachlässe widmet“.
„Was geschieht mit meinem Nachlass?“ – diese Frage, die der Bundesverband Künstlernachlässe (BKN) als Titel für eine 2021 erschienene Publikation wählte, brennt vielen unter den Nägeln. Gewiss, es gibt einige wenige Institutionen, die sozusagen amtlich zuständig sind für das bildnerische Erbgut, beispielsweise das Archiv der Akademie der Künste in Berlin oder das in Pulheim ansässige Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds. Doch kann hier nur ein Bruchteil dessen für die Nachwelt gesichert werden, was Künstler hervorbringen.
Die ertragreichen Rosinen aus dem Nachlass-Kuchen picken sich einige Kunstmarkt-Player heraus – vor allem die weltweit agierende Galerie Hauser & Wirth (dort werden mehr als 35 Künstlernachlässe betreut und vermarktet) und David Zwirner. Hierzulande hat beispielsweise der Kölner Van Ham Art Estate inzwischen circa zehn Nachlässe unter seine Fittiche genommen.
Spielraum für Eigeninitiative
Zwischen öffentlich geförderten oder gar finanzierten Archiven und solchen Nachlassbetreuern, die daraus ein Geschäftsmodell gemacht haben, bleibt reichlich Spielraum für Eigeninitiative. Ein bemerkenswertes, bislang wenig bekanntes Beispiel hierfür stellt die ITNS Nachlassverwaltung dar – sie betreut und vermittelt das Werk des frühverstorbenen Düsseldorfer Fotokünstlers Ingolf Timpner (1963–2018). Gegründet wurde sie 2018 durch seine Frau Nahlah Saimeh. Sie kümmert sich mit Expertise, Energie und Herzblut um das Vermächtnis des Künstlers. Timpner war ein Unzeitgemäßer, einer, dessen tiefernste Bilder an Existenzielles rühren und der eindringlichen Betrachtung bedürfen – also das Gegenteil dessen, was heute als Rezeptionsverhalten im zeitgenössischen Kunstbetrieb gang und gäbe ist.
Gäbe es Zeitreisen, hätte sich Ingolf Timpner schnurstracks in die Renaissance verabschiedet. Stattdessen studierte der Autodidakt die Alten Meister, inszenierte sich als Dürer des 21. Jahrhunderts, ging mental mit dessen Meisterstich „Melencolia“ d’accord und ließ sich bei seinen sorgfältig in Szene gesetzten Porträts und Stillleben von Gemälden der Renaissance und des Barocks inspirieren. Als Anregung dienten ihm auch die klassizistischen Skulpturen von Christian Daniel Rauch und Bertel Thorvaldsen, die Scherenschnitte des Romantikers Philipp Otto Runge und die kindlichen Modelle der Künstlergruppe Brücke.
Schädel, verwelkte Früchte, Vanitas-Symbole
So vielfältig die kunsthistorischen Referenzen, so eindeutig das Leitmotiv: Dominiert wird seine Kunst von Beginn an durch den Tod – Schädel, verwelkte Früchte, Vanitas-Symbole und Memento-mori-Verweise geben sich ein Stelldichein in den Fotografien. „Philosophieren heißt sterben lernen“, schrieb im 16. Jahrhundert der Essayist Michel de Montaigne. Es scheint statthaft, die Maxime auf Ingolf Timpner zu übertragen und umzuformulieren: „Kunst machen heißt sterben lernen.“
Timpners Todessehnsucht kulminierte am 17. August 2018 in seinem Freitod. Der Künstler sprang von der Ruhrtalbrücke – 60 Meter hoch ist die berüchtigte, von vielen so genannte „Todesbrücke“, vier Sekunden dauert es bis zum Aufprall. Nahlah Saimeh sieht darin jedoch keinen Akt der Verzweiflung, sondern eine wohlkalkulierte existenzielle Setzung. Vergleichbar mit Yves Kleins berühmtem „Sprung in die Leere“ und letztlich wohl selbst gedacht als finales Kunstwerk.
Am 10. Mai hätte Ingolf Timpner seinen 60. Geburtstag feiern können. Aus diesem Anlass widmete ihm die Städtische Galerie im Park in Viersen unlängst eine Retrospektive, betitelt „Übergangsphänomene“. Parallel dazu hat Nahlah Saimeh ein Buch herausgegeben. Unter dem Motto „Vom Augenblick des Überzeitlichen“ vereint es 60 Einzelwerkbetrachtungen von 18 Autoren, unter ihnen Bernd Desinger, Leiter des Filmmuseums Düsseldorf, der Foto-Experte Klaus Honnef und der Sammler Florian Peters-Messer. Auch Saimeh selbst, als forensische Psychiaterin bundesweit bekannt, steuerte eine Reihe von Texten bei. Den Abschluss der Publikation markiert eine Timpner-Hommage des Goldschmiedes Georg Hornemann – seine Brosche „Ingolfling“ verleiht dem Künstler Schmetterlingsflügel.
Vorbildliche Dokumentation
Die nahtlose Buchstabenreihe ITNS versteht Saimeh als Hinweis „auf die enge Verbundenheit und Kontinuität von Ingolf Timpner und dessen Repräsentanz als Künstler durch die Nachlassverwaltung“. Rund 2 500 Werke umfasst das Schaffen – hauptsächlich analoge Schwarzweiß-Fotografien, aber auch Skulpturen und Objekte. In Sachen Dokumentation des Œuvres könnte sich manch eine Institution von ITNS ein Scheibchen abschneiden: Sämtliche Arbeiten sind in einer Datenbank erfasst; öffentlichkeitswirksamen Flankenschutz geben eine Website, jährliche „Private Review / Private Preview“-Veranstaltungen und monatliche Einzelwerkbetrachtungen per Newsletter. Weitere Ausstellungen und Publikationen sind in der Pipeline.
Der mit der Kamera malt
Zurück zur Kunst: Früh schon interessierte sich Ingolf Timpner für Fotografie. Bereits als 15-Jähriger widmete er sich der Kamera mit professioneller Leidenschaft. Nostalgisch mutet seine Technik an: Die analogen Bilder machte er mit alten Rolleiflex-Kameras. Bei der Entwicklung in der Dunkelkammer verwendete er mit Vorliebe einen Naturschwamm – deshalb haben die Silber-Gelatine-Prints auf Barytpapier eine beinahe malerische Oberfläche. Diesem Verfahren verdanken sich auch die für Timpner typischen Ausflockungen am Rande des Abzugs. Handkolorierungen, die subtile Farbeffekte hinzufügen, kamen seit 2007 hinzu. Vor manchen dieser Bilder fühlt man sich erinnert an den Piktorialismus, jene kunstfotografische Stilrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, die mit der Kamera zu malen versuchte.
Ingolf Timpners Porträts sind mehr als akkurate Darstellungen von Menschen – der Künstler will Wesentliches erfassen, vielleicht sogar das Wesen. Davon zeugt besonders seine Serie „Wahlverwandtschaften“ – hier posieren seine Modelle mit Gegenständen, die für sie besonders bedeutsam sind. Das kann ein Stofftier sein, ein Lebkuchenherz mit dem Schriftzug „Nur für Dich“, eine kleine Heiligenfigur oder, keine Überraschung bei Timpner, ein Totenschädel.
Auf Du und Du mit Dürer
Einer Wahlverwandtschaft verdankt sich auch sein Selbstbildnis in Dürer-Pose. Es entstand 2011 im Zuge eines Gemeinschaftsprojekts mit der österreichischen Künstlerin Irene Andessner. Für das Shooting bei seinem langjährigen Düsseldorfer Galeristen Udo Bugdahn hatte sich Timpner dem „Selbstbildnis im Pelzrock“, das Albrecht Dürer im Jahr 1500 schuf, mit wallender Lockenpracht, Bart und Kostüm derart akribisch anverwandelt, das man einen Wiedergänger vor sich zu sehen meint. Auf Du und Du mit Dürer. Kurios irgendwie, dass diese perfektionistische Simulation ausgerechnet im Instant-Medium Polaroid festgehalten wurde.
Das eigenartige Rollenspiel gewinnt an Suggestion, je länger man sich damit befasst. Wie es ohnehin typisch für Ingolf Timpners Kunst ist. Die lateinische Inschrift des Dürer-Porträts aus der Alten Pinakothek in München lautet übersetzt: „Ich, Albrecht Dürer aus Nürnberg, habe mich selbst mit unvergänglichen Farben im Alter von 28 Jahren so dargestellt.“ Die „unvergänglichen Farben“, sie gewinnen im Angesicht des Freitodes von Timpner eine besondere Symbolik.
Auch sein letztes Selbstbildnis von 2016 spielt auf bekannte kunsthistorische Vorbilder an. Zu nennen sind Hans Thomas „Selbstbildnis mit Amor und Tod“ (1875), Lovis Corinths „Selbstbildnis mit Skelett“ (1896), vor allem aber Arnold Böcklins „Selbstporträt mit fiedelndem Tod“ von 1872, heute im Besitz der Berliner Nationalgalerie. Wie bei Böcklin schaut auch Timpner dem Betrachter unverwandt ins Gesicht. Anstelle von Böcklins musizierendem Skelett macht er eines seiner Modelle zur finalen Komplizin. Wiederholt hat Arnold Böcklin den Tod thematisiert – am bekanntesten ist die „Toteninsel“. Mit seinem Werk erweist sich Ingolf Timpner als kongenialer Nachfolger.
Niemals geht man so ganz
„Niemals geht man so ganz / Irgendwas von mir bleibt hier“, sang einst Trude Herr. Dieses „Irgendwas“ sind bei Künstlern in erster Linie deren Werke. Bei Ingolf Timpner gilt das in ganz besonderem Maße für seinen „Holbein-Zyklus“, 2018 begonnen, mit 14 Bildmotiven und 17 Blättern unvollendet geblieben. In dieser letzten Fotografie-Serie spielt der Sensenmann die Hauptrolle. Allerdings haben die malerisch bearbeiteten Schwarzweiß-Aufnahmen nichts Morbides. Im Gegenteil: Regelrecht munter präsentiert sich dieses Skelett: Mal ist es vor Timpners Düsseldorfer Atelier zu sehen, mal läuft es eine Treppe herunter, dann wieder erscheint es an der Seite eines jungen weiblichen Modells, dem es kokett den Hut zurechtrückt.
In diesem Vermächtnis gehen Vitalität und Melancholie eine eigenartige und faszinierende Paarung ein. Anders als der „Totentanz“, den der Renaissance-Maler Hans Holbein der Jüngere 1526 als Holzschnittfolge veröffentlichte, betont Timpner das Versöhnliche, vielleicht sogar Tröstliche in unserer Begegnung mit dem Unausweichlichen. In einer Zeit, die das Sterben verdrängt und tabuisiert, kann seine Ars moriendi den Blick dafür schärfen, was wirklich zählt.
Kommentar
Nahlah Saimeh, Nachlassverwalterin von Ingolf Timpner, hat uns ihren Kommentar übermittelt
Noch von unterwegs habe ich auf einem Parkplatz den Link angeklickt und Ihren so ausführlichen Artikel gelesen und möchte Ihnen nun schreiben. Ich gebe es zu: Ich bin gerührt. Ich danke Ihnen so sehr, und die Tonalität Ihres Artikels trifft wiederum so gut meinen Mann als Person, so dass es schon ganz besonders ist, dass er sich posthum auf diese Weise und mit der Ausstellung in Viersen so „gesehen fühlen darf“. Und natürlich freue ich mich auch selbst über Ihre Schilderung meiner Aktivitäten.
Beim erneuten Lesen ist mir nun noch mal das Wort „Todessehnsucht“ aufgefallen. Für den Leser ist das stimmig und insofern hier unproblematisch, aber Ingolf Timpner hatte keineswegs eine Todessehnsucht. Es ist ein Unterschied, ob man etwas freiwillig wählt, oder ob ein Schritt im Leben ansteht, der zu gehen ist und auf den man sich vorzubereiten hat und dann diese Schwelle auch mutig überschreitet. Mein Mann wurde gewahr, dass sein Lebens-Weg, im Sinne von leibgebundener Zeitspanne abgelaufen war, und als solches habe ich das ja auch 2,5 Jahre still, aber akribisch beobachtet bzw. wahrgenommen und selbstverständlich nicht verbal kommentiert. Es ist vielmehr so, dass mein Mann sich von frühester Jugend an sehr stark bewusst war, dass nur eine limitierte Strecke vor ihm liegt. Es musste so sein, damit etwas anderes möglich wird, und das ist sehr eng mit seinem Werk verbunden.
Von daher freut mich nun wieder besonders, dass Sie so leichtfüßig den Faden aufnehmen und den Sprung als Teil des Werkes begreifen. Das ist er nämlich. Er ist die ultimative Performance. Mit diesem Sprung ist gewissermaßen die Trennlinie zwischen Kunst und einer erweiterten Wirklichkeit im Sinne des Spirituellen aufgehoben worden. Und da wird es wirklich spannend… Marina Abramovic arbeitet im Grunde an derselben Gradwanderung, aber mit sehr viel zugänglicheren Mitteln und insofern mit einer anderen Methodik, und ihr Weltruhm zeigt, dass sie verstanden wird. Ich würde es mal so ausdrücken: Ihre Arbeit ist eine lange Symphonie, die Arbeit meines Mannes (Sprung) ist ein einziger, präziser Paukenschlag, und insofern ist meine Arbeit als Lebensmensch, Soulmate und Nachlassverwalterin, mit diesen freigesetzten Schwingungen zu arbeiten und diese wieder hörbar zu machen und zum Klingen zu bringen.
Für das vorherrschende Format 51 x 51 cm gilt ein Richtwert von 6 000 Euro.
Bei den großformatigen Arbeiten im Format 111 x 106,5 cm sind es für die Digitalprints mit Künstler-Signatur 16 000 Euro – bis auf ein Motiv gibt es immer nur einen Digitalprint mit Künstler-Signatur, also handelt es sich um ein absolutes Unikat.
18 000 Euro kosten die großen Baryt-Abzüge, die Ingolf Timpner händisch abgezogen hat. Auch davon gibt es nur ein einziges Exemplar.
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