Was die Mauer trägt

Harriet Tubmans 200. Geburtstag. Michael Rosatos hat sie auf “Murals” schon unsterblich gemacht

Take my Hand. Michael Rosatos 50 Quadratmeter Malerei auf Backstein

 

In den USA ist Harriet Tubman eine Legende. In Europa kennen die (wahrscheinlich) 1822 geborene Sklavin und Freiheitskämpferin nur wenige. Um ihr Leben ranken sich viele Heldengeschichten und Mythen. Bald soll das Porträt der Sklavenbefreierin auf einer Dollarnote erscheinen. Doch um das Vorhaben, die erste Afroamerikanerin so zu würdigen, ist ein Streit entbrannt. Michael Rosato hat Tubman schon jetzt verewigt und mit seinen riesigen Wandbildern der schwarzen Jeanne d’Arc ein Denkmal gesetzt.

Unterwegs mit Michael Marek und Anja Steinbuch

In den Sümpfen von Maryland schwimmen keine Toten mehr, keine knallenden Peitschen sind mehr zu hören, keine Schreie des Schmerzes, der Willkür, des Sadismus, die Hetzjagd der Hunde ist abgeblasen. Mit dem Leihauto sind wir unterwegs durch eine idyllische Landschaft nach Cambridge (Maryland), vorbei an Kiefernwäldern, Marschland und von Sklavenhand gegrabenen, schnurgeraden Kanälen.

Die amerikanische Hauptstadt Washington DC liegt nur gut zwei Autostunden entfernt, doch es ist eine Zeitreise. “Tubman Country” – so nennen die Bewohner stolz diesen Landstrich an der Ostküste der USA. Besucher kommen in den Ferien und am Wochenende in das beschauliche Örtchen Cambridge. Segeln, Paddeln oder Golfspielen stehen dann auf dem Programm. Doch kennt dieser friedliche, maritime Ort andere Zeiten. Er war ein berüchtigter Schauplatz des Sklavenhandels. 1619 legte hier das erste Sklavenschiff an – voll mit Afrikanern, die im heutigen Angola gekidnappt wurden.

Wie Minty zu „Moses“ wurde

 

Hier, auf einer Landzunge zwischen Chesapeake Bay und Atlantik, wurde Harriet Tubman 1822 geboren. Vermutlich zwischen dem 1. und 15. März, so genau weiß das niemand. Denn Tubmann war Sklavin von Geburt an. Später schloss sie sich einer geheimen Befreiungsorganisation an, sie wurde zur Kämpferin für das Frauenwahlrecht und trat für die Rechte der Schwarzen ein. In den USA gilt Harriet Tubman heute als Pionierin der Befreiungsbewegung der Schwarzen und ist eine Legende.

Die Fotografie, die wir in einer Biografie über sie gefunden haben, zeigt eine zierliche, nur 1,50 Meter große Frau mit entschlossenen Blick. Biografien und Kinderbücher erzählen von einer energischen schwarzen Frau, die zeit ihres Lebens für die Befreiung der Sklavinnen und Sklaven kämpfte. Jede offizielle Anerkennung wurde ihr zu Lebzeiten verwehrt. Weggefährten nannten sie “Moses”, weil sie wie ihr biblisches Vorbild den Weg in die Freiheit wies. Fluchthelfer nutzten den Namen als Geheim-Code, damit nur Eingeweihte wussten, wo sich Harriet Tubman aufhielt. Einige ihrer Nachkommen leben heute in Washington DC. Historisch belegt ist Harriet Tubmans Großmutter mütterlicherseits: Sie hieß Modesty und kam mit einem Sklavenschiff in Cambridge an. Es hieß, dass sie zum Stamm der Ashanti gehört habe, einem Volk aus dem Gebiet des heutigen Ghana.

Am Ortseingang des 12.000-Seelen-Städtchens wartet Michael Rosato auf uns. Der Mittfünfziger empfängt vor seinem 50 Quadratmeter großen Wandgemälde: Das zehn Meter lange Mural zeigt Tubman als Anführerin der Fluchtorganisation “Underground Railroad” inmitten der afroamerikanischen Gemeinschaft der Region. Was sofort ins Auge springt – die Perspektive scheint verschoben: Nicht wir schauen auf Harriet, sondern sie fixiert uns als Betrachter. Tubman, hier als alte Frau mit Kopftuch und Mantel dargestellt, steht in einem Maisfeld. Über ihr ein Militärflugzeug. Daneben eine Heldenreihe schwarzer Künstler, Wissenschaftler, Politiker, alle aus dem “Tubman Country”.

 

 

Rosato hat Tubman ins Zentrum seines monumentalen Bildes gesetzt, weil sie für viele Afroamerikaner eine Inspiration ist: „Viele dachten: Wenn sie das kann, dann kann ich das auch. Harriet hat ein spirituelles Erbe hinterlassen”. Er ist überzeugt: „Harriet gehörte zu jenen besonderen Menschen, deren Geist stärker war als alles andere. Dafür braucht man Mut, Glaube und Kraft.”  Auch ihm selbst gibt sie Kraft und Inspiration für sein Künstlerleben.

„Wenn Ihr genau hinschaut, dann passiert auf dem Bild sehr viel. Es erzählt die Geschichte der afroamerikanischen Gemeinschaft. Es gab hier eine dynamische Musikszene, Handwerker, Soldaten und politische Aktivisten. Harriet Tubman gehört dazu, sie ist das Zentrum der afroamerikanischen Gemeinschaft. Alles geht auf sie zurück.”

Ihr Erbe sorgte lange für eine aktive schwarze Bürgerrechtsbewegung in Cambridge – nur ein paar Kreuzungen weiter in der Pine Street. Geschäfte, Cafés, Schulen belebten einst die Straße der schwarzen Community. Bis es in den 1960er Jahren zu Aufständen und Straßenkämpfen mit der Polizei kam. Auch daran erinnert das Wandbild.

Das Wandbild als historische Landschaft

 

Michael Rosato hat sich auf XXL-Formate spezialisiert. Er schöpft aus Marylands reicher Afro-Amerikanischer Geschichte und Kultur. Doch sorgte er mit seinen unübersehbaren Wandgemälden für viel Aufregung, aber auch für große Zustimmung.

Optimismus, aber auch Tragik sind in den Blicken der Figuren zu erkennen. Rosato kennt die Diskriminierung und seelischen Verletzungen, die nicht sichtbar, aber für den Künstler bis heute geblieben sind. Denn das Bild spiegelt auch einen Teil seiner eigenen Lebensgeschichte wider: „Ich wollte, dass sich Weiße und Schwarze mit diesem Motiv identifizieren. Das Militär spielt in dieser Gegend eine sehr wichtige Rolle. Auch für meine eigene Familie. Deshalb habe ich dieses Flugzeug gemalt, ein wunderschönes Jagdflugzeug. Im Vietnamkrieg kamen Piloten dieser Maschinen ums Leben. Das geht mir sehr nah!”

Rosatos Vater war als Kampfpilot bei der US-Army im Einsatz, aus dem Vietnamkrieg kehrte er nicht zurück. “Missing in action” teilte das Militär der Familie mit, Michael Rosato war gerade fünf Jahre alt. Ein Trauma, das ihn bis heute beschäftigt. Als junger Mann wollte die Familientradition weiterführen und ebenfalls Pilot werden, erzählt er uns. Doch dann entdeckte er an der Universität sein Interesse für die Malerei. Seitdem ging der Autodidakt immer eigene Wege, verbrachte Zeit in Europa, ließ sich in Italien von Michelangelo inspirieren, nahm erste Auftragsarbeiten als Kunststudent an und malte Sportler an eine Stadionwand in Washington DC. Auf der Suche nach preiswerten Räumen für sein Atelier, stieß er Ende der 1980er-Jahre auf die Kleinstadt Cambridge. Die Nähe zur Hauptstadt und das historische Vermächtnis Harriet Tubmans faszinierten ihn, seitdem lebt und arbeitet Rosato in Cambridge.

Rosatos zweites Wandbild (“Take my hand”) zeigt Tubman am Fluss: Sie scheint aus dem Bild über eine Mauer zu steigen und streckt den Betrachtenden die rechte geöffnete Hand entgegen. Ein Foto von einem Mädchen, das der überlebensgroß gemalten Harriet Tubman symbolisch die Hand reicht, ging 2019 um die Welt. Der Künstler erinnert sich:
„Anfangs war die Hand noch gar nicht fertig gemalt, nur skizziert. Aber dann gab es diese Dynamik und hat die USA verändert. Die afroamerikanische Gemeinschaft hatte es satt, dass die Polizei auf sie schoss. Da war diese aufgestaute Wut, ertragen zu müssen, wie sie behandelt wurden. Und mit einem Mal ging es nicht nur um das Gemälde, sondern auch um das Mädchen, das Tubman berührte. Ein Mädchen aus der Gegenwart berührt die Hand einer Frau, die vor 200 Jahren gelebt hat. Das ist Poesie, die zu uns spricht: Sie lässt uns das Mädchen sein oder die Frau aus der Vergangenheit, die ihre Hand reicht.”

T-Shirt mit dem Tubman Motiv

 

Michael Rosato wird von Museen, Universitäten und Stadtverwaltungen im ganzen Land beauftragt. Seine riesigen, plakativen Wandbilder “hängen” in Oklahoma City, Fort Worth, im Smithsonian Museum Washington DC und vielen anderen Orten. Sie zeigen meistens Alltagsszenen – von Austernfischern im nahen Choptank River, von einfachen Landarbeitern oder historischen Persönlichkeiten. Seine Motive lösen immer wieder heftige Reaktionen aus. Künstlerisch versucht Rosato eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bauen. Seine Murals beziehen sich auf die Tradition des Mexican muralism art movement, das einst von Diego Rivera, David Siqueiros and José Orozco entfaltet worden ist, doch malt Rosato nicht al fresco, also unmittelbar in den feuchten Wandputz.

Sein Atelier mitten in der Hauptstraße von Cambridge ist ein Treffpunkt für Anwohner und Touristen. Hier verkauft er T-Shirts mit dem neuen Tubman-Motiv und erklärt uns die Hintergründe zu seinem Werk.

„Das erste Motiv war der Sternenbanner. Dies ist eine US-amerikanische Geschichte. Harriet überwindet die zeitliche Dimension, weil sie uns als Betrachtende ihre Hand in die Gegenwart reicht. Tubman ist bei mir vier Meter groß. Ihre Hand hat einen Durchmesser von fast einem Meter – beeindruckend. Ich habe sie nicht in Lebensgröße gemalt, sondern viel, viel größer. Wir begegnen dieser unglaublichen Frau, die aus einer Mauer herauszutreten scheint. Ihr Fuß ragt mithilfe einer optischen Täuschung aus dem Bild heraus in unsere Realität hinein.”

Nur wenige Fotos haben sich von Harriet Tubman erhalten. Stets blickt sie sehr ernst in die Kamera. So auch auf dem bekannten Schwarz-Weiß-Bild von 1895, das die damals 73-Jährige zeigt. Rosato dagegen hat die Sklavenbefreierin im Alter von 30 Jahren gemalt. Er nutzt zwar das historische Bild als Vorlage, doch Rosato wollte eine junge, rebellierende Harriet zeigen:
„Sie wollte sich immer aus der Sklaverei befreien. Sie hat viele Afroamerikaner hier bei uns inspiriert. Der Ruf nach Freiheit war damals unüberhörbar. Es leben Nachkommen von ihr hier. Das ist viel mehr als die Fortsetzung einer Ahnenreihe, es ist ein spirituelles Erbe.”

 

“Take my Hand”, so lautet der Titel des Wandbildes, das trotz Pandemie bereits tausende Besucher in das beschauliche Stadtzentrum vom Cambridge gelockt hat. Es prangt an der Außenwand des Harriet Tubman Museums, das von ehrenamtlichen Lokalhistorikern betrieben und von mehreren Vereinigungen finanziert wird, die sich mit der afroamerikanischen Vergangenheit in der Region beschäftigen.

Murals als Kampfbilder

Soziale Missstände, benachteiligte Bevölkerungsgruppen, Freiheitskämpfe sind seit der Entstehung in den 1920-er Jahren Hauptthemen dieser Kunstform im öffentlichen Raum. Während der mexikanischen Revolution in Mexiko-Stadt prangerten Künstler Machtmissbrauch an. In Belfast in den 1960er-Jahren wurden Freiheitskämpfer an Hausfassaden gemalt. Heute werden die Riesenmalereien über die sozialen Medien verbreitet. Hier wird diese Form der Street-Art geteilt und besprochen. Es gibt regelrechte Wettkämpfe, ein besonders attraktives, neues Bild vor allen anderen zu posten. Im Unterschied zu Graffitis sind Murals heute legal auf Hauswände aufgetragen. Sie entstehen oft in Kooperation mit Städten und Gemeinden, die die Anziehungskraft der XXL-Kunstwerke erkannt haben.

 

 

Hauptstadt der Murals in den USA ist übrigens Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania, einem Nachbarstaat von Maryland. 3.600 Wandgemälde von 300 Künstlern zählt die Metropole. Die Stadt fördert diese Kunstform mit einem “Mural Arts Program”. Ursprünglich wollte man mit den Kunstwerken verhindern, dass illegale Graffitis auf Fassaden und Seitenwände gesprüht werden.

Das Mural von Michael Rosato ist nicht nur ein Porträt von Harriet Tubman, sondern auch ein Landschaftsbild, in der sie als Sklavin einst lebte und als “Eigentum” des weißen Plantagenbesitzers Edward Brodess schuften musste: Ihre Mutter versorgte den Haushalt der Sklavenhalterfamilie, Vater Ben arbeitete als Holzfäller. Bereits als Sechsjährige wurde Harriet, Spitzname Minty, “vermietet”: Sie hatte auf ein weißes Baby einer anderen Farmerfamilie aufpassen, während es schlief. Falls es aufwachte und weinte, erhielt Minty zur Strafe Peitschenschläge. Am Hals trug sie Narben davon, die später noch im hohen Alter sichtbar waren. Wenn man das Wandbild betrachtet, blickt man hindurch – in die Vergangenheit, erklärt Rosato. Und in dieser Vergangenheit erblickt man die Landschaft: die Kiefern, die hier wachsen, die Pinien, und das Wasser steht so flach hier, dass die Hummer bis ans Ufer kommen; zu sehen sind der Schilf und die Sümpfe.

Rosato malte dieses Motiv als idealisierte Landschaft. Er hatte Mühe, die Farbe auf die Backsteine aufzutragen, aber er nutzte den Rahmen des Mauerwerks, um eine weitere optische Finesse einzubauen: „Auf dem Wandgemälde bröckelt die Mauer nicht nur, sie öffnet sich, als ob sie auseinandergenommen worden wäre. Als ob die Grenze zwischen uns in der Gegenwart und Tubman in der Vergangenheit teilweise entfernt worden wäre.” Rosato wollte, dass Harriet Tubman die Grenzen von Zeit und Raum überwindet. „Sie schlägt eine Brücke und tritt aus ihrer Zeit heraus, weil sie uns, den Betrachtern in der Gegenwart, ihre Hand reicht.”

Und so blicken wir frontal auf diese Frau, die auf uns zukommt. Links von ihr erstreckt sich die Landschaft der Chesapeake Bay, im Hintergrund geht die Sonne unter. Die Dunkelheit scheint näher zu kommen. Tubman steht vor einem Boot „es ist das Boot, mit dem sie ihre Verwandten damals gerettet hat, mit dem sie über den Choptank River gefahren sind, der Dorchester vom Talbot County trennt. So führte sie ihre ganze Familie, ihre Freunde und alle die mitkommen wollten, in die Freiheit”, erklärt uns Rosato.

Und so schließt sich der Kreis am Ortseingang von Cambridge. Hier, wo heute die gestressten Hauptstädter Erholung beim Golfspielen und bei maritimer Folklore suchen, haben Verwaltung und Historiker ein Fenster in die Vergangenheit aufgerissen. Das haushohe Wandgemälde steht für diese Perspektive. Wer das Wandbild einmal gesehen hat, vergisst Tubmans Blick kaum ja wieder. Es geht dabei sicher auch um die Würde der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen, um eine Wiedergutmachung, mit der sich viele US-Regierungen so schwertun.

Tubman kämpfte im Amerikanischen Bürgerkrieg für die Union gegen die Südstaaten. Sie pflegte als Krankenschwester verwundete Soldaten, kundschaftete unter Lebensgefahr Stellungen der konföderierten Feindarmee aus und befreite Gefangene. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hat man ihr trotz ihrer Verdienste eine Pension verweigert. Erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod 1913, erhielt sie eine monatliche Rente für ihre Arbeit als Krankenpflegerin. Sie wurde 91 Jahre alt.

 


 

 

Michael Rosato Studio
412 Race St, Cambridge, MD 21613, Vereinigte Staaten
michaelrosato.com

 

 

 


 

Mehr zum Thema

Post Modern Black Venus

 

Aus dem Stabilbaukasten

~ Von Carl Friedrich Schröer, 16.12.2020 ~ Olaf Metzel ruft aus dem Taxi an. Er ist auf dem Weg in seine Berliner Galerie. Seine aktuelle

Read More »

© 2022 All rights reserved