Aneignung, Anverwandlung, Aufklärung

Lothar Baumgartens Werk ist zu wenig umstritten. Ein Beitrag zum 80. Geburtstag des großen Mythenspielers


Urucu “Bixa Orellana L.”. Frühe Arbeit von Lothar Baumgarten

Von C. F. Schröer

Lothar Baumgarten (5. Oktober 1944 in Rheinsberg – 3. Dezember 2018 in Berlin) gilt als derjenige, der die Ethnologie in die Kunst eingeführt hat. Vorsicht vermintes Terrain! Der Wind hat gedreht, kulturelle Aneignung fremder Völker und Kulturen wird auch in den westlichen Ländern längst als ein Vorwurf erhoben, um postkoloniale Strukturen offenzulegen. Baumgartens Werk ist von der Faszination nach dem Anderen, Fremden und Exotischen durchdrungen, sein Weltruhm beruht auf der lebenslangen künstlerischen Beschäftigung mit den Bildern und Zerrbildern, mit den Zuschreibungen und Mythen außereuropäischer Welten.

Eine Auseinandersetzung mit Baumgartens Werk vor dem Hintergrund der aktuell verschärften Debatte um die Rechte des Globalen Süden kommt nicht in Gang. Dabei eignet sich sein Werk, wie kein zweites, zu klären, um was es sich hier handelt: Um eine künstlerische Form postkolonialer Herrschaft, um einen Fall von zivilisationskritischer Annäherung und Aufklärung? Um kulturelle Aneignung oder Anverwandlung?

Eigentlich schade, dass diese Auseinandersetzung um Lothar Baumgarten nicht längst aufgenommen wurde, auch nicht bei seiner ersten großen Ausstellung nach seinem Tod „Land of the spotted eagel“ in diesem Jahr im Von der Heydt-Museum. Vielleicht ist die Ergebenheit vor diesem Künstler noch zu groß, dem es immerhin als einem der wenigen deutschen Künstler seiner Generation gelang, ein internationaler Star zu werden.

Auf den Spuren des großen Claude Lévi-Strauss (Traurige Tropen) machte sich tatsächlich auch Lothar Baumgarten auf den Weg ins Amazonasgebiet. In den Jahren 1978/79 lebte er achtzehn Monate lang mit zwei Stämmen der Yanomami im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet. Der abenteuerlichen, oft mystifizierten Reise, die ihm fast das Leben gekostet hätte, verdankt er zahlreiche Erfahrungen, Ethnografika, Objekte, Ton- und Videoaufnahmen sowie Zeichnungen, Malerei und Fotoarbeiten. Es sind vor allem diese Sammlungen aus dem natürlichen Umfeld des Volkes der Yanomani, die seine künstlerische Arbeit bestimmen und seinen Weltruhm begründen.


Vor „Steinschlag“. Baumgarten beim Aufbau der Installation

Seine künstlerische Bedeutung beruht auf der Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ und „Fernen“. Schon in den späten 1960er Jahren stellte er eine Sammlung von 200 Farbdias zusammen, die wie ein tropisches Urwaldidyll anmuten. Doch sind die Bilder allesamt an einem toten Rheinarm in Düsseldorf-Lörick entstanden und imaginieren und spielen mit unserer „westlichen“ Sehnsucht. Der Urwald präsentierte sich hier als Täuschung, als Phantasie, als Kunst-Gebilde. Illusion und Irritation betimmen Baumgartens konzeptuellen Ansatz. Das Vexierbild sollte die eigene fixierte Wahrnehmung irritieren und als Konstruktion entlarven. Schon in den 1970er Jahren sehnt er eine Schiffsreise auf dem Amazonas herbei, eine erste Einzelausstellung – Tropenhäuser (Guayana)folgt 1972 bei Konrad Fischer. Sieben weitere bei dieser ersten Adresse für die internationale Konzept-Kunst werden folgen. Im gleichen Jahr wird er von Harald Szeemann zur documenta 5 eingeladen. Drei weitere Documenta-Teilnahmen folgen. Bis kurz vor der Abreise ins Amazonasgebiet arbeitet Baumgarten an seinen ersten Film „Der Ursprung der Nacht (Amazonas-Kosmos)“. Doch dann bricht der Künstler nach Venezuela auf und trifft dort tatsächlich und “hautnah” auf die fremde Welt. Die Reise sollte zu einer schweren existentiellen Krise führen. Ihr künstlerischer Niederschlag ist zumindest umstritten. Nach der Reise ist Lothar Baumgarten ein Anderer. Seine Kunst wird spröder, auch unnahbarer.  

Baumgartens Reise ist mehr als der Besuch eines Wissenschaftlers oder Missionars. Der Künstler wird von den Yanomani aufgenommen und teilt deren Leben im Regenwald. Jahrzehnte später lässt er die jahrelang bei seiner Yanomami-Frau im Regenwald zurück gelassene ethnografische Sammlung abtransportieren und vermacht sie samt Dokumentationen der Stiftung Folkwang. Das Museum Folkwang stellt „Abend der Zeit – Señores Naturales Yanomami“ Ende 2011 groß aus. Heute ist sie ins Depot verwiesen.

Der Sturz des Himmels. Ein Yanomami spricht erstmals

Just in diesen Tagen erreicht eine Welle Deutschland. „Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen“ erreicht kurz nach Erscheinen einen Spitzenplatz unter den meistgelesen Sachbücher. Der 957 Seiten lange, erschütternde Bericht über das Volk der Yanomani im Regenwald zwischen den Flüssen Amazonas und Orinoco (bereits 2010 in Paris als La chute du ciel. Paroles d’un chaman yanomami erschienen) ist ein bewegender Appell, die Rechte der Yanomami zu respektieren und den Amazonasregenwald zu schützen. Davi Kopenawa, einer der bedeutendsten Fürsprecher seines Volks und Schamane, wurde weit über Brasilien hinaus in der ganzen Welt als Anführer der amerikanischen Indigenen bei ihrem Kampf um den Erhalt des Amazonaswaldes bekannt. Im Jahr 2019 erhielt er den Alternativen Nobelpreis. In diesem ersten Buch, dass je von einem Yanomami (unter Mitarbeit des französischen Anthropologen Bruce Albert) verfasst wurde, schildert Davi Kopenawa wie er zum ersten Mal Fremden begegnete – darunter Goldgräber, die in den 1980er Jahren das Land der Yanomami verwüsteten und den Tod jedes 5. Yanomami verursachten. Brasiliens Präsident Lula hat dieses Eindringen zum Genozid erklärt.

Davi hofft: “Dieses Buch ist eine Botschaft an Nicht-Indianer. Wir wollen die Menschen über unsere schamanischen Träume lehren… Ich hoffe, dass die Nicht-Indianer von dem Buch lernen. Und es sie dazu bringen wird, über unsere Geschichte nachzudenken.” Sein bewegender Appell richtet sich auf den Schutz der Yanomami und des Amazonasregenwaldes. Wer „Der Sturz des Himmels“ liest, wird Baumgartens Werk in einem neuen Licht sehen.

Aber handelt es sich bei Baumgarten um „kulturelle Aneignung“? Vielleicht hilft da ein anderes Buch, in diesem Frühjahr erschienen. Es stammt von dem deutschen Anthropologen Karl-Heinz Kohl, „Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne“.

Von kultureller Aneignung spricht man, wenn sie unter Ausnutzung des Machtgefälles zwischen einer dominanten Kultur und einer unterdrückten Minderheitenkultur erfolgt. Kohl (bis 2016 Direktor des Frobenius-Instituts für kulturanthropologische Forschung) nennt Beispiele. Als Mitglieder der Handelskammer von Seattle bei einem gemeinsamen Ausflug in die nördlichen Küstenregionen Kanadas einen Totempfahl der Tlingit fällten und in ihre Heimatstadt transportieren ließen handelten sie aneignend, also rechtswidrig. Noch mehr gilt das für die Raubzüge, die die Mitglieder der französischen Dakar-Djibouti-Expedition quer durch Afrika unternahmen. Ihr Diebstahl eines Bamana-Fetischs war auch nach damaligem Rechtsempfinden ein krimineller Akt.

Doch wie steht es bei Touristen in Hopi-Reservationen, die dort Kachina-Puppen als Souvenirs erwarben? Die Holzfiguren, die lokale Götter und Geister darstellten, hatten keine geringere religiöse Bedeutung als ein mit totemistischen Motiven verzierter Wappenpfahl der Tlingit oder ein in europäischen Augen obskures Kultobjekt der Dogon. Zweifellos waren die Hopi-Holzschnitzer weit ärmer als die Touristen, die insofern ihre Zwangslage ausnutzten. Doch wussten sie genau, was sie taten, wenn sie ihre Kachinas an fremde Besucher verkauften. Sie nutzten den Zustrom an Touristen als willkommene Gelegenheit, sich etwas Geld zu verdienen. Auch wenn die Kachina-Puppen heute von den Hopi als widerrechtliche «kulturelle Aneignungen» zurückgefordert werden, waren sie damals doch eher Übereignungen als Enteignungen. Durch den Kulturtransfer erfuhren sie einen Bedeutungswandel. Für die Besucher der Reservation wurden sie von Kultfiguren zu Erinnerungsstücken an die beeindruckende Reise in die bizarren Felslandschaften des Südwestens. Andere erwarben sie dagegen als besondere Glanzstücke für ihre privaten Kunstsammlungen, erhöhte sich deren Wert doch dadurch, dass vergleichbare Stücke auch in den Vitrinen der großen Museen zu sehen waren. Solche Kulturtransfers sind viel zu komplex, als dass sie sich so einfach auf den Begriff bringen ließen.

Das gilt nicht weniger für die immateriellen „kulturellen Aneignungen“. Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen? Und betont es nicht gerade den besonderen Wert der eigenen Kultur, wenn ihre künstlerischen Formen weltweit aufgegriffen werden?

Statt von „Aneignungen“, schlägt Kohl vor, wäre es besser von “Anverwandlungen“ im Sinne von Hartmut Rosas Resonanztheorie zu sprechen. Unter Resonanz versteht Rosa die Schwingungen, die aus der intensiven Beziehung einer Person zu ihrer sozialen Umgebung, zu bestimmten Tätigkeiten, Ideen und Dingen entstehen. Je größer der „Anklang“ ist, der dadurch in einer Person ausgelöst wird, desto mehr verändert sie sich dadurch auch selbst. Das gilt im besonderen Maße für die Resonanzempfindungen, die Kunst, Musik und Literatur auslösen. „Sie leiten eine kreative Form der Weltaneignung ein, die sich in der Anverwandlung des ursprünglich einmal Fremden an das Eigene äußert. Beispielhaft lässt sich dieser Prozess an den Resonanzen nachverfolgen, die die Begegnung mit den Hervorbringungen indigener Kunst auf der Insel Palau bei den Künstlern der Brücke oder die Konfrontation mit der Kunst Afrikas bei den Pariser Surrealisten auslösten. Die einstigen Fremdbilder können so selbst zu einem Teil eines „authentischen“ Kulturerbes werden. Sie helfen sogar bisweilen dabei, auf die nach wie vor prekäre Lage indigener Völker aufmerksam zu machen. Dass sie sich dabei der neuesten digitalen Medientechniken und sozialen Online-Netzwerke bedienen, versteht sich von selbst. Denn „die indigenen Völker, die so viel zur Kultur der Moderne beigetragen haben, sind längst selbst in der Moderne angekommen“, schreibt Kohl.

Seit den ersten Entdeckungsfahrten an der Schwelle zur Neuzeit haben Berichte von fremden Ländern und Menschen die Europäer in ihren Bann geschlagen. Ihre Nacktheit hat europäische Sitten in Frage gestellt. Ihre Gesellschaftsordnungen haben Protestbewegungen beflügelt. Ihre Kunst hat die europäischen Avantgarden inspiriert, Tatoos sind über die Hautzeichnungen polynesischer Völker bei uns Trend geworden. Ethnographische Beschreibungen haben – von Friedrich Engels’ materialistischer Geschichtsauffassung bis zum postkolonialen „Anthropophagismus“ – zu einer Fülle an Theorien geführt, die unser Bild vom Menschen verändern. Die Herausforderung beim Lesen von “Neun Stämme” besteht darin, zu erfahren wie nicht allein die europäische Kultur auf den Kopf gestellt wurde. Kohl zeigt an vielen überraschenden Beispielen, wie sich auch die indigenen Kulturen in diesem Prozess der Weltaneignung verändert haben. Aber wäre es nicht naiv von „gegenseitiger Bereicherung“ zu sprechen? Ist der Wandel durch Handel nicht ein ziemlich einseitiges Geschäft?

Foreigners Everywhere – Fremde überall. Indigene Kunst auf der Biennale di Venezia

Indigene Völker haben sich die Faszination des Westens selbst zunutze machten. Die scheinbar so gegensätzlichen Welten sind in der globalen Moderne enger verflochten als viele das für wünschbar halten. Die aktuelle 60. Kunstbiennale von Venedig öffnet sich wie nie zuvor der außereuropäischen Kunst. Unter dem Titel „Foreigners Everywhere“ hat Adriano Pedros, ein Brasilianer, der in Sao Paulo lebt und arbeitet, zahlreiche Künstler und Künstlerinnen aus der südlichen Hemisphäre nach Venedig eingeladen, darunter André Taniki Yanomami. Er ist Schamane der Yanomani und lebt weiter am Oberlauf des Amazonas. Die bunten Zeichnungen von Taniki entstanden in den späten 1970er Jahren im Gespräch mit Bruce Albert (dem Forschungsdirektor am Institut de Recherche pour le développment (IRD) und Vize-Präsident von Survival Frankreich) als beide nach Möglichkeiten suchten, schamanische Visionen darzustellen. Die üppig kolorierten Zeichnungen kombinieren Abstraktionen und figurative Schemata in Strukturen, die die Organisation des Kosmos aus der Sicht des Sinnesuniversums der Yanomamis darstellen. Über Taniki fand der Franzose Albert zu Davi Kopenawa.

Seine außergewöhnliche Autobiografie ist zugleich schamanisches Lehrstück und leidenschaftliche Verteidigung der Rechte indigener Völker. Es ist eine eindringliche Anklage gegen die Zerstörung von Mensch und Natur. Baumgartens Werk zielt darauf, die binären Welten „fremd“ und „eigen“, „Kultur“ und „Natur“ in einer mytisch-künstlerischen Perspektive aufzulösen. Er zeigt auf künstlerische, feinsinnige, bisweilen ironische Weise wie eng und konstruiert diese Welteneinteilungen sind. Was ihn am Exotismus anzieht, stößt ihn an Stigmatisierungen des Identitären sogleich wieder ab. Baumgartens künstlerische Reflexionen lassen sich heute als eine Vorwegnahme aktueller Auseinandersetzungen um Nord und Süd, Kultur und Natur lesen. Bei der letzten Documenta in Kassel konnte man eine fundierte, singuläre Position wie seine gewiss vermissen.

Kultur- Natur, Lothar Baumgarten,1971, Sammlung Lothar Schirmer, VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Lesehinweis

Davi Kopenawa, Bruce Albert: La chute du ciel. Paroles d’un chaman yanomami. Plon, Paris 2010. Deutsch: Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen, Berlin 2024

Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne, München, 2024

Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2014

Emanuele Coccia, Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen, München 2024


Wie Baumgarten zu Beuys kam

Ein Weg in die Welt der Kunst. Helmut Schweizer erinnert im Dezember 2018 sich an seinen Weggefährten

CFS: Wer war Lothar Baumgarten?

HS: Bereits als ich Lothar im Frühjahr 1968 kennenlernte, wirkte er stets strukturiert, mental wie physisch. Er war individuell gekleidet und zeigte vom ersten Gespräch an Haltung. In seiner Wohnung war es so geordnet, so habe ich es bei keinem meiner Mitstudenten je erlebt, überall Stillleben. Bei ihm gab es auch nicht, wie bei manch anderen Mitstudenten, dieses bemühte Zitieren von Marcuse und Adorno. Lothar konnte über französische Denker, vor allem über Strukturalisten, sehr klare Sätze formulieren. Nie schulmeisterlich, sondern immer unaufdringlich – was damals sehr selten war. So war er auch im Umgang mit anderen Menschen, auch mit mir: Vom ersten Augenblick unserer Begegnung war er interessiert, zeigte immer Verständnis für die Schwierigkeiten, die ich hatte. Das ist schon mal etwas ganz Seltenes. Vor allem, wenn man bedenkt, dass unsere Freundschaft 50 Jahre währte. Mit ihm konnte ich über alles reden, was mir gerade durch den Kopf ging, was ich erlebt hatte, auch über die Menschen, denen ich begegnet war. Er ließ sich stets darauf ein. Aus diesen Gesprächen konnten wir beide immer Gewinn ziehen. Und dann war da noch der Lothar, der sich schon damals in der Kunstgeschichte breit auskannte, der aber Werke immer sehr persönlich gesehen und auf seine Art wahrgenommen hat.

CFS: Wie hast du ihn kennengelernt?

HS: Ich war 1968 in Karlsruhe in der Klasse von Horst Antes. Am Anfang des Semesters kam Antes auf mich zu und sagte: „Da bring ich noch einen mit aus Köln, der kommt jetzt in unsere Klasse. Wie ist das denn, Helmut, bei dir, du hast jetzt ein Atelier nur für dich und da könnte man den Baumgarten doch mit reintun? Da guckten Lothar und ich uns kurz an und ich stimmte zu. Er kam dann am nächsten Morgen mit einem großen Holzwinkel, einem langen Lineal mit Stahlkante, hängte sie auf je eine Wand und lehnte einen Malstock in die Ecke. So steckte er sein Terrain ab. Er sah, dass ich vorher diesen ganzen Raum für mich hatte und jetzt die Hälfte abgeben musste und hat korrekt da seinen Platz eingenommen. Und Lothar war dann auch jemand, der, wie ich, morgens schon früh im Atelier war.

CFS: Um wieviel Uhr was das?

HS: Meist um 9 Uhr. Er hatte nie die Bierflasche in der Hosentasche, sondern Meterstab und Kladde. Er war, das merkte ich sofort, mit einem klaren Entwurf nach Karlsruhe gekommen. Er arbeitete vom ersten Tag gezielt und ganz konzentriert an seiner Sache. Und er hat genau beobachtet, was ich so machte, hat aber keine dummen oder aufdringlichen Kommentare dazu abgegeben. Ich hatte schon länger einen Plattenspieler im Atelier stehen; meine Schallplatten standen in einer Obstkiste. Da waren wir sofort auf einer Wellenlänge, auch bei meinen John Coltrane und Miles Davis Platten, die ich damals permanent hörte. Lothar brachte dann auch seine Schallplatten mit. So konnten wir uns dann auch nicht beschweren, wenn der eine dem anderen mal eine Platte zerkratzt hat. Lothar las auch gerne in den ganzen naturwissenschaftlichen Büchern, die sich in meiner Ecke stapelten; irgendwann schenkte er mir eine Reclam-Ausgabe von Claude Levi-Strauss Traurige Tropen. Und zu meinen Postkarten auf der Fensterbank mit Motiven von Casper David Friedrich, Albrecht Dürer und Max Ernst stellte Lothar schon bald Postkarten mit Motiven von Giorgio de Chirico und Giorgio Morandi. Die Chemie zwischen uns stimmte von Anfang an, nur habe ich schon bald gemerkt, dass er nicht lange im Badischen bleiben wird. Spätestens dann im Mai, als ich zu einer Veranstaltung meiner Gruppe PUYK Joseph Beuys zu einem Vortrag eingeladen hatte.

CFS: Alles das fand an der Akademie in Karlsruhe statt?

HS: Ja, der Vortrag mit einer längeren Diskussion fand zunächst in der Aula der Akademie statt. Danach gingen die Gespräche mit Beuys und einer Gruppe politisch engagierter Studenten in einer WG im Dörfle noch lange weiter. Lothar bemerkte wohl im Laufe dieser Gespräche, dass Beuys jemand war, an der er sich selbst herausarbeiten konnte. Am späteren Abend habe ich Beuys und Lothar dann zum Bahnhof gefahren. Lothar fuhr mit Beuys zusammen bis nach Köln zu seiner Mutter. Am nächsten Tag ist er dann nach Düsseldorf in die Akademie gegangen und hat sich informiert, wie er sich dort zum nächsten Semester immatrikulieren kann.

CFS: Was gab es da zwischen Beuys und Baumgarten?

HS: Metaphysik. Das war gleich klar. Beuys ist jemand, der hat in seinem metaphysischen Keller auch Platz für einen Lothar Baumgarten, der sich da zumindest für eine Zeit lang ansiedeln konnte.

CFS: War der metaphysische Keller voll Filz und Fett oder voller sozialer Plastik?

HS: In seiner dreistündigen Präsenz in Aula und WG hatte Beuys Lothar vermittelt, dass der Mensch schon alleine durch seine Gestalt und Sprache eine ästhetische Setzung sein kann. Darauf hatte Lothar sich auch selbst schon – noch bevor er mir erstmals in Karlsruhe begegnete – eingelassen. Auch Beuys Verständnis, dass die Dinge selbst, also Material in seiner Form – beginnend mit dem gesprochenen und geschrieben Wort – bereits Kunstwerk sein können, war schon damals im Frühjahr 1968 der Ausgangspunkt für Lothars eigene, erste künstlerische Einlassungen. Es war auch Beuys‘ Umgang mit Material, das Ungewöhnliche, das Nichtherkömmliche, dieses scharfe Messer im Umgang mit der Welt, das Lothar faszinierte.

Schließlich wollte er schon in Karlsruhe mit dem Material und mit der Form seine Gedanken zur Welt, seine Sicht auf die Welt transportieren. In seiner sorgfältig gepackten Tasche hatte Lothar seine Vision, das Ergebnis seiner Recherchen in unserem gemeinsamen Atelier in Karlsruhe zwischen April und Dezember 1968, als er Anfang 1969 nach Düsseldorf aufbrach. Einen Entwurf, den er dann rheinabwärts, voller Respekt vor dem Meister, intensiv zu verfolgen begann.

CFS: Wurde Baumgarten je Beuys-Schüler?

HS: Nein, er war nie ein Schüler. Aber in seiner Arbeit gibt es vieles, was ihm vielleicht nicht gelungen wäre, hätte er sich nicht an Beuys eingesehen. Für Baumgarten war es vor allem die vorgelebte Intensität von Beuys, seine existenziellen Einlassungen, ohne die er 1978 seine anderthalbjährige Reise an den Orinoco gar nicht geschafft hätte. Diese angstlose Auseinandersetzung mit dem Risiko, mit existentiellen Gefährdungen, hat Lothar bei Beuys gesehen.

CFS: Baumgarten kam Anfang 1969 nach Düsseldorf an die Akademie, wie lange hielt er es in der Beuys-Klasse aus?

HS: In der Akademie hat er sich wohl nur 1969/70 zu den Gesprächen mit der Klasse aufgehalten. Er lebte und arbeitete schon bald auf der Lindemannstraße 42 in einem imposanten Haus des Architekten Wilhelm Kreis, in dem auch Konrad Klapheck sein Atelier hatte.

Nach seiner Teilnahme an der Documenta 1972 nomadisierte er zwischen Galerien und Ausstellungsräumen, kam aber bis 1977 immer wieder zurück an seinen kleinen Tümpel hinten am Rhein, wo er Fotos und Filme für seine Installationen machte. Dort hat er auch den 16mm-Film Ursprung der Nacht aufgenommen.

Kurz vor dem Abflug. Lothar Baumgarten mit seiner Filmkamera, Atelier Sittarderstraße 5, Düsseldorf 1978. Foto Erika Kiffl.

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