Jeder Mensch ist ein ...

Zur Beuys-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW

Drakeplatz 4, Beuys mit seinen Kindern Jessyka und Wenzel, 1971                                     Foto: Michael Ruetz

bekannteste Beuys-Satz. Einprägsam, herausfordernd und auch ein wenig hochtrabend. Aber was sagt er überhaupt?

Er klingt wie eine Beuys´sche Ergänzung zu der «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte», die am 10. Dezember 1948 durch die UNO verabschiedete «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte». Etwa um Künstler hier auch endlich gewürdigt zu sehen? Wie Beuys ja schon 1964 die Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm empfohlen hatte, „wegen der besseren Proportion!“ Eine Vermessenheit mithin?

Was ist von diesem Satz also zu halten? – Eine weitere Provokation, eine Schlaumeierei, ein weiteres Bonmot? Beuys menschelt, das ist klar und zwar total. Ist er damit ein Vorläufer der Esowelle, all der Selbstverwirklicher und Ego-Rambos, die vor lauter Selbstoptimierung, Selbstfindung und Selbstverwirklichung kaum mehr geradeaus gehen können?

Viele halten den Satz für den Kern des Beuys´schem Begriffskunstwerks. Für einen universellen Apell, ja für ein Manifest und „universellen Apriorismus“. Aha! Ein neuer universeller, totaler Anspruch tut sich da auf. Der erweiterte Kunstbegriff – eine neue Totalität? Man höre und staune.

Beuys-Kenner Eugen Blume

Jetzt hat die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen als Auftakt zum Beuys-Jubiläumsjahr, Beuys2021 (Schirmherr der Veranstaltung ist MP Armin Laschet) eine Ausstellung eröffnet, die den Beuys-Satz gleich im Titel führt. Eugen Blume, Koordinator des gesamten Jubiläumsreigens, an dem sich allein in NRW 25 Museen und Kulturinstitutionen beteiligen, ist auch Kurator (gemeinsam mit Catherine Nichols und Isabelle Malz) der Ausstellung in der „Kleegalerie“ der K20 am Düsseldorfer Grabbeplatz. Blume schreibt auch den Hauptaufsatz im Katalog, Titel: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“

Es handelt sich hier um einen kurzen, überaus kundigen und erhellenden Aufsatz über diesen einen Beuys Satz. Unbedingt lesenswert. Er sei zur weitesten Verbreitung hier sehr empfohlen.

„Der Satz ist vielmehr ein Manifest der Umkehr, eine Aufforderung zur Revolution, zu einer von der Kunst her gedachten Umwälzung aller Verhältnisse“, schreibt Blume gleich am Anfang. Damit gleich klar ist: darunter ist es nicht zu machen, unter dieser Marke „Umwälzung aller Verhältnisse“, ist der Satz gar nicht zu verstehen.

Glänzend, wie Blume herleitet, wie Beuys überhaupt zu seiner Behauptung fand. Es konnte ja auch kaum ausreichen, den Satz lediglich zu proklamieren. Seine „anthrophologische These“ musste ja nicht nur bewiesen werden, sondern sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und an der Kunstgeschichte messen lassen.

Unter den vielen Quellen, die Beuys bei der Formulierung seines Manifests „Jeder Mensch ist ein Künstler“ dienten, greift Blume zwei näher heraus, zwei Bezugsgrößen, die es in sich haben: der Künstler Marcel Duchamp und Jesus Christus, beides Revolutionäre auf ihrem Feld.

Blume, dieser ausgewiesene Beuys-Kenner und Beuys-Versteher (* 1951 in Bitterfeld), leitet seit 1993 den Aufbau des Joseph Beuys Medien-Archivs, wechselte zwei Jahre später zur Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, den er von 2001 bis 2016 leitete. Er zitiert eine selten publizierte, zunächst rätselhafte Notiz von Beuys: „Am 12.5.63 stürzte sich Marcel Duchamp ins Schwert.“ Blume entziffert für uns, was damit gemeint ist. Beuys verbindet hier sein eigenes Geburtsdatum mit der Jahreszahl 1963, dem Jahr, in dem ihm eine künstlerische Lösung gelungen war, die über das Fertig, der großen epochalen Erfindung Duchamps hinausweist. Ein Akt der Befreiung aus dem Schatten des Übervaters Duchamps. „Stuhl mit Fett“ und der „Karton mit Fettecke“ von 1963 waren Readymades und zugleich „Modelle sozialer Beziehungen, die aus Sicht von Beuys Duchamps `Schweigen´ aufheben, bzw. dessen Werk in ähnlicher Weise erweiterten…“

Sollte jeder Mensch ein Künstler sein, musste Beuys aus dem herrschenden Widerspruch von Kunst und materialistischer Wissenschaft ausbrechen und eine „komplementäre Partnerschaft“ beider Bereiche fordern. Die erweiterte Kunst wie der erweiterte Wissenschaftsbegriff finden hier zu einer höheren Qualität zusammen, in der die Gegensätze aufgehoben sind.

Ziel dieser erweiterten Wissenschaft war nicht nur, die Voraussetzungen von Freiheit zu analysieren, „sondern Freiheit zu praktizieren“. Blume zieht hier eine weitere handschriftliche Notiz heran. 1969 hatte Beuys den von Hennig Christiansen stammenden, sich auf das Johannesevangelium beziehenden Titel einer Aktion Ich versuche dich freizulassen mit „machen“ ergänzt. Auf das Machen aber kommt es Beuys an.

Der Satz vom Künstler in jedem Menschen sagt vor allem etwas über potenzielle Möglichkeiten aus, dass jeder Mensch kreativ ist und all sein Tun im physischen und psychischen Sinne „formbare Prozesse sind, die Beuys unter dem Begriff „Plastik“ subsumierte…“Was aber an sich nicht genügte“. Was fehlt ist die Richtung, in die das Machen gerichtet wird. Beuys beginnt bei sich selbst, er macht ein lebenslanges Selbstexperiment: „An sich selbst wollte Beuys beweisen, dass nur das soziale Engagement für den anderen in die Freiheit führt.“ Durch die derart gerichtete Aktion, schreibt Blume nachvollziehbar, „sollte das Subjekt bis in die vom Egoismus befreite Person diffundieren und in einem evolutionären Sinne revolutionär werden“. Beuys´ Hoffnung für den Menschen ist es, dass er „Gewissheit bekommt in der Entwicklung des Denkens, in dem der freie schaffende Wille wirkt und in dem die Trennung von Subjektivität und Objektivität als Ideologie des Materialismus entlarvt ist.“

Blume weist auf die „ungeheure Provokation“ hin als Beuys auf dem Höhepunkt der marxistisch orientierten Studentenbewegung mit seinem „freilassen/machen“ Jesus Christus als planetarische „Richtkraft“ ins Feld führte.

Beuys´ Idee vom Menschen als Künstler gründet auf einem Phänomen, schließt Blume seinen Aufsatz ab: der Erfahrung der Selbstranszendenz. Keine einmalige Erlösung, vielmehr ein Beginn einer inneren Bewegung, mithin eine lebenslange Übung. „In diesem Sinne auf alle menschlichen Verkehrsformen (den geistigen wie den materiellen) gerichteten erweiterten Kunstbegriff hat er (Beuys) eine plastische Demokratie entworfen, die über eine universell gedachte `bessere Form´ verhandelte.“

So beunruhigend, so anspruchsvoll ist dieser Hammersatz. Es ist mithin kein neuer Zustand oder Status, der uns da zuteilwird (ob wir nun wollen oder nicht). Dazu bedarf es des Tuns, der täglichen, ja lebenslangen Übung in Richtung auf das Nächste und die Nächsten. Tätige Nächstenliebe. In diesem von Blume fein herausgearbeiteten Sinn ist der Beuys-Satz allerdings missverständlich. Das „ist“ sitzt falsch. Beuys will auf das Potential im Menschen hinaus, seine Möglichkeit. Eigentlich müsste der Satz also heißen: Jeder Mensch hat das Zeug zum Künstler. Sofern er sich dem Nächsten öffnet.

Zur Ausstellung

Die Ausstellung selbst kommt ganz ohne Beuys-Werke aus. Stattdessen sehen wir Filme und Dokumente aus dem Bestand des Beuys-Medienarchivs. Die Ausstellung basiert auf zwei Vorläufer Ausstellungen, „Beuys. Die Revolution sind wir“ von 2008 im Hamburger Bahnhof, Berlin (kuratiert von Eugen Blume und Catherine Nichols) sowie „Parallelprozesse“ von 2010 in der Kunstsammlung NRW (kuratiert von Marion Ackermann und Isabelle Malz). Daher kann sich die aktuelle Ausstellung zurücknehmen, auf bedeutende Werke und Werkgruppen verzichten und erweitern auf „kosmopolitischen Übungen mit Joseph Beuys“ (so der Untertitel). Sie kann es sich sogar erlauben, weit ins Kosmopolitische hinaus zu schweifen und Spuren des Beuysianismus, Bezüge zu Beuys in der zeitgenössischen Kunst wie ins weite Gefilde aktueller Missionen und politischer Auseinandersetzungen zu verfolgen.

Beuys der Kosmopolit, der Weltbürger wäre eine fällige Erweiterung des unentwegten Kunsterweiterers, das wäre die Spur. Sein Ansatz hat an Aktualität nur gewonnen. Wie erschreckend ist da der Befund von Noreena Hertz über unsere soziale Vereinsamung und Gefühlskälte „The lonely century“, dt. Das Zeitalter der Einsamkeit. Wir sollten mit Beuys das soziale Abenteuer üben.

Die Ausstellung bietet einen Parcours von 13 Übungen an. Das reicht von Suzanne Lacy (Übung 1) über Phyllida Barlow (Übung 2) bis hin zu Greta Thunberg (Ü9) und Donna Haraway (Ü10). Viel Spaß. Und wer Beuys im Original sehen möchte hat ja dieser Tage unglaublich viel Gelegenheit dazu. Auch im Obergeschoß des K20.

Redaktion: Anke Strauch

 


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