eiskellerberg-Autor Jörg Restorff sprach mit dem Buchautor und Kurator über den diskreten Charme und das Kunstmarkt-Potenzial dieser im Freien gemalten Momentaufnahmen
Dass Kuratoren von ihren eigenen Präsentationen begeistert sind, ist nicht ungewöhnlich. Die Hochstimmung von Florian Illies geht jedoch über den branchenüblichen Enthusiasmus hinaus. Sie ist authentisch und wirkt enorm ansteckend.
Wir sehen uns, Zoom sei Dank, beim Aufbau seiner Ausstellung über Ölstudien im Düsseldorfer Kunstpalast. Illies (geb. am 4. Mai 1971 in Schlitz) ist schon wieder zurück in Berlin. Mit einem der beiden Pioniere, Pierre-Henri de Valenciennes, der andere ist Horace Vernet, beginnt der Reigen. Mehr als 70 Maler, viele von ihnen berühmt, etliche noch zu entdecken, begannen Anfang des 19. Jahrhunderts im Freien zu malen, Naturskizzen auf Papier. Aber mit Ölfarben. Beim Rundgang durch die Ausstellung – als Ganzes eine Augenweide – entdeckt man in dichter Folge Skizzen der Pleinair-Malerei, die hier wie Juwelen erscheinen.
Im Kunstpalast bekommen die kleinen Formate einen großen Auftritt. Beste Beispiele der Gattung stammen von Andreas und Oswald Achenbach, Carl Blechen, Carl Gustav Carus, Jean-Baptiste Camille Corot, Johann Wilhelm Cordes, Johan Christian Clausen Dahl, Caspar David Friedrich, Georges Michel, Heinrich Reinhold und Johann Wilhelm Schirmer. Ölstudien (und nicht nur die) waren im 19. Jahrhundert offenbar Männersache – jedenfalls findet man auf der Künstlerliste nur eine einzige Frau, die Französin (mit dem schönen Namen) Rosa Bonheur (1822 in Bordeaux bis 1899 in Thomery).
Agenten des Augenblicks im Einsatz
„Etwas Betörendes“ hätten die Ölstudien, schwärmt Illies. Diese bei wechselnden Lichtverhältnissen zügig festgehaltenen Landschaftseindrücke betrachteten die „Agenten des Augenblicks“ als Provisorium, als Versuch, bisweilen auch als Testlauf für ein späteres Gemälde. Signiert wurde deshalb kaum eines der Blätter. Wegen ihres Nischendaseins wurde die Ölstudie von der Kunstwissenschaft stiefmütterlich behandelt. „Diese Werke haben so lange einen Dornröschenschlaf gehalten, bis eine Generation von Menschen kam, die die Augen hatten, ihre Schönheit zu sehen.“ Zu dieser Generation darf sich Illies selbst zählen. Während Ausstellungen in Rom, Paris und Washington den diskreten Charme der Ölstudie bereits ins rechte Licht gerückt haben, gab es hierzulande bislang keine Werkübersicht.
Illies wollte dieses Dornröschen wachküssen. Dabei steht ihm eine ‚Prinzessin‘ zur Seite: Anna Christina Schütz vom Kunstpalast zeichnet als Co-Kuratorin mitverantwortlich für die Ausstellung, die ihren Stoff in neun Sektionen untergliedert. Studien von Wolken und Wellen dominieren beispielsweise im Abschnitt „Das Flüchtige. Die Jagd nach dem Augenblick“. Ihr ‚Atelier im Freien‘ schlugen die Maler zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt im Umkreis ihrer Wohnorte auf – darum geht es im Ausstellungsabschnitt „Draußen vor der Tür: Heimaterkundung in Öl“. Gleichwohl blieb die Italien-Reise für die meisten (Caspar David Friedrich machte eine Ausnahme) das Nonplusultra. Anders als in den Jahrhunderten davor richtete sich die Aufmerksamkeit jedoch weniger auf die antiken Ruinen als auf die südliche Landschaft – die Passage „Im Land des Lichts: Die italienische Erleuchtung“ trägt diesem Umstand Rechenschaft. Andere Sektionen, allesamt geistreich und griffig betitelt, widmen sich dem fragmentarischen Charakter der Ölstudie, dem Motiv des Baums, den Tageszeiten oder dem schlechten Wetter, das robuste Naturen wie Rosa Bonheur, Johan Christian Clausen Dahl oder Friedrich Nerly freilich nicht von der Arbeit abhielt.
Langjährige Leidenschaft
Wie fand der unentwegte Journalist, Kunsthändler, Kunsthistoriker und Buchautor Florian Illies ausgerechnet zur Ölstudie? Seit gut drei Jahrzehnten ist er ihr verfallen. Ein Gastspiel der Kunsthalle Bremen in der Bonner Bundeskunsthalle wurde zu seinem Erweckungserlebnis. Damals studierte er Kunstgeschichte und Neuere Geschichte in Bonn. „Und plötzlich wurde Kunst so lebendig und zum Anpacken. Seit dem Moment lässt mich das Thema nicht mehr los.“
Die kleinen Naturstudien, manche von ihnen beiläufig, beinahe im Vorübergehen aufs Papier gebracht, fesselten ihn durch Unmittelbarkeit, skizzenhaften Duktus und malerische Bravour. Mit ihrem lockeren Malstil, der Verwendung leuchtender Farben und der sensiblen Wiedergabe von Licht und Atmosphäre weisen die um 1820 vermehrt in Gebrauch kommenden Ölstudien voraus auf den Impressionismus. Als Medium, um Eindrücke vor Ort rasch festzuhalten, nehmen sie gleichsam die Fotografie vorweg. Und weil Geschichte, Mythologie und Religion – im 19. Jahrhundert das Korsett der Malerei – hier, bei dieser privaten Fingerübung, außer Betracht bleiben, wirken die Ölstudien so ungemein modern, sogar zeitgenössisch. „Für mich sind das keine Alten Meister, was wir hier haben – dafür sind sie viel zu junggeblieben“, lobt Illies.
Für diese Variante des Jugendstils erweist sich der Kunstpalast als idealer Ort. Der Grund: Das städtische Museum verwahrt die historische Bildersammlung der Kunstakademie Düsseldorf. Sie wurde 1773 als „Kurfürstlich-Pfälzische Academie der Maler, Bildhauer- und Baukunst“ gegründet, kann mithin in diesem Jahr ihr 250-jähriges Bestehen feiern. „Die Düsseldorfer Akademie ist die erste, die die Ölstudie 1830 zum Studienprogramm macht“, erläutert Illies. „In Dresden oder München dauert es etwas länger, dort war man zurückhaltender.“ So dienten die Ölstudien, die Johann Wilhelm Schirmer oder die Brüder Achenbach, auch als „A und O der Landschaftsmalerei“ bezeichnet, in der freien Natur anfertigten, den Düsseldorfer Akademiestudenten als Anschauungsmaterial – und, irgendwie paradox, als Vorbild, um eine eigene Handschrift zu entwickeln.
Klein, aber oho
Präsentierte der Kunstpalast zuvor das auf Gigantomanien geeichte Künstlerpaar Christo und Jean-Claude, so bietet die Nachfolge-Ausstellung das Kontrastprogramm: „Die Herausforderung bei diesem schönen Thema ist: Die Werke sind alle sehr klein.“ Weshalb die beiden Kuratoren sich streckenweise an der sogenannten Petersburger Hängung orientierten, also an einem dichten Arrangement vieler Werke. Illies: „So sah es beim Künstler auch im Atelier aus. Er hatte diese Studien rund um sich hängen, rund um sich stehen.“ Und so „sieht es auch bei manchen Ölstudien-Sammlern zu Hause aus“. Übrigens ist Florian Illies selbst einer, tritt bei der Ausstellung jedoch nicht als Leihgeber in Erscheinung, was von vornherein den Verdacht entkräftet, hier wolle jemand seinen eigenen Schätzen museale Weihen erteilen.
Auch so fiel es den beiden Kuratoren nicht schwer, eine erstklassige Auswahl zusammenzubringen. Entscheidend dabei, dass Illies seit langem gute Kontakte zu einem kleinen Kreis von „Ölstudien-Besessenen“ pflegt. Die Exponate stammen aus drei Museen (Kunstpalast, Lübecker Museen, Fondation Custodia in Paris) und drei Privatsammlungen aus Rom, Paris und der Schweiz. „Wir durften aus diesen Beständen wählen“, erinnert sich der Ausstellungsmacher: „Eine wunderbare Chance, zugleich eine unendliche Fülle“. Qual der Wahl also. Man vermag sich schlimmere Torturen vorzustellen.
Einstiegsdroge für angehende Sammler
Als langjähriger Mitgesellschafter des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach sind Florian Illies merkantile Aspekte der Ölstudie kein Dorn im Auge. So kommt das Gespräch auch auf den Kunstmarkt. Nach wie vor sei es möglich, für 300, 400 oder 500 Euro Beispiele von guter Qualität zu erwerben. Bei der TEFAF in Maastricht hätten immer mehr Händler Ölstudien aus dem 19. Jahrhundert im Gepäck. „Wie eine Einstiegsdroge, um die Menschen für die ältere Kunst zu gewinnen.“ Dazu passen seine Grisebach-Erfahrungen (2011–2018); damals erlebte er ein Publikum, das sich vor allem für Expressionismus, Nachkriegskunst und zeitgenössische Kunst interessierte. „Die kamen zu den Auktionsvorbesichtigungen, und dann sahen sie da oben in meinen zwei kleinen Büroräumen diese Ölstudien und waren plötzlich völlig fasziniert – auch von dem Umstand, dass das nur 500 Euro kostete und nicht 50 000.“
Die Ölstudie, so scheint es, kann unseren Horizont in mancherlei Hinsicht erweitern: Zum einen ergänzt, ja korrigiert sie unser Bild von der Malerei des 19. Jahrhunderts. Zum zweiten hat sie als erschwingliches, malerisch herausragendes Kunstmarkt-Objekt ein erhebliches Wachstumspotenzial. Zum dritten – wohl am wichtigsten – können wir von den Ölstudien fürs Leben lernen. Florian Illies: „Zugang zur Natur, Neugier und Zärtlichkeit, das ist etwas, was unsere Zeit, in der wir Angst haben vor der Zukunft des Planeten, in besonderer Weise berührt.“
„Mehr Licht. Die Befreiung der Natur“
Kunstpalast Düsseldorf
bis 7. Mai 2023
oder
vom 14. Juli bis 15. Oktober
Kunsthalle St. Annen, Lübeck