Die Kunst der Wongi

Eine Reise zum Rand des Outback in West-Australien

 

 

Auf dem “Golden Quest Discovery Trail”, dem legendären, knapp 1.400 Kilometer langen Goldsucher-Pfad aus der Hochzeit des Goldrausches geht es vorbei an historischen Orten und aktiven Gold-Abbaugebieten durch die Heimat der Ureinwohner des Outback. Die Aborigines, Opfer des Raubbaus in ihrem Land und bis heute ohne Stimme sind, haben eigene Kunstgalerien gegründet. Sie wollen selbständig werden und versuchen mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.


Unterwegs mit Michael Marek

Perth verschwindet unter den Wolken. Im Flugzeug sitzen muskulöse Typen in orangen Warnwesten. Viele Tattoos, auch bei den wenigen Frauen an Bord. Der Flieger ist nur eine Stunde unterwegs, doch es ist eine Zeitreise. Von der hochmodernen Hauptstadt des Bundesstaates Western Australia, einer Metropole am Indischen Ozean mit achtspurigen Highways und Wolkenkratzern, zum Außenposten im australischen Outback. Nach Kalgoorlie, der legendären Goldgräberstadt.

Anfang des 19. Jahrhunderts strömten zehntausende Menschen aus aller Welt hierher. Europa war arm, die Glücksritter wollten reich werden. Wenige schafften es, die meisten starben in der Einöde. Noch immer wird hier nach Gold geschürft.

 

Echse auf Schotterpiste. Im Outback unterwegs

Am Flughafen Kalgoorlie geht das Abenteuer los. Der Allrad-SUV hat extrabreite Reifen und einen mächtigen Stoßfänger vor dem Kühlergrill. Der Geländewagen zieht einen langen Sandschweif hinter sich her auf dem Golden Quest Discovery Trail durch die Eastern Goldfields. Entlang der Straße: flaches Savannenland. Auf beiden Seiten struppige Mulgabüsche, gelegentlich überspannen Schirmakazien trockenes Grasland, hier und da Eukalyptusbäume. Über allem liegt eine feine Staubschicht. Es geht entlang verlassener Goldfelder, Minenanlagen und Siedlungen.

 

Wir fahren nach Laverton Richtung Norden, 350 Kilometer auf zweispurigen Fahrbahnen, manchmal endlos schnurgerade, dann wieder in weichen Bögen. Es geht vorbei an kleinen Siedlungen mit wenigen Häusern, die von der roten Erde fast verschluckt werden.

Es ist schwül und sengend heiß, der Ort wie ein Filmstil aus einem dieser Streifen, die die äußerste Verlorenheit für irgendeine Szene brauchen. Laternenmasten sind in die rostrote Erde betoniert, ein paar Häuser mit Walmdächern reihen sich entlang der menschenleeren Straße, gesäumt von ein paar fast blätterlosen Bäumen, darüber der gnadenlos strahlend blaue Himmel des Outback. Ein in Stille gepackter Ort. Alles scheint verloren in dieser Ödnis. Das ist Laverton, ganz im Nordosten der Eastern Goldfields. Hier endet auch das schwarze Band. Die geteerte Landstraße geht in eine Sandpiste über. Wer weiter will, verschwindet im aufwirbelnden roten Sand. Bis zum nächsten Ort sind es 1.600 Kilometer östlich. Alice Springs, im Herzen des australischen Kontinents.

Außenposten der Zivilisation

Laurinda Hill lebt und arbeitet in Laverton. Die Siedlung ist der letzte Außenposten der Zivilisation vor dem Niemandsland des zentralen Outback. Laurinda freut sich über jeden Reisenden – Tourismus ist die große Hoffnung nach dem Ende des Lockdown. 450 Menschen leben in dem Örtchen, die Hälfte davon als staatliche Angestellte – verloren wie die wenigen Menschen auf Edward Hoppers Bildern. Der Vergleich mit dem US-amerikanischen Maler kommt nicht von ungefähr.

Laverton Aboriginal Art Gallery

Laurinda Hill kümmert sich nicht nur um das schicke Besucherzentrum, sondern auch um die Laverton Outback Gallery, auch die vom Staat finanziert. Laurinda zeigt Outbackvideos, schenkt Cappuccinos aus und verkauft Souvenirnippes, aber auch Bilder von Aborigine-Künstlern.

2002 wurde die Galerie für Kunst der Aborigines eröffnet – mit dem Ziel, Kunst der Wongi, der Aborigines aus Laverton und dem umliegenden Outback auszustellen und zu verkaufen. In dem Laden lagern hunderte bemalter Leinwände. 80 Prozent des Verkaufspreise gehen zurück an die Künstler, sagt Julie Ovens, die ebenfalls hier arbeitet: “Wir wollen verhindern, dass Aborigines ihre Bilder unter Wert auf der Straße verkaufen. Dort bringt ein schönes Gemälde vielleicht nur 20 Dollar ein. Bei uns können die Aborigine-Künstler ihre Bilder ausstellen, bekommen einen viel besseren Preis, und wir halten sie von der Straße fern.”

Über ganz Australien verstreut gibt es solche Aboriginal Art Center. Diese Kooperativen wurden gegründet, um die Kunst der Ureinwohner zu vermarkten und ihnen einen Lebensunterhalt zu sichern.

Jeder Clan hat seine eigenen typischen Formen, Farben und Themen, erklärt Julie Ovens: “Für die Gegend um Laverton war die Punkt-Malerei ganz typisch. Traditionell benutzten sie Ockerfarben und rote Erdtöne. Das hat sich mit den Jahren geändert. Heute gibt es moderne Malstile und moderne Farben, Rosa oder ein fluoreszierendes Grün. Aber die Punkt-Malerei gibt es noch – und vor allem Landschaftsbilder!”

 

Felsenmalerei der Aborigines in Kununurra, 20.000-40.000 Jahre alt

Jahrtausendelang entstanden die Bilder der Ureinwohner fast ausschließlich für zeremonielle Zwecke. Es waren fantastische Körperbemalungen oder Boden- und Felsenbilder – während ritueller Feiern in den Sand gemalt und beim Tanzen zertreten; an Steinformationen aufgebracht, die eine kulturell-religiöse Bedeutung für die Clans hatten. Kunst war – ein Unterschied zur westlichen Kunstproduktion – nur im Zusammenhang mit dem Ort wahrhaftig, an dem sie entstand. Wäre sie fortgeschafft und gehandelt worden, hätte sie für die Aborigines sofort ihren Wert verloren.

Dieses fundamentale Hindernis, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen, wurde erst in den 1970er-Jahren beseitigt, als Aborigines begannen, die Geschichte ihrer Ahnen auf Leinwand festzuhalten. Diese Bilder konnten dann in den Handel gehen.

 

Stolen Generation von Pauline Golding, ein typisches Dot-Painting der verlorenen Generation

Am bekanntesten ist die Punkt-Malerei, das Dot-Painting. Die Bilder mögen für Weiße vor allem bunt dekorativ als wilde Ansammlung von Punkten und Strichen wirken, tatsächlich aber stellen sie geheime und heilige Zeremonien dar und erzählen eine eigene Geschichte: Punkte und Linien, die zusammenlaufen, sich auffächern scheinbar ohne jeden inneren Zusammenhang – tatsächlich aber sind sie mehr als nur ein gepunktetes Kunstwerk, das an der Wand hängt. “Dieses Bild stammt von Pauline Golding, die in der Nähe von Laverton in einer Aborigine-Gemeinschaft lebt“, erklärt Laurinda Hill. „Sie gehört zur Generation der gestohlenen Kinder. Ihr Bild stellt die australische Regierung und die Weißen dar, die den Aborigines ihre Kinder geraubt haben. Viele Kinder haben sich als Vertriebene gefühlt und waren unglücklich mit dem, was ihnen widerfuhr.“

Die “STOLEN GENERATION” ist eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren australischen Geschichte. Von 1910 bis 1970 wurden Aborigine-Kinder, die einen weißen Vater hatten, in christliche Missionen und Heime eingewiesen oder zur Adoption durch Weiße freigegeben – mit dem Ziel, sie der weißen Lebensweise anzupassen, zu zivilisieren wie es im christlich-weißen Sprachgebrauch hieß, und die hellhäutigeren Nachkommen für ein Leben im weißen Australien zu assimilieren. Dies geschah oft auch mit dem Gedanken, die indigene Bevölkerung auf diese Weise immer weiter schrumpfen zu lassen. Das alles passt nicht zum Bumerang-Kitsch oder zur Ayers-Rock-Didgeridoo-Idylle.

 

Braune, weiße, gelbe, langgezogene stilisierte Körper, die in festen Bahnen zu schwimmen scheinen – durch wild zuckende, weiße und gelbe Linien aus Hunderten, vielleicht Tausenden Punkten, so erzählt Pauline Golding die Geschichte jener gestohlenen Kinder auf ihrem Bild. Doch mit Laurinda Hills Hilfe erschließt sich der Hintergrund des abstrakten Werkes etwas mehr: “Schauen Sie, hier die schwarzen Kreise, in der Mitte hier. Sie sollen die Gemeinschaften der Aborigines versinnbildlichen. Dann kommen die Weißen dazu, die diese Gemeinschaften, ja, umstellen würde ich sagen. Einige Kreise sind leer, die Menschen sind geflohen. Und hier: Sehen Sie, da umstellen die Weißen die Aborigine-Kinder, und nehmen die Hälfte mit, bringen sie in eine andere Gegend, dorthin, wo es Missionen gab.”

Seit etwa 40.000 Jahren produzieren die Aborigines Malereien. Es ist die älteste Kunsttradition der Welt, die heute noch besteht. Galerien wie die in Laverton verpflichten sich dem “Indigenous Art Code”. Der Kunstkodex soll garantieren, dass Arbeiten der Aborginies unter ethisch einwandfreien Bedingungen entstehen, angemessen bezahlt werden und die Erlöse an die Künstler fließen. Es gebe keine Kunstindustrie der Aborigines; es gebe aber sehr wohl eine Industrie, die sich um Aboriginal Art kümmert, sagt Laurinda Hill. Ihre Hauptakteure dieser Industrie seien keine Aborigines, fast alle sind Weiße.

Die Malerei der Ureinwohner ist keine naive Malerei. Aborigines widmen sich vielmehr ihren Schöpfungsmythen und Ahnen oder stellen Geschichten über Liebe und Tod dar. Die Malkunst der Aborigines ist auf vier Farben beschränkt: Braun, Rot, Schwarz und Weiß. Es sind Farben, die vor allem aus Steinen, Erden und Pflanzen gewonnen werden.

Julie Ovens: “In ihrer Kunst drücken die Aborigines ihre Kultur aus. Manchmal thematisieren sie auch die Umgebung, in der sie leben oder ihre Traumzeit-Legenden. Das Wissen um ihre Kultur und ihre Schöpfungsmyhten – all das findet sich in ihren Bildern wieder.”

Die Ureinwohner sind die Verlierer der Goldförderung, damals wie heute

Die Aborigines wurden vom Ansturm der Goldsucher überrannt. Unterdrückung und Tod, Ausgrenzung und Gettoisierung, Zwangsadoptionen von Mischlingskindern seitens der Kirche, soziale und kulturelle Entwurzelung waren die Folge nach der Ankunft des weißen Mannes. Heute wird das Leben der Aborigines vom Staat hoch subventioniert. Ihnen, die ihr Land für heilig und unantastbar halten, wird ihr Stillhalten beim Raubbau mit Steuergeld abgekauft.

Selbst in den kleinen Gemeinden bekommt man sie kaum zu Gesicht: “In den 1990er-Jahren waren die Zustände unter den Aborigines schockierend: Armut, Gettoisierung, Gewalt, Alkoholismus, Drogen. Die Leute hatten riesige soziale Probleme, die daher rührten, dass sie umgesiedelt und vom Rest der Gesellschaft getrennt worden waren. Das alles zu einer Zeit, als australische Regierungen Milliarden Dollar für deren Unterstützung ausgaben. Doch pro Dollar kamen im Schnitt nur vier Cent bei den Leuten an. Das wirft ein Schlaglicht auf die blamable Verschwendung dieser Gelder innerhalb des Förderungssystems, auf die Versäumnisse, obwohl wir doch eigentlich Gutes hätten tun sollen.”

So klagt Warren Mundine. Wenn es um die Interessen der australischen Ureinwohner geht, gibt es im ganzen Land niemanden, der sie so kompetent und einflussreich vertritt wie. Er stammt vom Clan der Bundjalung, ist Politiker, Berater mehrerer Premierminister seines Landes, Wirtschaftsexperte, Gründer und Aushängeschild diverser Hilfsorganisationen und Katholik.

Es liege noch ein langer Weg vor den Aborigines in Australien bis zur vollständigen Anerkennung als gleichberechtigte Australier. Der Rassismus sei nicht überwunden, sagt Warren Mundine. Es gebe gar keinen Zweifel daran, dass er noch existiere. Die Dinge schwänden nicht so einfach über Nacht. “Die 200 Jahre hier waren nur eine Fortsetzung dessen, was Kolonialisierung überall in der Welt in Hunderten, wenn nicht Tausenden Jahren angerichtet hat. Gut, wir stehen heute besser da als vor 30, 40 Jahren, als Rassismus noch akzeptiert war. Das ist er heute zwar nicht mehr, aber er kommt noch vor in einer fast schon institutionalisierten Art des Umgangs miteinander. Es ist also noch ein langer Weg zu kämpfen.”

 

Dekorativ, doch voller Geschichten. Dot-Paintings erzählen die Geschichte der Ureinwohner Australiens in tausenden von Punkten.

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