Könnte sein, dass die Zeit hier stillsteht. Mitten in Marl hat man in Zeiten des Aufbruchs eine monumentale Standuhr vor das hochmodernen Rathaus gestellt, ein weißer Würfel mit schwarzen Zeigern, getragen von einem Gerüst aus schweren Stahlträgern mit Doppel-U-Profil. Später kamen feine Drähte zur Taubenvergrämung an den Ausläufern der Stahlträger dazu. Im Verlauf der Jahre sind auch Regenwassernasen an den Zifferblättern ablesbar. Eine „anonyme Skulptur“? (So der Titel einer Ausstellung von Bernd und Hilla Becher aus dem Jahr 1970). Könnte sein, dass die Zeiger seit geraumer Zeit stillstehen. Aber alle Zeit steht auf der Fotografie still. Zählt es doch zu den Wundern dieser modernen Erfindung, dass sie die Zeit festhält, sie einfriert, selbst den bewegtesten, lebendigsten Augenblick noch.
Till Brönner geht den Augenblicken mit seiner Fotokamera nach. Was auch immer sich seinem Blick auf seiner einjährigen Tour d’Horizont durch das ehemalige Ruhrrevier bietet, welches fotografische Genre er dabei nutzt, ob Landschaftsfotografie, Porträt, Detailaufnahme oder Sequenz, stets geht es ihm um den besonderen Moment. Die Zeitlichkeit, die Veränderlichkeit, ja, das Flüchtige ist immer gegenwärtig in seinen Bildern . Und damit werden die Fotografien zeitumfassend monströs: Mitsamt der Aktualität ihrer jeweiligen Gegenwart machen sie, gleichsam aus den Augenwinkeln, Vergangenheit und Zukunft mit erfassbar.
Till Brönners Aufnahmen erfassen den Moment als aufschlussreichen, ja erhellenden Blitz. Das vermag die Fotografie zweifellos. Doch vielleicht geht es dem Künstler weniger darum, besondere Augenblicke einfach nur festzuhalten, als vielmehr darum, sein Erstaunen mit uns zu teilen, dass dieses im schnellen Wechsel der Handlungen und Szenen verborgene, beispielhafte Augenblicksbild herausspringen kann. Das wäre sein Glück und die Kunst aller Augenblicksfotografie überhaupt: dass er ihr gelänge, den richtigen, gültigen Moment zu erhaschen, eine Art archimedischen Punkt, von dem aus sich die Welt aus den Angeln heben liesse. Weniger dramatisch gesprochen: Ein solch beiläufiger Moment stelle sich vor dem Auge des Fotografen ein, der wie ein Blitz die vielfach überlagerte, von allzuviel Nebensächlichkeiten wie durch allzu viele Worte und Begriffe verunklärte Situation erhellen kann, um auf der Oberfläche einer einzigen Fotografie sichtbar zu werden. Ist es bildgewordene Offenbarung, Magie, Intuition? Oder bloß Indianerglück?
„Die Maus springt der Katze ins offene Maul!“, sagte einst der für seine verblüffenden Weisheiten bekannte Joseph Beuys. Das Paradoxon soll hier auf einen Umstand hinweisen, dem sich auch Brönners beste Bilder verdanken. Der Fotograf macht sich einen Plan, macht Termine, macht sich auf die Socken, reist kreuz und quer durchs Ruhrrevier, durch Städte und Gemeinden, aufs Land, klettert auf Halden und stillgelegte Fördertürme, besucht Stadtteilfeste und Vereine, Sportarenen, stillgelegten Zechenanlagen, englisch-frisierte Villengärten, Kindertagesstätten, steht unter Autobahnbrücken oder in U-Bahn-Schächten, baut sich vor Frittenbuden und Spielhallen auf – und wartet. Es geht auf Lauerstellung, denn er weiß: Mit Geduld und Kamera allein wird er den scheuen Augenblick kaum einfangen. Es gehört ein paradoxer Trick dazu, bis der richtige Moment seiner Kamera ins offene Objektiv springt. Aus solchen geglückten Momentaufnahmen entsteht Brönners Ruhrgebietspanorama, weniger Reportage, auch kein Foto-Essay, eher ein Kaleidoskop aus 190 Augenblicken (aus einer Gesamtzahl von 500 Aufnahmen).
Jazz fürs Auge
Der Fotograf Till Brönner ist ein Spurensucher. Er erschließt das Ruhrgebiet von seinen Rändern aus, aus seinen Tiefen und Abgründen, in seinen scheuen, verlorenen Gesichtern, aus seinen Widersprüchen, Verirrungen und Verzweiflungen, aber auch aus der unbändigen Hoffnung. Schwarz-weiß und farbig, hautnah und in weiten Landschaftsbildern, porentief und menschenleer (wie auf den Rolltreppenstillleben), beklemmend (wie die Serie der Kinder aus dem Friedensdorf International Dinslaken), bedrohlich (wie die tätowierten Oberarme von Ex-Schalke-Profi Sascha Wolf und Sohn Joel), befreiend (wie eine Gruppe Mädchen des Tanzprojekts MOVE! in Recklinghausen).
“Der entscheidende Augenblick”
Henri Cartier-Bresson (1908–2004), der legendäre französische Fotograf (1947 gründete er unter anderem mit Robert Capa die einflussreiche Agentur Magnum) steht Pate. Cartier-Bresson hat „den entscheidenden Augenblick“ zu seinem kreativen Prozess bei der Suche nach Motiven erklärt und den Begriff als zentrale Größe in die Fotografie eingeführt. Fotografie ist laut Cartier-Bresson einfach „das Drücken des Auslösers zur richtigen Zeit“. Doch wie so oft erweist sich das Einfache als komplex. Wenn sich das Geschehen, das er mit Umsicht und größter Aufmerksamkeit verfolgt, vor seinen Augen – Cartier-Bresson ist ausgebildeter Maler und Zeichner – zu jenem Punkt verdichtet, der es über die pure Zufälligkeit hinaushebt und zu etwas Beispielhaften prägt, betätigt er den Auslöser seiner Kleinbildkamera. Bloß, was sagt ihm, wann es soweit ist? – Cartier-Bresson spricht von einem „gereiften Instinkt“, der den Fotografen befähigt, sein Bild in Sekundenschnelle optisch zu organisieren, also die wechselnden Motive zusammen mit der strengen Organisation der Oberflächen, Linien und Lichtwerte in Einklang zu bringen. Inhalt und Form der Bilder sind für ihn untrennbar miteinander verbunden.
In seinem Essay Auf der Suche nach dem rechten Augenblick fasst Cartier-Bresson seine Position zusammen: „Denn die Welt ist in Bewegung, und man darf gegenüber einer beweglichen Sache nicht in Bewegungslosigkeit verharren. Manchmal findet man ein Bild in Sekunden, es kann aber auch Stunden oder Tage dauern. Einen festen Platz oder ein Arbeitsmuster gibt es nicht. Intellekt, Auge und Herz müssen ständig wach, und der Körper muss belastbar sein.“
Er hielt die Fotografie für die einzige Ausdrucksform, die den vergänglichen und unverwechselbaren Augenblick für immer festhalten kann: „Erinnerungen lassen sich nicht entwickeln und abziehen.“ Doch daraus leitete er eine Verantwortung für den Fotografen ab: „Fast wie ein Schiedsrichter beim Boxkampf müssen wir, während wir an einer Reportage arbeiten, Punkte und Runden zählen. Egal mit welchen Themen wir uns beschäftigen, wir werden immer als Eindringlinge erscheinen. Gebot Nummer eins ist daher, dass man sich quasi auf Zehenspitzen an das Objekt heranschleicht, selbst wenn es sich um ein Stillleben handelt. Jeder von uns braucht Samthandschuhe und Falkenaugen.“ Und er sieht diese Verantwortung vor dem Publikum: „Ich glaube, Leben bedeutet, sich selbst gleichzeitig mit der Welt entdecken, die uns umgibt, einer Welt, die uns formt, die aber auch von uns beeinflusst werden kann. Es gilt eine Balance zwischen beiden Welten herzustellen – der Welt in uns und der um uns. Als Ergebnis dieses wechselseitigen Prozesses vereinigen sich die beiden Welten und werden eins. Von dieser Welt müssen wir den anderen Menschen berichten.“
„Wie meine Trompete die Verlängerung meiner Zunge, ist die Fotokamera die Verlängerung meines Auges.“
Davon erzählen auch die Fotografien Till Brönners: Hinter der Kamera steht ein Mensch. Nur ein Mensch. Aber auf den kommt es an. Der Jazzmensch sagt: „Wie meine Trompete die Verlängerung meiner Zunge, ist die Fotokamera die Verlängerung meines Auges.“ Die Kamera hält er sich nicht wie eine Maske vors Gesicht, denn er weiß, wie sehr der Mensch dahinter, seine Persönlichkeit, die vielleicht entscheidende Größe ist. So viele Ruhrgebietsfotos es auch bereits geben mag (und wie viele Millionen tagtäglich dazu kommen), wie könnten ein paar gültige, beispielhafte entstehen? Längst nicht jeder Katze springt die Maus ins Maul.
In Los Angeles traf Brönner eines Tages Greg Gorman, den berühmten Fotografen zahlreicher Hollywoodstars und Jazzlegenden, und fragte ihn: „Was macht einen guten Fotografen aus?“ Die Kamera, eine ausgeklügelte Technik, gutes Licht, eine ungewohnte Perspektive oder einfach Glück? Gormans Antwort fiel eindeutig aus: die Persönlichkeit. Brönner, am 6. Mai 1971 in Viersen (am linken Rand des Ruhrgebiets) geboren, wuchs in mehreren Ländern auf, hat viele Berufe durchmessen (Trompeter, Sänger, Komponist, Arrangeur und Professor), bevor er diese Fotografien machen konnte. Brönners derart gereifte Intuition ist zudem durch die Jazzschule gegangen. Man kann es also als außerordentlichen Glücksfall ansehen, dass hier ein Fotograf das Ruhrgebiet “from scratch” angeht, der seine Art of Being There (Alfred Eisenstaedt) zuvor auf den Jazzbühnen dieser Welt erprobt hat.
Überhaupt Jazz. Lässt sich irgendwie übersehen, dass hier ein Jazzmensch durch und durch das Ruhrgebiet durchstreifte, wahrnahm und fotografierte? Wieviel Jazz steckt am Ende in den Aufnahmen von Brönner? Wieviel Sound und Rhythmus lässt sich in den Fotografien finden. Seine Trompete, gibt er zu bedenken, setze er auch eher behutsam, „samtig“, flüsternd und beinahe erzählend ein. So auch seine Kamera. Vor allem aber sei Jazz ein Zusammenspiel von Musikern, die sich frei improvisierend begegneten, einen gemeinsamen Sound, einen Zusammenklang suchten, um daraus ein Stück entstehen zu lassen. Das erfordere nicht nur das eigene Spiel (Trompete, Flügelhorn), sondern vielmehr ein genaues, aufmerksames Zuhören auf das Spiel der Mitspieler, auf die anderen Instrumente (Klavier, Saxophon, Schlagzeug, Kontrabass …).
Und natürlich verdankt sich Brönners Ruhrgebietskaleidoskop mehr der frühen Jazzfotografie als der traditionellen Ruhrgebietsfotografie, also mehr dem Werk der großen Jazzfotografen wie Herman Leonard (The Eye of Jazz), Bob Willoughby, Milt Hinton, Chuck Stewart oder Bill Claxton. Derart ist Brönners „poetischer Realismus“ jazzerprobt, will sagen, er zeichnet seine Aufnahmen nicht in hartem Schwarz-Weiß-Kontrast, sondern unterlegt der Wirklichkeit, den harten, bisweilen widerlichen und abstoßenden Seiten, die er findet, eine samtige Menschlichkeit. Brönner hat sich einen Blick für die unfreiwillige Komik, die uneingestandenen Eitelkeiten, die Vermessenheiten und Versteifungen, die absurden Übertreibungen bewahrt. Die kühnsten Baulichkeiten, die himmelstrebenden Ingenieurswunder im Ruhrgebiet künden doch von ihrer Vergeblichkeit. Brönners Poesie versucht nicht zu schmeicheln oder abzuwiegeln. Aber sie weist hinter den Verbiegungen und Übertreibungen auf eine gewisse Schönheit hin, eine verzweifelte Restgröße vielleicht. Immerhin – manchmal taucht die Schönheit überraschend auf …
Friedensdorf International in Dinslaken
Zur Ausstellung:
Till Brönner. Melting Pott
3. Juli bis 6. Oktober 2019
Museum Küppersmühle Duisburg
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