Vom Geringen als Glück und Chance

Inge Schmidt im Kolumba Kunstmuseum

Aufrechte, verschiedene Materialien, daumengroß

Wer sich in Kolumba verliert, folgt einem Plan. Das Museum gleicht mit seinen engen Treppen, verwinkelten, ungleich großen, ungleich hintereinander angeordneten Räumen eher einem Labyrinth als einer Enfilade. Wer sich hinein begibt, verlässt hier, mitten in Köln, ausgetretene Museumspfade, sieht sich verunsichert, wird Fragen stellen und sich wundern.

Am Ende des Wegs gelange ich in Raum 21. Diese fensterlose, ungewöhnlich in die Höhe gestreckte “Turmraum”, an die 15 Meter hoch, unverputzte Betonwände, liegt hinter all den anderen bereits durchmessenen Räumen, Sackgasse. In der Mitte dieser eigenartigen Kammer finden sich einzelne Stelen aus Restholz und Holzresten von Inge Schmidt (geb. 1944 in Bonn, lebt und arbeitet in Köln), an der Rückwand eine Werkgruppe aus Kleinplastiken, am Boden eine Videoarbeit. Tageslicht fällt von weit oben herein. Der hohe Raum wirkt leer, beinahe sakral. Die schlichten Werke scheinen wie Beigaben, Hinterlassenschaften eines unbekannten Rituals. Den Zeiten enthoben und doch gegenwärtig. Zwischen sakral und profan wird in diesem Kunstmuseum der Erzdiözese Köln ein Spannungsbogen erzeugt, der die besondere Anziehungskraft des Hauses ausmacht. Museumsdirektor Stefan Kraus hat die aktuelle Jahresausstellung profan „Artist at Work“ genannt. Doch das darf nicht über die religiösen Zwecke hinwegtäuschen, denen dieses Museum letztlich dient. Künstler sieht man nicht bei der Arbeit. Doch ist hier eine Inszenierung in dem auf Trümmern errichteten, kolossalen Bau (nach einem Entwurf von Peter Zumthor) gelungen, die den ganzen Zauber dieses besonderen Kunstmuseums ausmacht.

Im Raum von Inge Schmidt wird das anschaulich. Im Einfachen und Einfachsten, im Geringen und Geringfügigen, beinahe Übersehenen, Alltäglichem, noch im Banalem scheint ein Licht auf, eine metaphysische Bescheidenheit, eine spielerische Leichtigkeit, die auf eine Hoffnung weist, dass wir Teil von etwas sind, das größer ist als wir. Eine schönere Würdigung hat die Arbeit der Künstlerin, die in diesem Jahr 80 Jahre alt wurde, bisher nicht erfahren.    

Eine Gradwanderung  

Aus gefundenen, verschlissenen, bereits entsorgten Materialien, Holzresten, Wellpappe, Stofffetzen, Schnur, Draht, Gips und Tannenzapfen fertigt die Künstlerin ihre ganz eigene, figürliche arte povera. Minimalplastiken, meist nur wenige Zentimeter groß, dann wieder aufragend zu lebensgroßen Stelen, die sich frei im Raum behaupten. Aus Wellpappe, bemaltem Papier und Kordel entsteht „Fühlhand“. An einem Nagel hängt an einem blauen Plastikstrick „Hand mit Blau am Nagel“. Aus fünf Hölzchen und einem Stoffrest wird „gelber Rock“. Aus Draht und zwei Holzresten wird, schwer entzifferbar, ein Schriftsatz „lieb + böse“. „Die Standhafte“ steht auf nur einem krummen Bein. Der „konkrete Schritt“ steht auf einem Gipsfuß, streckt aber einen weiß getünchten Holzstab weit in die Welt hinaus. Das „Kufentier“ gleitet auf seiner einzigen Kufe, hält zur Sicherheit ein drittes Bein heraus und zeigt menschliche Züge. Mit einer Höhe von 29 Zentimetern zählt es zu den größten Arbeiten. Das „ausgebüxte Lila“ misst nur elf Zentimeter.

Gering in der Größe, im Ausmaß, im Gewicht, kaum einmal ein wenig Farbe aufgetragen, nie reiches Bildhauermaterial, nie die große Geste. Ganz im Gegenteil. Kein Aufsehen erregen, kein Aufhebens machen, verletzlich sein, könnte ihre Losung für ein Überleben der Kunst sein, die sich zusehends im Luxussegment verliert.  

Dabei ist das Geringe und Einfache keine sichere Bank. Es ist immer eine Gradwanderung. Zur einen Seite kann es ins Banale, Seichte und Niedliche abrutschen, auf der anderen vermag daraus eine verblüffende Wirkung entstehen. Gerade in der Reduktion kann eine künstlerische Wahrheit zu Tage treten, die bei aller Nüchternheit überzeugt, gerade weil sie sich allen Überwältigungsformeln entzieht. Purrezza kann schnell langweilig werden und der Hang zum Absoluten überanstrengen. Wie es Inge Schmidt gelingt, beidem zu entgehen, ist an jeder einzelnen Arbeit nachvollziehbar.

In allen ihre Werken steckt eine Liebe zur Figur. Man mag sie schlicht nennen, erscheinen sie doch meist klein und lustig, wackelig und zerbrechlich. Doch berühren sie allesamt Fragen der modernen Bildhauerei und damit die tief menschlichen. Hier in Kolumba wird man sich an das Jesuswort erinnern, das er den Pharisäern, den Schriftgelehrten und Heuchlern zurief: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden… Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen.“

Ist Demut eine künstlerische Haltung oder eine Strategie?

Inmitten all der (männlichen) Kunstprotze ist Schmidts Geringfügigkeit wohltuend und selten. Ihre Bescheidung und Reduktion auf gebrauchte, vernutzte Materialien läßt sich aktuell deuten, weil sie Wiederverwendung und Nachhaltigkeit anzeigen, weil ihre Kunst nichts demonstriert oder fordert. Außer hingucken. Doch wer sich zu sehr in die ärmlichen Materialien verguckt, liegt schon schief. Es geht hier nicht um Botschaften und Bedeutungen. Die Bildhauerin erhielt ihre Ausbildung an der Städel-Hochschule für bildende Künste bei Michael Croissant, dessen Meisterschülerin sie war. Ihre Arbeit mit armen Materialien ist keine Attitüde, sie entspringt einer künstlerischen Haltung, ihrem starken plastischen Formwillen.

Schmidt tut nicht bescheiden, sie ist es. Bescheidenheit bedeutet hier nicht, dass man sich nicht hervor tuen sollte, sondern nur, dass man sich mit seinem Hervortun nicht hervortun sollte. Vermessenheit und Großspurigkeit ist einfach nicht ihr Ding. Deshalb sich zu verstecken, käme ihr nicht in den Sinn. Ihr waches Selbstvertrauen und ihr Stolz als Bildhauerin sollte nicht unterschätzt werden.

Der Wirklichkeit gegenüber, dem großen Ganzen, das sie fasziniert, beizeiten auch erschreckt, fühlt sie sich zugehörig, vor ihm erscheint ihr jede Selbstgefälligkeit deplatziert. Demut ist die ernste Schwester des Humors. Auch das lässt sich im Turmraum erleben.

Blick ins Bildhaueratelier.
Foto: Manfred Förster

Demut und Humor sind die Pole einer Spannung, durch die die Künstlerin Geringes, Schäbiges, Reste und Fundstücke einer Wandlung unterzieht. An dieser Transformation, christlich Transsubstantiation, ist auch Kolumba gelegen. Im Sakrament werden alltägliche Dinge gewandelt, Brot und Wein werden zu Leib und Blut. Künstlern, die selbst geringste Dinge in Kunst verwandeln, “beseelen”, widmet die Kirche ein eigenes Museum. Spiritualität, eine Vergeistigung des Materiellen, ist das Mysterium, das hier zur Anschauung gebracht wird.

Inge Schmidt umweht kein Geniekult, keine Künstler-Egozentrik ist ihr eigen. Jeder Anspruch auf Weltheilung liegt ihr fern. Sie arbeitet in ihrem Bildhaueratelier in Köln-Nippes tagein, tagaus und freut sich über die späte Anerkennung. Der große Ruhm ist ihr erspart geblieben, der internationale Kunstmarkt, der von Köln wie anderswo, hat sie ignoriert. 

Im Beiläufigen, im zufälligen Finden eines Restes, einem vielleicht übersehenen Stück Holz oder Stoff, entzündet sich ihr plastischer Elan. Im „Pulsschlag einer einzigen glücklichen Minute“, wie es bei Marcel Proust heißt, oder auch in den „minutes profondes“, die ihm auf seinen Streifzügen zustoßen, entzündet sich bei Schmidt ein künstlerischer Funke aus Fundstücken, aus Übersehenem und leichthin Weggeworfenem unserer profanen Alltagswelt, um daraus „die andere Welt“ Kunst entstehen zu lassen. Um dieses, vielleicht letzte Mysterium dreht es sich hier in Kolumba.

Der Zauber von Kolumba

Eine feste Burg. Neubau von Kolumba in Köln

Man darf sich wundern.Nach jahrelangem Baugeschehen war über der kriegszerstörten Kirche St. Kolumba 2007 ein neues Kunstmuseum in Köln entstanden. Stand zunächst sein Architekten Peter Zumthor und dessen bis heute berühmtester Museumsbau im Zentrum des Wunderns, ist es diesem Kirchenbau in der Mitte Kölns bis heute gelungen, vom Niedergang des Katholizismus und den dramatischen Austritten aus der Kirche u.a. wegen andauernden sexuellen Missbrauchs von Priestern vor allem an Kindern unbeschadet zu bleiben. Die Besucherzahlen steigen. Kaum jemand nimmt wahr, dass es sich bei Kolumba um das Kunstmuseum des Erzbistums Köln handelt. Wie lange wird das Bistum sich sein Museum leisten können?

Von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Kirche keine Spur. Weder finden sich künstlerische Positionen in Kolumba, die sexuellen Mißbrauch durch Amtsträger thematisieren, noch etwa das Verlangen von Frauen um mehr Mitsprache in der Kirche.


Jedes Jahr zum 14. September, dem Fest der Kreuzerhöhung, wird das Museum völlig umgekrempelt. Alle 21 Sammlungsräume werden in der „Jahresausstellung“ neu eingerichtet. Das ist anspruchsvoll, bleibt allerdings unpolitisch, vor allem wo es um Reformen der Kirche ginge. Als „Lebendes Museum“ will Kolumba nicht zwischen ständiger Sammlung und Wechselausstellung unterscheiden, schon gar nicht zwischen christlicher und außerchristlicher Kunst und auch nicht zwischen Kunst und Alltagsgegenständen, Banalitäten und sonstigen Absonderlichkeiten. Doch gelingt es durch sorgfältige Auswahl, Werke der äußerst disparaten Sammlung von der Spätantike bis in die Gegenwart, von romanischer Skulptur zur Rauminstallation, von mittelalterlicher Tafelmalerei bis zum Radical Painting, vom gotischen Ziborium bis zum Teekessel, vom Herimannkruzifix zu Lochners Madonna mit dem Veilchen zu postmodernen Keramiken und verspielten Enironements in sich verändernden Kontexten und Inszenierungen zu „beleben“. Objektbeschriftungen, chronologische, stilgeschichtliche oder mediale Zusammenhänge finden sich in diesem Museum nicht. Ein aufklärerischer Gedanke liegt diesem Museum fern und hat vielleicht gerade deshalb Erfolg. 

Die aktuelle Jahresausstellung unter dem Titel „Artist at Work“ wurde von einem vierköpfigen Kuratorenteam, Stefan Kraus, Ulrike Surmann, Marc Steinmann und Barbara von Flüe eingerichtet. Jonas Grahl hat den Raum mit Werken von Inge Schmidt eingerichtet.

Jahresausstellung “Artist at Work”
bis zum 14. August 2025
Kolumba, Köln

ARTE POVERA
bis zum 25. Januar 2025
Pinault Collection, Paris


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