Verhüllen, um zu enthüllen, so umschrieben sie selbst ihre Kunst. Seit den 1960er-Jahren schufen Christo und Ehefrau Jeanne-Claude lebende Landschaften in aller Welt. Ihre Projekte wirkten und wirken polarisierend: Für die einen waren sie schlichtweg Scharlatane, für ihre Liebhaber Genies. Unberührt blieb wohl niemand von ihren wie Happenings inszenierten Kunstaktionen: Ob es Tausende bunter Sonnenschirme in Japan und Kalifornien, rosa umkränzte Inseln in Miami, ein verhüllter Reichstag oder orangefarbene Tore mitten in New York waren. Nach dem Tod von Jeanne-Claude (2009) und Christo (2020) wird nun posthum ein schon 1962 begonnenes Projekt realisiert:
zum Mithören
Eine Wegbegleitung von Michael Marek
Das Haus in Manhattan
Metropolitan Museum of Art, New York City im April 2010: Der Himmel über dem big apple atmet schwer. Es regnet in Strömen. Draußen steht eine handverlesene Menschenmenge. Regenschirme sind aufgeklappt, Taxis fahren vor, das Sicherheitspersonal prüft wie immer Jacken und Taschen.
2.000 Menschen haben sich hier versammelt. Freunde und Weggefährten – zum letzten Geleit für Jeanne-Claude. Im November 2009 war Christos Frau und künstlerische Partnerin gestorben. Plötzlich und überraschend, an einer Gehirnblutung. Jetzt spielt auf der Gedächtnisfeier ein namhaftes Quartett Mozart, den Lieblingskomponisten von Jeanne-Claude.
Reden werden gehalten, Bürgermeister Michael Bloomberg erinnert an Jeanne-Claudes unerbittliche Genauigkeit, ihre Zielstrebigkeit und ihren scharfsinnigen Humor. Einige Wochen später sitzt mir Christo gegenüber. In New York City, Howard Street: Hier, zwischen den Stadtvierteln Soho, Little Italy und Chinatown, residierten Christo und Jeanne-Claude in einem alten Fabrikgebäude – gemeinsam. Seit 1964. Zunächst als Mieter, dann als Besitzer des Hauses, das von außen unauffällig, fast baufällig wirkt. Nach dem Tod seiner Frau wohnt Christo hier allein.
CHRISTO: Jeanne-Claude ist immer bei uns! Wir hatten das Glück, seit 1961 von zwei der besten amerikanischen Dokumentaristen gefilmt zu werden. Da kann man sehen, dass wir vor der Kamera häufig gestritten haben. Jeanne-Claude war immer kritisch und diskussionsfreudig. Das hat sie vermutlich am meisten ausgezeichnet.
An der roten Eingangstür sucht man vergeblich nach einem Namensschild. Stattdessen gibt es eine kleine Videokamera. Die Hausnummer ist handgemalt. Hier sind, hier waren Christo und Jeanne-Claude Zuhause:
CHRISTO: Ein Künstler arbeitet ja gewöhnlich alleine in seinem Studio, vielleicht lädt er ab und zu ein paar Kritiker oder Freunde ein, mit denen er seine Arbeit diskutiert, aber ansonsten trifft er Entscheidungen allein. Mit Jeanne-Claude gab es eine permanente kritische Auseinandersetzung. Wenn Jeanne-Claude etwas nicht wollte, dann kam es überhaupt nicht in Frage. Und das ist es, was ich wahrscheinlich am Stärksten vermisse.
Hinter der Eingangstür erhebt sich ein riesiges Treppenhaus – ausgestattet mit einem Liftboy, den Jeanne-Claude wegen eines Bandscheibenvorfalles benutzte. Die Wände des fünfstöckigen Hauses bestehen aus nacktem Backstein. Auf mehreren Etagen sind hier Atelier, Büro und Wohnung untergebracht. Im ersten Stock befindet sich ein Ausstellungs- und Showroom. Überall hängen Christos überdimensionale Zeichnungen. So wortreich und einnehmend das Künstlerehepaar auf der öffentlichen Bühne wirkte, gegenüber Staatspräsidenten, Regierungsorganisationen, bei Gesprächen mit Bauern und Umweltschützern, so bescheiden ist hier alles eingerichtet. Kein Luxus, kein Prunk, dafür aber viel Kunst. Auf dem Tisch stapeln sich Bücher und Kataloge. Daneben steht ein Aschenbecher. Jeanne-Claude war leidenschaftliche Raucherin.
CHRISTO: Dieses Haus ist das Nervenzentrum für unsere Projekte. Unterm Dach ist mein Studio, hier entstehen alle meine Zeichnungen. Jeanne-Claude war so intelligent, drei junge Assistenten zu gewinnen, die mir jetzt helfen. Einer ist ihr Neffe, der kümmert sich um die Banken und das Bezahlen von Rechnungen. Der zweite beschäftigt sich mit den Dingen, die mit der Kunst zu tun haben. Und mein Neffe Vladimir macht alles, was an Praktischem anfällt. Zum Beispiel Auto fahren. Ich habe keinen Führerschein, und ich verstehe überhaupt nichts von Computern. Aber was ich am meisten hasse, ist zu telefonieren. Jeanne-Claude hat das immer gemacht. Und so haben die jungen Leute sich ausgedacht, dass ich Skype. Dann erscheint die Person wenigstens auf dem Bildschirm, und ich kann sehen, mit wem ich spreche.
Gestenreich und einnehmend sprach Christo, er sah ein wenig schmaler aus als vor ein paar Jahren. Das Haar war weiß geworden. Noch immer mit der englischen Sprache kämpfend, aber mit Hingabe und Überzeugung auf die Fragen antwortend. Christo lächelte und sprach nach dem Tod von Jeanne-Claude weiterhin von „wir“; stets freundlich, in kariertem Hemd, verschlissener Jeans und blauen Turnschuhen. So kannte man ihn aus dem Fernsehen, von Diskussionsveranstaltungen, von seinen Projekten.
CHRISTO: Wir sind überhaupt keine Anhänger irgendeiner Religion. Jeanne-Claude liebte Imagine von John Lennon, vor allem die Textzeile: Imagine there’s no religion too. Sie hat immer darüber gewitzelt, dass die Sonne der einzige Gott ist, an den sie glaube. Denn ohne die Sonne, würde es kein Leben geben. Jeanne-Claude wollte kein Grab. Zu Lebzeiten hatte sie bestimmt, ihren Leichnam der Wissenschaft zu überlassen.
Aber braucht man manchmal nicht einen Ort, ein Grab, um zu trauern, wollte ich von Christo wissen?
CHRISTO: Nein, ganz und gar nicht. Ich trauere auch nicht, denn wir wurden reich beschenkt durch unsere kreative Tätigkeit. Die Kunst ist der Ort, an dem Jeanne-Claude und ich uns treffen.
Seit über 50 Jahren haben Christo und Jeanne-Claude Landschaften und Gegenstände in aller Welt künstlerisch verfremdet: 1969 verhüllten sie einen Küstenabschnitt in der Nähe von Sydney. In Kalifornien ließen sie 1975 einen 40 Kilometer langen Nylonzaun quer durch die Landschaft ziehen und ins Meer stürzen; vor der Küste Miamis umkränzte das Künstlerpaar 1983 künstlich geschaffene Mini-Inseln mit rosaroten Plastikplanen; zwei Jahre später verhüllten Christo und Jeanne-Claude in Paris den berühmten Pont Neuf mit champagnerfarbenem Tuch.
CHRISTO: Die Kunst des Verhüllens ist älter als die Kunstgeschichte selbst. Seit tausend Jahren benutzen Künstler Stoff – nicht nur Stoff, sondern auch Marmor, Holz und Stein. Aber vor allem Stoff spielt eine wichtige Rolle bei der ästhetischen Wirkung. Das herausragende Beispiel dafür, was Stoff in der klassischen Kunst vermag, hat der Bildhauer Rodin geliefert: Rodin fertigte zwei Plastiken des Schriftstellers Balzac. In der ersten Version war Balzac vollkommen nackt und sehr detailliert dargestellt – mit dünnen Beinen und dickem Bauch. Die zweite Balzac-Figur verhüllte Rodin mit einem Umhang. Er versteckte, ja, bedeckte die Gestalt und damit die Einzelheiten, und er betonte die bestimmenden Eigenheiten der Gestalt. Und genau das leisten wir auch mit unseren Projekten.
In Kalifornien und Japan ließen Christo und Jeanne-Claude Tausende blau-gelber Schirme aufspannen. 1995 ging ihr Lebenstraum in Erfüllung: die Verhüllung des Berliner Reichstags. Und zuletzt wurden 2005 im winterlichen New Yorker Central Park The Gates aufgestellt: die Tore.
Daniel Kramer, Kunstvermittler in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel:
Christo und Jeanne-Claude haben ein Werk geschaffen, das so populär geworden ist, so in der Bevölkerung wahrgenommen und akzeptiert, dass ich gerne das als Etikette aufkleben möchte. Das schaut man sich an, da lässt man sich verzücken. Das Werk ist monumental geworden.
CHRISTO: Jeanne-Claude und ich waren Macher. Wir haben niemals Urlaub gemacht, höchstens mal Arbeitsferien. Wir leben durch die Kunst. Jeanne-Claude hat einmal gesagt: Wir arbeiten zu Hause. Heute würde sie wohl sagen: Wir schlafen im Büro. Leben und Arbeiten waren bei uns nie getrennt. Jeanne-Claude ist jeden Moment bei uns. Da gibt es diese ununterbrochene Kreativität. Das ist ein großes Geschenk, weil ich diese Art zu arbeiten liebe. Ich habe keine Sekunde für unser Projekt Over the River zu verlieren.
Und wer wollte daran zweifeln – angesichts der Leidenschaft und Beharrlichkeit, mit der Christo und Jeanne-Claude ihre Vorhaben gemeinsam verfolgt haben.
CHRISTO: Ende 1996, Anfang 1997 haben wir entschieden, dass der Arkansas der schönste und geeignetste Fluss für Over the River ist.
2015 wollte Christo ohne Jeanne-Claude, aber mit Hunderten von Helfern Teile des Arkansas River im US-amerikanischen Bundesstaat Colourado „überdachen“ – und damit ein Versprechen einlösen, das sich beide vor vielen Jahren gegeben hatten: ihre Projekte auch dann fortzusetzen, wenn einer von beiden sterben würde.
CHRISTO: Unsere Projekte finden immer zu einer ganz bestimmte Jahreszeit statt. Over the River ist ein zweiwöchiges Sommerprojekt im August. Für die Aufbauten brauchen wir insgesamt 28 Monate, das heißt, wir schaffen es nicht mehr bis 2014.
Neben den ästhetischen Gesichtpunkten gab es viele praktische Dinge, die dafür berücksichtigt werden mussten:
CHRISTO: Wir haben uns für den Arkansas entschieden, weil er in einem bewohnten Tal liegt. Es gibt kleine Städtchen in der Gegend, Dörfer, Brücken, Fabriken, Wohnhäuser, Kirchen und auch Postämter. Im Süden verläuft der Highway 50, im Norden fahren die Züge der Union Pacific Eisenbahn. Das Tal wurde von Menschen gestaltet, die Berge sogar zum Teil weggesprengt. Für unsere Projekte wählen wir immer Orte aus, an denen Menschen leben. Wir brauchen ihre Infrastruktur. Straßen, Brücken und Häuser sind auch deshalb notwendig, um zu zeigen wie groß unsere Projekte sind, welchen Maßstab sie haben. Der Arkansas ist nur zwei Autostunden von Denver entfernt. Das erlaubt uns Arbeiter, Helfer und Materialien hier herzubringen – und natürlich auch die Besucher. Sie können von Frankfurt, London oder Paris nach Denver fliegen. Und alle, die unsere Kunst lieben, können hierher zu Over the River kommen.
An Stahlseilen befestigt sollten Hunderte von Stoffpaneelen horizontal frei schwebend hoch über der Wasseroberfläche gespannt werden. Und sie sollten dem Lauf des Arkansas folgen und zwar so, dass der Fluss weiterhin ganz normal befahren werden kann. Denn der Arkansas gehört unter Raftern zu den beliebtesten Gewässern der USA. Der Fluss genießt seines wilden Wassers wegen Kultstatus.
CHRISTO: Ende 1998 haben wir erste Gewebebahnen anfertigen lassen. Das Material ist locker gewebt, fast wie ein Teppich und durchsichtig. Von unten kann man sogar die Berge, die Wolken und den Himmel erkennen.
Geplant war, knapp 10 Kilometer des Arkansas River von dem transparenten Stoff zu überspannen. Die Stoffpaneele sollten auf dieser Länge nicht durchgehend installiert werden, sondern immer wieder „zu unterbrechen“. Die Unterbrechungen wären notwendig gewesen, um Hindernisse wie Bäume, große Felsen oder Brücken zu umgehen:
CHRISTO: Das Gewebe wird so gefaltet, dass es dem Lauf des Flusses folgen kann. Dabei haben wir entdeckt, dass der Stoff einen wunderbaren Schatten auf das Wasser werfen, und er immer in Bewegung sein wird. Auf meinen Zeichnungen ist das natürlich nur schwer abzubilden. Aber wir wissen das von unseren ersten Versuchen, dass vom Stoff eine unglaubliche Bewegung ausgeht.
1992 begannen die Vorbereitungen für Over the River. Als kongeniales künstlerisches Team hatten Christo und Jeanne-Claude auf der Suche nach dem richtigen Gelände 89 Flüsse und sieben Bundesstaaten aufgesucht und bereist. Hand in Hand, feilschend, streitend, stur bis ins Mark und sprunghaft wie spielende Kinder, eben noch neurotisch und nervtötend, dann wieder nett und charmant.
CHRISTO: Von oben sieht das Gewebe aus wie Wellen auf einem Ozean. Wir werden etwa 1000 Stoffpaneele aufstellen. Das Gewebe ist mit einer Aluminiumschicht überzogen. Deshalb werden die verschiedenen Tageslichter ganz zur Geltung kommen: ein zartes rosa am Morgen, platingrau am Tag und einen goldenen Sonnenuntergang.
Over the River sollte ursprünglich sowohl von oben zu Fuß oder mit dem Auto als auch von unten vom Flussufer und vom Boot zu sehen sein. Davor waren jede Menge Materialtests notwendig, Lobbyarbeit wurde geleistet, Kontakte zu Fischern, zu Naturschutzgruppen, den unzähligen politischen Gremien aufgenommen – vom kleinsten Bezirk bis hin zum „Bureau of Land Management“ der US-Regierung. Die Bundesbehörde hatte dem Projekt ebenso zugestimmt wie die demokratischen und republikanischen Senatoren und Kongressmitglieder des Bundesstaats Colourado. Dafür wurde eine 1.460 Seiten umfassende Projektbeschreibung den zuständigen US-Behörden vorgelegt. Ausgearbeitet bis zur letzten Verankerungsschraube lässt sich darin nachlesen, wie Over the River realisiert werden soll.
CHRISTO: Das ist der Blutzoll, den wir für unsere Projekte bezahlen. Für gewöhnliche Künstler ist es vermutlich der Horror, sich mit Behörden herumschlagen zu müssen, um für das eigene Kunstwerk eine Genehmigung zu erhalten. Aber für uns ist das kein Horror, sondern hat eine poetische Dimension. Stellen Sie sich vor: Unsere Projekte werden, lange bevor sie zu sehen sind, bereits kritisiert. Das ist wahrscheinlich die große Kraft unserer Arbeit, dass sie eine unglaubliche Energie freisetzen, die von uns nicht absichtlich inszeniert wird. Wir sind keine Masochisten, wir würden unsere Projekte auch gern mit weniger Aufwand und weniger finanziellem Risiko realisieren. Können Sie sich vorstellen, dass wir bereits 8 Millionen Dollar für Over the River ausgegeben hatten, ohne über eine Genehmigung zu verfügen? Das sind reale Risiken, nicht irgendetwas Imaginäres!
Doch 2017, drei Jahre vor seinem Tod, hatte Christo das Projekt schließlich aufgegeben. Nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten mit lokalen Organisationen wollte er nicht länger auf das Ergebnis warten. Zugleich war Christo tief enttäuscht über die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Ein Teil des Flusses gehört dem US-Staat. Er könne kein Projekt umsetzen, das diesem Landlord, diesem Landbesitzer zugutekommt und seine Kunstaktion für sich als Werbung vereinnahmen könnte, erklärte Christo 2017.
Wie alles anfing!
John Kaldor, australischer Stoffproduzent, Kunstmäzen und langjähriger Freund des Künstlerpaares: Christo und Jeanne-Claude flogen immer in unterschiedlichen Maschinen, wenn sie unterwegs waren. Wenn einer von ihnen abgestürzt wäre, dann hätte der andere ihre Projekte zu Ende zu führen können. Ihr Geheimnis war, dass sie sich unglaublich ergänzt haben. Ihre Stärke war als Team zusammenzuarbeiten. Es ist ja bekannt, dass Christo und Jeanne-Claude am selben Tag geboren wurden, im selben Jahr. Das ist doch ergreifend!
Zufall oder himmlische Fügung: Beide kamen am 13. Juni 1935 zur Welt. Christo Vladimir Javacheff in Bulgarien, Jeanne-Claude Denat de Guillebon in Casablanca.
CHRISTO: Ich muss meinen Eltern wirklich danken. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, zeichnete ich die ganze Zeit. Meine Mutter merkte das und sorgte dafür, dass dreimal pro Woche privaten Unterricht bekam. Ich habe das geliebt, Ölbilder, ich hatte meine eigene Malpalette.
JEANNE-CLAUDE: Bei mir war das ganz anders. Ich wurde Künstlerin erst durch die Liebe zu Christo. Wir lernten uns 1958 kennen, und wenn Christo Zahnarzt gewesen wäre, dann wäre ich Zahnärztin geworden. Ich war nicht das Kind einer Künstlerfamilie. Van Gogh gehörte für uns zur Avantgarde.
Mehrfach saßen sie mir in der Howard Street bis zu Jeanne-Claudes Tod gemeinsam gegenüber. Symbiotisch waren ihre Erzählungen und ihre Beziehung. Und bis auf drei Dinge machten sie alles gemeinsam: Sie saßen nie im selben Flugzeug, die Zeichnungen stammen alle von Christo und mit dem Steuerberater sprach nur Jeanne-Claude.
CHRISTO: Als ich ein kleiner Junge war, verkehrten in unserer Familie viele Künstler, Architekten, Schriftsteller und Schauspieler. Mein Bruder war ein berühmter Schauspieler. Ich spielte gerne Schach, keinen Fußball, manchmal Basketball.
JEANNE-CLAUDE: Bevor ich Christo traf, hatte ich mein eigenes Pferd, meinen eigenen Tennisplatz, ich spielte Bridge, tanzte jede Nacht mit jungen Offizieren. Außer Sport hatte ich nichts anderes zu tun – bis ich Christo traf.
CHRISTO: Ich studierte Kunst in Sofia. Das war zur Zeit des Kalten Krieges, Bulgarien war auf Seiten der Sowjetunion, es gab keine diplomatischen Beziehungen zum Westen. Die einzige Verbindung zum Westen war der berühmte Orient-Express, und die kommunistische Regierung war sehr daran interessiert, dass die Leute, die im Zug saßen …
JEANNE-CLAUDE: Entschuldige, der Zug hat nicht in Bulgarien gestoppt!
CHRISTO: … und sich die Landschaft anschauten …
JEANNE-CLAUDE: … durch die Fensterscheiben
CHRISTO: … also, dass die den Eindruck einer funktionierenden Landwirtschaft bekamen. Als Kunststudenten mussten wir am Wochenende in die Kolchosen fahren und den Bauern erklären, wie man die landwirtschaftlichen Geräte und Heuhaufen so aufstellte, dass alles sauber und hübsch aussah.
JEANNE-CLAUDE: Die Studenten haben die Bauern beraten!
CHRISTO: Stimmt, wir haben das nicht selbst gemacht, sondern nur beraten.
Sozialistischer Realismus im Erntealltag – für Christo eine Erfahrung in Sachen Wahrnehmung und Wirklichkeit, die er zum Thema seiner Kunst machen wird: verhüllen, um zu enthüllen.
CHRISTO: Ich habe an diesen furchtbaren Wochenenden etwas ganz Wichtiges gelernt: wie man mit ganz normalen Menschen außerhalb der akademischen Welt spricht. Das waren ganz gewöhnliche Bauern, und ich habe gelernt, was 10.000 Quadratmeter in einer Landschaft sind.
1957 gelang Christo die Flucht in den Westen. Über Wien kam er schließlich nach Paris. Geld hatte er wenig, finanziell über Wasser hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten. Ende 1958 bekam Christo den Auftrag für ein Portrait von Précilda de Guillebon, Jeanne-Claudes Mutter:
JEANNE-CLAUDE: Ich traf Christo zum ersten Mal Zuhause bei meiner Mutter. Damals wohnte man als junges Mädchen noch bei den Eltern. Meine Mutter hatte gehört, dass ein junger Künstler wunderbare Portraits für wenig Geld malen würde. Es hieß, er sei ein hagerer bulgarischer Flüchtling. An diesem Tag hatte ich Besuch von zwei Freundinnen, die wie ich 23 waren. Wir sahen Christo und kicherten die ganze Zeit: Hast du den Maler gesehen, seine großen schlanken Hände? Der ist bestimmt homosexuell! Als Christo unser Haus verließ, sagte meine Mutter, wie charmant Christo gewesen sei. Wir kicherten nur und antworteten: Aber Mutter, hast du nicht gesehen, er ist ein Homosexueller! Aber sie sagte nur: Mädchen, ihr wisst nichts über Männer. Und sie hatte recht.
Christo und Jeanne-Claude kamen sich näher: Er erteilte ihr Lehrstunden in Kunstgeschichte, sie dagegen unterrichtete ihn in Französisch.
JEANNE-CLAUDE: Christo nahm mich zuerst in den Louvre mit. Er fragte mich, ob ich das Museum kennen würde. Und ich antwortete: Na, klar, dort gibt es den besten Holzboden in ganz Paris! Als Kind sind meine Freunde und ich dort Rollschuh gelaufen. Hinter dem Rücken des Aufsichtspersonals haben wir uns die Dinger angeschnallt und los ging’s! Darauf Christo: Nein, kennst du die Kunst im Louvre? Ich sagte: Was, dort gibt es auch Kunst? Ich weiß nur, dass der Holzboden dort super ist! Und Christo sagte: Ok, dann lass´ uns mal dorthin gehen!
WOLFGANG VOLZ: Im Grunde genommen waren sie genauso verliebt wie in den allerersten Jahren, als sie sich kennengelernt haben in Paris.
Die Öffentlichkeit kennt ihn als „das Auge“ von Christo und Jeanne-Claude. Auf seinen Bildern hat Wolfgang Volz seit Jahrzehnten exklusiv das Werk der beiden US-Künstler festgehalten:
JEANNE-CLAUDE: Meine Mutter mochte ihn. Christo malte sie ein zweites, drittes und viertes Mal. Danach waren wir ineinander verliebt.
WOLFGANG VOLZ: Die beiden waren ein ideales Paar. Und sie waren trotzdem darüber hinaus die größten Kampfhähne, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Die konnten sich fünf Minuten unheimlich lautstark fetzen, um danach zu lachen, sich einen Kuss zu geben und dann war wieder alles Ok, denn in der Zeit, wo nun gestritten wurde, hatte sich ergeben, wie eben die Zusammenarbeit immer wieder zu neuen Lösungen gefunden hat. Und darin war Jeanne-Claude auch einfach unheimlich gut.
JEANNE-CLAUDE: Zwei Jahre lebten Christo und ich in wilder Ehe. Wir heirateten, nachdem unser Sohn schon laufen konnte. Meine Mutter hatte mich über ein Jahr nicht gesehen, schließlich sagte ich zu ihr: Mutter, ich bin richtig glücklich! Doch sie erwiderte: Mach mir nichts vor, du kannst nicht glücklich sein! – Mutter, was meinst du damit, fragte ich. – Natürlich kannst Du nicht glücklich sein, entgegnete sie, du hast ja nicht einmal einen Koch!
New York, New York!
1958: Zu Beginn seiner Karriere waren es Dinge des Alltags, die Christo künstlerisch zu verfremden versuchte: Stühle, Schuhe, Flaschen und Blechdosen – Gebrauchsgegenstände, die, erst durch Plastikfolie umwickelt, zu Kunstobjekten wurden. Öffentlichkeitswirksam erprobte Christo 1962 in Paris seine besondere Form der „lebenden Landschaften“: Mit einer Mauer aus Ölfässern blockierte er die Rue Visconti, eine kleine Seitenstraße an der Seine. Viele sahen darin einen Kommentar Christos auf den Berliner Mauerbau, andere dagegen eine Hommage an die Pariser Barrikaden der Commune. Christo und Jeanne-Claude heirateten danach. Beide waren 27 Jahre alt. Finanziell ging es ihnen schlecht, bekannt war Christo allenfalls einer kleinen Kunstszene. Voller Hoffnungen verlegte das Paar seinen Wohnsitz in die USA.
CHRISTO: Wir lieben New York! Als wir hierher kamen, sprachen Jeanne-Claude und ich kaum Englisch. Das war fürchterlich. Mein schlechtes Französisch dagegen hat mir nie viel ausgemacht. Wir kamen zuerst als Touristen nach New York. Im September 1964 blieben wir für immer. Drei Jahre lang waren wir illegale Einwanderer.
New York wurde ihre neue Heimat. Die Stadt strotzte in den 1960er Jahren vor Drogen, Hass und künstlerischen Experimenten. Es war eine Zeit der Desillusionierung und des Aufbruchs. Andy Warhols Factory und Artrock Bands wie Velvet Underground standen für ein pulsierendes kreatives Klima, das Künstler aus der ganzen Welt anzog:
JEANNE-CLAUDE: Die Stadt ist so wie wir: Alles geht hier schneller, man arbeitet viel, in Paris ist das anders. Wir lieben es, hart zu arbeiten.
CHRISTO: Jeanne-Claude hat immer gesagt, dass wir nach New York ausgewandert sind, nicht in die USA, und eigentlich direkt nach Manhattan.
JEANNE-CLAUDE: New York ist das Zentrum der Kunstwelt. Kreativität und Geschäft gehen hier Hand in Hand. Michelangelo und Leonardo arbeiteten schließlich auch nicht in Timbuktu.
2005 ging für das Künstlerduo ein Lebenstraum in Erfüllung: The Gates, die Tore im New Yorker Central Park: 7.500 Vinlyrahmen, alle knapp fünf Meter hoch, standen entlang der Parkwege. Mit 37 Kilometern hatte der Gates-Parcours fast Marathonlänge. An den oberen Torstangen wurden Stoffbahnen montiert – das Polyamid-Gewebe war sehr fest, damit der Wind hindurchwehen konnte und es bei Regen und Schnee beweglich blieb.
Frei schwebend in der winterlichen Stimmung New Yorks bildeten die safranfarbigen Tore eine Art schillerndes Dach, das sich mühelos gegen die scheinbar so übermächtigen Begrenzungen Manhattans durchzusetzen vermochte, wie Christo 2005 erklärte:
CHRISTO: Das ist der Grund, warum wir diese Projekte so mögen: Wir befassen uns mit dem öffentlichen Raum. Und sie vereinigen Elemente von Architektur und städtischem Leben. Mit all unseren Projekten, verursachen wir sanfte Störungen. Natürlich ist es ganz normal, wenn die Medien zu uns kommen. Sie kommen, weil sie meinen, sie artikulierten die öffentliche Meinung, wie der Raum umgestaltet werden sollte.
Dabei hätte der Kontrast gerade in New York nicht größer sein können: Die rechtwinklig bebaute Millionen Metropole am Big Apple mit ihren kilometerlangen Straßenschluchten – umsäumt von mächtigen Wolkenkratzern. Und mittendrin: der Central Park, dessen verschlungene Wege das städtische Raster durchbrechen – und der zugleich als Freizeitgelände genutzt wurde: von Spaziergängern und Skatern, von Musikern, Marathonläufern, Hunden und Hochzeitspaaren:
JEANNE-CLAUDE: Aber wissen Sie, was das Besondere an den Toren war? Es war das erste Projekt, bei dem wir keinen Jetlag hatten, weil es vor der Haustür lag und mit der Metro zu erreichen war.
CHRISTO: Es gibt diese menschliche Sehnsucht nach Dingen, die einzigartig sind und nicht wiederholbar. Das ist wahrscheinlich der zentrale Aspekt unserer Projekte: Menschen fühlen sich von ihnen angezogen, weil Sie sagen können: Ich war dabei!
JEANNE-CLAUDE: Das ist nicht wie bei den Olympischen Spielen, die alle vier Jahre stattfinden, wo man sagen kann: Wenn ich diese verpasse, fahre ich eben zur nächsten Olympiade.
CHRISTO: In unserem Jahrhundert werden wir überschüttet mit Banalitäten, die sich immer nur wiederholen: Blockbuster Ausstellungen, Walt Disney Filme, Olympische Spiele, im Grunde ist es immer das Gleiche. Aber Menschen wünschen etwas einzigartiges, dieses „Es war einmal“ wie The Gates.
Ein Kunstprojekt der Freude und Schönheit, das wiederholten Christo und Jeanne-Claude gebetsmühlenartig, ein Standardsatz, der bei keiner Pressekonferenz fehlen durfte. Genauso wie die kleinen safranfarbigen Stoffproben für die Besucher.
CHRISTO: Alle unsere Projekte sind einzigartig. Sie haben eine gewisse Irrationalität, weil sie von uns initiiert wurden. Wir übernehmen niemals Auftragsarbeiten. Wir sind von niemandem darum gebeten worden. Unsere Projekte sind wunderlich, und es wird sie niemals wieder geben.
Auch deshalb ließen Christo und Jeanne-Claude das gesamte Material, darunter 5.000 Tonnen Stahl, nach dem Abbau vollständig abtragen und recyceln. Schnäppchenjagd und Devotionalienhandel – Fehlanzeige. Künstlerische Objekte ließen sich nicht einfach funktionalisieren, verteidigt Christo.
CHRISTO: Nehmen Sie zum Beispiel Shakespeares berühmte Tragödie Titus Andronicus. Da sterben neun Leute in der ersten halben Stunde des Stückes. Mord ist keine schöne Sache, aber Titus Andronicus bleibt dennoch ein großartiges Theaterstück. Es ist töricht zu glauben, dass Kunst irgendetwas mit Moral zu tun habe.
Nicht mit Moral, wohl aber mit Ausdauer und Beharrlichkeit: 26 Jahre vergingen von der ersten Projektidee bis zum ersten Besucher. 1981 überreichte Christo seinen Projektantrag dem damaligen Bürgermeister. Das Begehren wurde abgelehnt – mit der Begründung, der Park sei verwahrlost gewesen und gehöre mit zu den gefährlichsten Orten in New York. Auch ließen sich Umweltauflagen durch ein derart besucherintensives Mammutprojekt nicht erfüllen. In der Folgezeit hatten Christo und Jeanne-Claude beharrlich an städtische Verwaltungstüren geklopft, Institutionen bearbeitet und erfolgreich Lobbyarbeit geleistet. Die Central Park Conservancy, verantwortlich für die Pflege des Parkes, wurde durch eine Spende gnädig gestimmt.
CHRISTO: Wenn Sie zum Beispiel einen Maler nehmen: Der hat seine Farbpalette, mischt gelb und orange, er stellt seine eigenen Farben her. Er ist gleichzeitig ein Chemiker, der lernen muss, wie man Farben mischt. Unsere Chemie sind die Bauern, die Cowboys, die Politiker …
JEANNE-CLAUDE: … die Präsidenten, die Bürgermeister …
CHRISTO: Wir mixen das alles zusammen!
JEANNE-CLAUDE: … um eine Genehmigung für unsere Projekte zu bekommen!
CHRISTO: Das ist wirklich dialektisch, aber ich bin kein Marxist. In all unseren Projekten mischen wir die physischen Komponenten miteinander, den Stoff, das Holz, den Wind, die Natur, all das zusammen ergibt unsere Form der Kunst!
Am Ende war The Gates sowohl ein ästhetisches und ein wirtschaftliches Unternehmen. Wie alle Christo-und-Jeanne-Claude-Projekte konnte auch das 21 Millionen Dollar teure Kunstspektakel ohne Sponsorengelder und Zuwendungen der Stadt New York realisiert werden. Dabei firmierte das Ehepaar als Ideengeber und Finanzier. Mit vollem persönlichem Risiko waren hier die Künstler als Unternehmer in eigener Sache tätig. Kunst und Ökonomie sind derart eng verzahnt, dass Public Relation, künstlerische Botschaft und wirtschaftliches Kalkül nicht immer auseinanderzuhalten sind. Ohnehin seien Kunst und Kommerz keine Gegensätze, befand Christo 2007 rückblickend im Interview:
CHRISTO: Es ist doch töricht, das Geschäftsleben schlecht zu reden, denn die Kunst ist wie das Geschäfte machen Ausdruck menschlicher Energie. Beide tragen auch irrationale Züge in sich. Selbst die verrückteste Art von Kunst hat eine Beziehung zum Geschäft. Das Geschäft gehört zum Leben.
Aber sollte die kreativ-künstlerische Arbeit nicht unabhängig von geschäftlichen Interessen sein?
JEANNE-CLAUDE: Warum, das war niemals so!
CHRISTO: In der Kunst steht es einem frei, kreativ zu sein. Aber auch im Geschäftsleben gibt es diese Freiheit. Heutzutage betonen wir die Gegensätzlichkeit von Kunst, Kreativität und Geschäftsleben. Aber in vielerlei Hinsicht sind sich diese Bereiche sehr ähnlich. Zum Beispiel kann Kunst nicht existieren, ohne konsumiert zu werden. Ich sage immer zu jungen Künstlern: Verkauft eure Arbeiten so schnell wie möglich! Denn das Gemälde, das Bild oder die Zeichnung arbeitet für euch! Eure Kunst existiert nicht, wenn sie nicht konsumiert wird!’ Nur so kommen Kunst und Geschäftsleben zusammen.
JEANNE-CLAUDE: Ein Musikstück, das von niemandem gehört wird, existiert auch nicht!
Muss ein Künstler immer gleich an die Verwertung seines Werkes denken?
CHRISTO: Das ist eine sehr romantische Vorstellung, aber für den Künstler ist es wichtig, dass er Spaß im kreativen Prozess hat.
JEANNE-CLAUDE: Ich glaube, Rubens war Botschafter und zugleich ein großer Künstler.
CHRISTO: Was Jeanne-Claude meint, ist, dass unsere moderne Gesellschaft eine romantische Vorstellung vom Künstler hat. Dass er Außenseiter ist. Aber das Bilder aus Hollywood. Natürlich gibt es Künstler, die Alkoholiker wurden, Modigliani etwa, aber Alkoholiker gibt es auch im Geschäftsleben.
Daniel Kramer von der Fondation Beyerler:
DANIEL KRAMER: Da ist ein absoluter Perfektionismus, damit es zu einem solchen magischen Moment kommt. Und damit sich diese Magie einstellt, dazu braucht es ganz viel Handwerkliches, nicht nur von Christo und Jeanne-Claude, sondern eben von einer riesigen Equipe. Oder eben auch das Auswerten, dass dann das Buch sofort auf dem Markt ist und bereits in alle Sprache übersetzt ist und bereits in Los Angeles und Tokio erhältlich ist, das gehört genauso dazu. Man kann ja nicht die Originale kaufen, sondern nur die Reproduktionen, die Fotos, die dann wieder ganz klar kontrolliert werden von den beiden. Also, es kann nicht jeder ein Foto machen und dann verkaufen. Auch das ist unter Kontrolle der beiden.
Zu dieser Kontrolle gehörte auch, dass die Gesetze des Kunstmarktes berücksichtigt wurden: Christo signierte die Werke allein – ansonsten trat Jeanne-Claude gleichberechtigt neben ihm auf. Ihr Anteil an der Durchführung aller Kunstaktionen wurde von beiden entschieden herausgestellt. Zusammen firmierten sie seit 1994 unter dem Künstlernamen „Christo und Jeanne-Claude“. Die Öffentlichkeit hatte jedoch in erster Linie Christo im Blick:
CHRISTO: Wenn die Arbeit getan ist, dann ist der kreative Prozess beendet. Dann geht es nur noch darum, sich um die Aufräumarbeiten zu kümmern, das Saubermachen, den Müll. Und dann, nach zwei Wochen, waren wir froh, dass die Sache vorbei war!
Mit ihren Kunstaktionen stellten Christo und Jeanne-Claude unser zweckfixiertes Kosten-Nutzen-Denken auf den Kopf. Den Künstlern bereitete das ein intellektuelles Vergnügen: den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen.
Nur das Verhüllte behält seine Schönheit!
JEANNE-CLAUDE: Denken Sie ja nicht, dass wir nur schöne Plätze verhüllt haben, falsch! Die verhüllte Küste in Australien war eine Müllhalde, gleichwohl war es eine sehr schöne Arbeit.
1969 verhüllten Jeanne-Claude und Christo zusammen mit 130 Helfern einen Küstenabschnitt in der Nähe der australischen Metropole Sydney:
JOHN KALDOR: Christo und Jeanne-Claude baten mich darum, eine geeignete Küste für sie zu finden. In meinen Augen waren beide außergewöhnliche Menschen. Die Genehmigung für die Verhüllung zu erhalten, war eine große Herausforderung. Es dauerte ziemlich lange, bis ich jemanden fand, der meine Anfrage nicht für völlig idiotisch hielt.
Treibende Kraft hinter dem Projekt war John Kaldor. Er wurde in Ungarn geboren und wanderte als junger Mann nach Australien aus. Kaldor wurde zu einem der engsten Freunde von Christo und Jeanne-Claude. Heute gehört der erfolgreiche Stoffproduzent zu den wichtigsten Kunstmäzenen down under:
JOHN KALDOR: Damals gehörte die Küste vor Sydney entweder der Armee, der Marine oder dem Staat. Ich war damals ein junger Mann; ich hatte kein Geld, niemand kannte mich. Trotzdem klopfte an die Tür der zuständigen Behörden und sagte: Ich würde Ihnen gerne unser Projekt vorstellen! Ja, hieß es dann, worum geht es? Ich brauche ein Stück der Küste! Können Sie sich die Gesichter der Militärs vorstellen? Die sagten: Bitte, was wollen Sie? Wir wollen einen Küstenabschnitt verhüllen! Ehrlich gesagt, die hielten mich für verrückt und schmissen mich sofort `raus. Schließlich wollte es der Zufall, dass ich ein Krankenhaus für Tropenkrankheiten fand. Der Direktor hielt das Ganze für eine verrückte Idee, aber er dachte sich wohl, damit seine Ausgaben für Versicherungen und Personal wieder reinzubekommen. Und er war Abenteurer genug, um uns eine Genehmigung zu geben.
Hinter dem Küstenabschnitt lag eine Mülldeponie. Davor gab aber einen herrlichen Sandstrand, der von Christo verhüllt wurde, es gab sehr hohe felsige Landzungen. Hinter einer dieser Landzungen befand sich so etwas wie ein Tal und die wurde – wie gesagt – als Deponie verwendet. Die Verhüllte Küste ging also bis zu dieser Müllkippe. Und jetzt kommt einer der bewegendsten Momente für mich: Als wir mit der Verhüllung begannen, da fragten uns die Arbeiter der Mülldeponie: Was zum Teufel macht Ihr da eigentlich? Das ist ja lächerlich! Aber Christo und Jeanne-Claude waren so charismatisch; sie sprachen mit den Arbeitern, und am Ende des Tages halfen sie uns. Stellen Sie sich das einmal vor: Die kümmerten sich zwei Wochen lang nicht um ihren Müll, sondern verhüllten mit uns die Küste!
Die Landschaft ist typisch für den Südosten Australiens: Sandstrand, verwitterte, pockennarbige Geröllbrocken, spitze, salzverkrustete Steine und schließlich bis zu 30 Meter hohe Klippen, an den die Wellen des Meeres sich brechen. Darüber angebracht ein erosionsfestes, weißes Gewebe. Wind, Wasser, Brandung, Felsenküste – Wrapped Coast war ein riesiger, lebender Organismus:
Die Verhüllung ließ alles zu einer einzigen Oberfläche verschmelzen. Manche Besucher beschrieben den Ort als eine imaginäre Mondlandschaft oder – für Europäer näherliegend – als etwas, dass in Schnee gehüllt war und den Untergrund verschwinden ließ. Für jeden war es eine große Herausforderung, auf der Verhüllten Küste zu gehen. Denn Sie müssen bedenken, es gab Löcher im Felsen, scharfe Kanten, über die man kriechen musste. Manchmal musste man um einen Abschnitt herumgehen, weil die Verhüllung eine gleichmäßige Oberfläche entstehen ließ.
17.000 Arbeitsstunden waren nötig, um 93.000 m² Synthetikgewebe und 56 Kilometer Seil zu verlegen. Damals konnten Christo und Jeanne-Claude noch auf kein erfahrenes Team zurückgreifen, wie bei späteren Projekten. Alles wurde nach der „try-and-error“ Methode realisiert – Versuch und Irrtum:
JOHN KALDOR: Die Verhüllte Küste gehörte zu Christos ersten und größten Arbeiten. Alles war damals noch neu. Wenn Christo und Jeanne-Claude heute ein Projekt vorbereiten, dann unterstützt sie ein ganzes Team von Mitarbeitern: Es gibt Fachleute für Umwelt, Ingenieure führen mehrjährige Untersuchungen durch, um herauszufinden, welcher Stoff sich am Besten eignet. Wir sind damals nach der Versuch-und-Irrtum-Methode vorgegangen, denn wir hatten nur wenig Geld. Damals halfen uns die Studenten ohne irgendeine Bezahlung. Heute ist das alles anders. Dafür war 1969 alles aufregender, ein wunderbares Abenteuer mit einem erfolgreichen Ende. Manchmal denke ich, wir hatten mehr Glück als Verstand, dass Niemand ernsthaft verletzt wurde!
WOLFGANG VOLZ: Und dann bin ich 1972 zur Vollendung des Valley Curtain nach Colourado gereist und habe im Prinzip die letzten Tage der Installation und dann den fertigen Valley Curtain fotografiert.
Über 40 Jahren arbeitet Wolfgang Volz als Fotograph, die meiste Zeit davon exklusiv für Christo und Jeanne-Claude. Der in Tuttlingen geborene Volz gilt heute als namhafter Wissenschafts- und Landschaftsfotograph. Zur ersten Zusammenarbeit mit Christo und Jeanne-Claude kam es 1972 im US-Bundesstaat Colourado. Dort entstand ein vielbeachtetes Landschaftsprojekt:
WOLFGANG VOLZ: Dann gab es für mich nach Valley Curtain eine totale Begeisterung für Running Fence. Es war ein 40 Kilometer langer Stoffzaun, sechs Meter hoch, der sich durch die Landschaft nördlich von San Francisco im Sonoma/Marin County geschlängelt hat.
JEANNE-CLAUDE: In Kalifornien, beim Running Fence, erinnere mich an einen Farmer, dessen Land wir unser Projekt brauchten. Er versuchte mir zu erklären, warum er uns sein Land nicht vermieten wollte. Unsere Kunst sei für nichts gut, nutzlos. Für ihn war ich ein Mädchen aus der Großstadt, eine Fremde. Ich ging mit ihm aus seinem Haus, und drumherum gab es überall Blumen. Und ich, die Idiotin, das Großstadtmädchen fragte ihn: Sind das Karotten oder Kartoffeln? Nein, sagt er, Blumen! Da hab’ ich ihn überrascht angeschaut: Das können aber keine Blumen sein, die sind ja nutzlos! Und er: Liebchen, ich hab’ die Botschaft verstanden!
WOLFGANG VOLZ: Natürlich, die Projekte sind ein kleines bisschen wie ein Schlachtfeld, man flitzt durch die Gegend, gerade beim Running Fence über 40 Kilometer verteilt, man sieht sich nicht unbedingt oft am Tag. Dann trifft man sich und die sagen: Ah, wir haben etwas gesehen, fahr’ nach dahinten hin, guck’ dir das einmal an. Das ist ganz toll. Ja, habe ich nicht gesehen, fahre hin, fotografiere ich. Oder wir gucken in den Kalender, wir haben das in der Vergangenheit immer so gemacht, dass wir versuchen Projekte so zu terminieren, dass einmal eine Nacht Vollmond ist. Dann geht es mit dem Mond los.
JOHN KALDOR: Große Kunst hat immer etwas Spirituelles – egal, ob es ein Gemälde ist, eine Skulptur, The Gates im Central Park oder die Verhüllte Küste. Es gibt etwas, was man nicht genau benennen können.
JEANNE-CLAUDE: Das hängt davon ab, was Sie unter Spiritualität verstehen – Religion? Nein, niemals! Die Freude an der Kunst? Ja!
CHRISTO: Jeanne-Claude will sagen, dass unsere Arbeit eine andere Ebene anspricht. Und genau das berührt die Leute. Alles um uns herum ist banal, der Müll, die Krisen, der Tsunami, der Krieg, alles ist gewöhnlich und alltäglich. Unser aller Leben ist so kompliziert geworden. Die Menschen wollen auf einem anderen Niveau leben.
Zusammen hatten Christo und Jeanne-Claude einen neuen Kunstbegriff entwickelt – einen, der nicht mehr allein auf das Kunstwerk zielte, sondern auf seinen Entstehungsprozess: von der Lobbyarbeit bei Politikern und Umweltverbänden bis zur Müllbeseitigung am Endes eines jeden Projektes:
CHRISTO: Die Leute waren alle sehr nett. In über 40 Jahren habe wir 19 Projekte realisieren könne…
CHRISTO: … und in 37 Fällen haben wir keine Erlaubnis erhalten!
JEANNE-CLAUDE: … keine Genehmigungen
CHRISTO: Daran waren nur wir selbst schuld, Jeanne-Claude und ich. Wir waren nicht klug und sensibel genug, wir konnten den Leuten nicht unsere künstlerischen Absichten vermitteln. Wir haben eine Menge Schwierigkeiten, aber daran sind wir selbst schuld.
CHRISTO: Wir haben niemals gelernt, wie man die Erlaubnis erhält, ein Projekt durchzuführen.
WOLGANG VOLZ: Jeanne-Claude war immer eigentlich diejenige, die Momente, wo man sozusagen gedacht hat, man ist jetzt vor die Wand gelaufen, man kommt nicht weiter, man weiß nicht mehr, wie es weitergehen kann, wo Jeanne-Claude durch einen absolut komischen Satz oder durch eine kuriose Idee die Situation gedreht hat und in eine vollkommen andere Richtung nachdachte. Jeanne-Claude war auch jemand, der in der heftigsten Diskussion durch ein Lachen oder durch eine Handbewegung sozusagen wieder alles geklärt. Sie war einfach ein Mensch, der mit viel Charme, aber auch mit einem klarem Kopf und Kraft sich manchmal durchaus auch unbeliebt gemacht hat bei vielen Leuten, weil sie eben so direkt und bestimmt war.
JEANNE-CLAUDE: Weil wir im Unterschied zu anderen Künstlern im richtigen Leben arbeiten, nicht im Museum oder einem geschützten Raum. Wir sagen nicht, dass andere Künstler so arbeiten müssen wie wir. Hieronymus Bosch hat die schrecklichsten Visionen gemalt hat, und er war doch ein großartiger Künstler. Francis Bacon, dessen Arbeiten sich mit traurigen und hässlichen Dingen befasste, war ein wunderbarer Künstler.
WOLGANG VOLZ: Das ging sogar soweit, dass ich bei den Surrounded Islands in Miami, wo Inseln zwischen Miami und Miami Beach in der Bucht mit einer Riesenmenge pinkfarbenen Stoff umgeben wurden, das waren damals 650.000 qm² pinkfarbener Stoff, das eigentlich der Hauptblickpunkte für das Projekt, die aus dem Hubschrauber waren. Und da Christo und Jeanne-Claude eigentlich überhaupt nichts mit Hubschraubern zu tun haben wollten, war es so, dass ich als einziger überhaupt die Inseln jemals so gesehen hatte, nämlich aus der Luft. Und Christo hat später diese Fotos genommen und daraus wurden die großen Bilder von Surrounded Islands, die sich nachher, nachdem das Projekt realisiert war, natürlich ergeben haben in der Realität. Aber meine Entscheidung, wann ich aus dem Hubschrauber diese oder diese Insel, es waren 12 Inseln, fotografiere, hat dazu geführt, dass Christo entsprechend die Bilder gemacht hat. Daran kann man sehr gut ablesen, was die Fotografie in der Arbeit für eine Rolle spielt.
1983 umkränzten Christo und Jeanne-Claude vor der Küste Miamis 11 künstlich geschaffene Mini-Inseln mit rosaroten Plastikplanen. Die Genehmigung der örtlichen Behörden kam nur zustande, nachdem man sich auf einen Kuhhandel geeinigt hatte: Die Christos verpflichteten sich, Poster im Gegenwert von 100.000 Dollar zur Verfügung zu stellen. Für die Verhandlungen engagierte das Künstlerpaar eine Reihe von Anwälten, darunter Joe Fleming aus Miami:
JOE FLEMMING: Christo und Jeanne-Claude kamen also in mein Büro. Und Christo fing sofort an mir zu erklären, dass er Künstler ist, dass er und Jeanne-Claude, seine Ehefrau und Partnerin, Surrounded Islands planen. Christo sprach furchtbar schnell, aber ich verstand sofort, um was es ging. Plötzlich drehte sich Jeanne-Claude zu ihm um und sprach ihn an: “Christo, du bist ein Narr, hör` auf zu reden! Schau’ dir Herrn Fleming an, der hat begriffen, um was es dir geht! Aber du redest immer von Surrunded Islands. Ich habe dir das doch schon mal erklärt: Es heißt Surrounded Islands!” Christo konnte das Wort nicht richtig buchstabieren. Dann schauten sie mich an und begannen zu lachen.
Auf Widerstand stieß das Projekt bei einer Gruppe, die sich den Schutz der Inseln auf ihr Banner geschrieben hatten. Die „Umweltaktivisten“ verlangten einen Test, um festzustellen, welchen Einfluss die pinkfarbigen Planen auf das Leben der Manatees haben würden, der Rundschwarzseekühe, die hier vor Miami leben. Bei den Versuchen stellte sich heraus, dass die Manatees es nicht nur vorziehen, unter dem Gewebe zu bleiben, sondern damit begannen, diesen schattigen Teil für ihre Liebesspiele zu nutzen:
JOE FLEMMING: Auf einer der Inseln nistete ein Fischadlerpaar. Das konnte zu einem Streitpunkt mit den Behörden führen, sollten die Fischadler durch das Projekt bei der Aufzucht der Jungen gestört werden. Ich erzählte Jeanne-Claude und Christo, dass es einen Professor für Ornithologie gab, einen der anerkanntesten weltweit. Ok, Joe, sagten die beiden, informiere ihn, denn wir wollen sicherstellen, dass alles korrekt abläuft. Also suchte ich Professor Oscar T. Owre auf, der an der Universität von Miami lehrte. Ich fuhr in einem Kanu mit ihm zur Insel und zeigte ihm das Nest. Wenn Sie herausfinden, dass die Vögel gestört werden, erklärte ich ihm, dann ist Surrounded Islands gestorben. Schließlich kam er zu dem Urteil, dass alles in Ordnung sei, die Fischadler würden hier mehr geschützt als irgendwo anders. Normalerweise mache ich so etwas nicht, sagte Dr. Owre, aber ich finde, Surrounded Islands ist ein wunderbares Projekt und eine sehr gute Sache für die Umwelt. Ich freue mich, vor Gericht auszusagen! Am Ende war es so, dass die Fischadler rund um die Uhr überwacht wurden, alles bezahlt von Christo und Jeanne-Claude. Es gab Beobachter mit Walkie Talkies, und die Bucht war während der zwei Wochen wohl einer der sichersten Plätze im ganzen Universum.
Dafür gab es andere Schwierigkeiten, bevor die Inseln ummantelt werden konnten: Bei den Testgeweben trat ein unterwarteter Effekt auf. Nach wenigen Tagen hatte die Sonne Floridas die Pink Farbe verbleichen lassen. Außerdem war das Synthetikgewebe zu schwer und versank, statt sich an der Wasseroberfläche zu halten:
WOLFGANG VOLZ: Jeanne-Claude hat manchmal die Ingenieure zur Weißglut gebracht, indem sie bei Besprechungen, wie man Surrounded Islands durchführt oder wie man bei The Gates den Stoff befestigt, die dümmsten Fragen aus ihrer Sicht gestellt hat und die Ingenieure richtig aufgeregt wurden. Aber genau durch diese Tatsache ist in vielen, vielen Fällen genau das entstanden, was überhaupt entsteht. Man muss sich bewusst machen, dass Projekte von Christo und Jeanne-Claude keine Projekte sind, wo man in einem Nachschlagewerk nachschauen kann, wie verhülle ich Bäume oder wie umgebe ich Inseln mit schwimmenden Stoff. Und da hat Jeanne-Claude immer die große Arbeit des Bösewichts mit dieser Rolle gefunden, wo sie immer alles in Frage gestellt hat.
JOE FLEMMING: Eines Tages gab es einen Radiobericht auf dem hiesigen kubanischen Exilradiosender. Darin wurde behauptet, das Projekt würde von einem bulgarischen Kommunisten geleitet. Außerdem sei Pink eine kommunistische Farbe. Die pinkfarbigen Inseln seien so riesig, dass Castro Miami bombardieren könnte. Stellen Sie das einmal vor! Dann, als Surrounded Islands fast vorüber war, saßen Jeanne-Claude und ich einem dieser exilkubanischen Reporter gegenüber, und der fragte: Jeanne-Claude, am Anfang hasste Sie jeder hier in Miami, und nun werden Sie gefeiert, jeder liebt Sie! Ist das nicht deprimierend? Und Jeanne-Claude antwortete in Ihrer typischen und brillanten Art: Nein, denn so herum ist es mir lieber!
Als Surrounded Islands bereits beendet war, bekamen wir einen Anruf aus dem Weißen Haus, Ronald Reagan war damals Präsident. Es hieß der Präsident wolle nach Miami kommen, um sich das Projekt anzuschauen. Aber ich sagte: Nein, das geht nicht, denn wir haben nur eine zeitlich befristete Genehmigung erhalten. Als Mitarbeiter des Präsidenten ist es Ihnen sicher möglich, eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken. Aber die Künstler wollen, dass nach zwei Wochen alles entfernt wird, weil das Kunstwerk seine Schönheit verliert. Nach dem Telefonat informierte ich Jeanne-Claude und Christo, um sicherzustellen, dass meine Entscheidung richtig war: Absolut, war ihre Antwort, es gibt keine Ausnahme!
Kompromisslos – das waren Christo und Jeanne-Claude zeitlebens ihrer gemeinsamen Arbeit. 1985 verhüllten sie in Paris den Pont Neuf in champagnerfarbenes Tuch. Auch dort gab es zahlreiche Widerstände. Christos und Jeanne-Claudes unaufdringliche Hartnäckigkeit, ihre einfallsreiche Überzeugungskraft und einnehmende Freundlichkeit trugen schließlich den Sieg davon: Der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac musste auf Druck von Präsident Francois Mitterand dem Unternehmen Pont Neuf zustimmen:
CHRISTO: Aus diesem Grunde machen wir all die Projekte, wie bei der Pont Neuf: In Paris haben wir die alten Skulpturen, die Ornamente des Pont Neuf versteckt. Als wir die Brücke verhüllt hatten, war nur noch die Abstraktion oder das Wesen einer Brücke zu sehen. Alles um den Pont Neuf herum sah trivial und banal aus – verglichen mit dem Gewebe, den Wölbungen und der Brückenbögen.
Der Himmel über Berlin
23. Juni 1995: 500.000 Menschen waren gekommen, um an einem der spektakulärsten Momente deutscher Parlamentsgeschichte teilzunehmen: die Verhüllung des Berliner Reichstags. Über 100.000 Quadratmeter silberfarbenes Tuch umgaben das mächtige Parlamentsgebäude, gehalten von 15 Kilometer leuchtend blauem Seil, damit die riesige Stoffmenge ästhetisch reizvoll drapiert werden konnte. Ein speziell angefertigtes Polypropylen-Gewerbe sorgte dafür, dass der Reichstag darunter nur noch schemenhaft an seinem Profil erkennbar war, so Christo damals, 1995, im Interview:
CHRISTO: Für das Reichstagsprojekt benutzen wir einen sehr dicken Stoff. Doppelt soviel wie die Oberfläche des Gebäudes. Wir wahren einen Abstand von einem Meter zum Gebäude. Dadurch kann sich der Stoff mit dem Wind bewegen. Das Gebäude erscheint wie ein lebendes Objekt. Wie ein Wasserfall ergießt sich der Stoff vom Dach des Reichstages und ruft einen spielerischen, dynamischen Eindruck hervor, alles andere als statisch. Und er ist die ganze Zeit über in Bewegung.
WOLFGANG VOLZ: Wenn Christo Collagen anfertigt, dann tut er das immer vorher, also bevor das Projekt vollendet ist. Und diese Arbeiten entstehen zum größten Teil auf der Basis von Fotos von mir. Wenn wir zum Beispiel beschließen, wir würden gerne den Reichstag verhüllen, dann fuhren wir 1977 das erste Mal nach Berlin, Christo und ich und wir haben den Reichstag fotografiert. Ich habe damals Aufnahmen von rechts, links, oben, unten, so viel es überhaupt möglich war. Wir sind sogar noch in Ruinen hochgeklettert, die damals noch standen. Und Christo nimmt diese Fotografien vor allem schwarz-weiß, damals ausschließlich schwarz-weiß als Basis für seine Originalarbeiten. Das kann sogar so weit gehen, dass Christo die physische schwarz-weiß Fotografie nimmt und auf diesem Bild mit Emaillefarbe und mit Kohle und Pastellkreide dann den verhüllten Reichstag malt, zeichnet. Und damit ist meine Arbeit an der Entstehung des Projektes ganz intensiv, weil ich dadurch die Standpunkte, wie man ein Projekt sieht, ja ganz erheblich mitbestimme.
Die Erfahrung des Kalten Krieges war für Christo und Jeanne-Claude das entscheidende Kriterium, den Berliner Reichstag zu verhüllen:
CHRISTO: Ich wurde in Bulgarien geboren und bin aus Osteuropa in den Westen geflüchtet. Ich war begierig Projekte zu verwirklichen, die eng mit einer Ost-West-Begegnung in Beziehung standen. Der einzige Ort in der Welt, wo für Architekten, Künstler oder Bildhauer diese Begegnung stattfinden konnte, war die Großstadt Berlin. Und das einzige Gebäude, das unter dem Hoheitsrecht der alten Mächte lag, den Ost- und den Westmächten, war der Reichstag. Wäre ich also in Nebraska zur Welt gekommen, dann hätte es keinen Grund gegeben, den Reichstag zu verhüllen.
Seit 1961 beschäftigten wir uns mit dem Reichstag. Seine Lage hatte durch das Ende des Kalten Krieges eine zusätzliche Bedeutung erfahren. Das machte das Reichstags-Projekt gerade so lohnend. Bis 1989 war der Reichstag ein Mausoleum, ein Gebäude ohne Zukunft – wie im Dornröschenschlaf. Den Reichstag in dieser Übergangsphase verhüllen zu können, das war eine aufregende Sache. Wir konnten diesen Wandel sichtbar machen.
Über 30 Jahre lang hatten Christo und Jeanne-Claude versucht, eine Genehmigung für das Projekt zu erhalten. Zu den Befürwortern gehörte Willy Brandt. Nach dem Treffen mit dem Regierende Bürgermeister von Berlin und Bundeskanzler 1976 war Jeanne-Claude Feuer und Flamme für ihn. Dann fiel 1989 die Mauer. Berlin wurde Sitz des gesamtdeutschen Parlaments. Christo und Jeanne-Claude ahnten, dass es ihre letzte Chance sein könnte, das Projekt zu verwirklichen. Sie versuchten, die Bundestagsabgeordneten auf ihre Seite zu bringen. Wolfgang Volz damals:
Helmut Kohl hielt den Verhüllten Reichstag für eine PR-Aktion und nicht für Kunst. Christo und Jeanne-Claude sagten in einem Zeit-Interview, dass alles zu Kunst werden könne – von einer bescheidenen Blume bis hin zum Bild Gottes und Jesu Christi. Und sie endeten mit dem ihnen typisch doppelbödigen Humor. Sie könnten nicht glauben, dass der Reichstag wichtiger sei als Gott.
Es gab jede Menge Einwände gegen das Projekt. Zum Beispiel würden viele Menschen die Reichstagsverhüllung gar nicht verstehen. Und überhaupt sei der Reichstag ein antidemokratisches Symbol:
JEANNE-CLAUDE: Das ist völlig falsch, weil der Reichstag vor über 100 Jahren als das älteste demokratische Parlament in Europa gebaut wurde – mit einer Ausnahme: der Schweiz. Die Leute denken immer nur an die schlechten Jahre des Gebäudes, zuerst aber gab es die guten Zeiten.
Die Abgeordneten des deutschen Bundestages führten eine kontroverse Debatte über alle Parteigrenzen hinweg. Die Verhüllungsgegner setzten vor allem auf staatstragende Argumente: Das viele Geld wäre besser und sinnvoller investiert in soziale Einrichtungen. Die Würde des Parlamentes werde verletzt:
Der damalige CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble:
WOLFGANG SCHÄUBLE: Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen einen, sie sollen zusammenführen. Eine Verhüllung des Reichstags würde aber nicht einen, sie würde nicht zusammenführen, sie würde polarisieren.
Vom Fraktionszwang entbunden entschieden die Abgeordneten in namentlicher Abstimmung. Das Ergebnis verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth:
RITA SÜSSMUTH: Mit Ja haben gestimmt 295, mit Nein 226. Der Antrag ist angenommen!
WOLFGANG VOLZ: Ja, genau, Süssmuth hatte die Wette gegen sich selbst verloren und musste eine Flasche Sekt spendieren.
Erinnert sich Wolfgang Volz an Rita Süssmuths Reaktion. Etwa 13 Millionen Dollar kostete der verhüllte Reichstag. Christo und Jeanne-Claude mussten dafür Geld bei den Banken aufnehmen, Zinsen zahlen, es gab keine staatlichen Fördergelder, keine Zahlungen von der Industrie, keine Schenkungen. Finanziert wurde das Projekt allein durch den Verkauf von Originalen: Zeichnungen, Skizzen, Collagen, Modelle, Lithographien, die Christo in seinem New Yorker Studio angefertigt hatte. Bezahlt wurde davon das silberfarbene Polypropylen-Gewebe, das den historischen Baukörper umgab. Produziert wurde es in Nordrhein-Westfalen.
Firmenchef Stephan Schilgen:
Ein Stahlgerüst zur Ummantelung musste montiert werden, bevor der Stoff herabgelassen werden konnte: Die Arbeiter bekamen genaue Anweisung, um selbst kleinste Verzierungen am Gebäude zu nicht zu beschädigen. Extra gefertigte Stahlkäfige schützten die Dachaufbauten und die dort befindlichen Skulpturen.
Das Dach des Reichstages diente zunächst als Arbeitsplattform. Von dort aus wurden erst die beiden Innenhöfe verhüllt. An den vier Außenseiten waren Bergsteiger tätig, die die einzelnen Stoffbahnen dann abrollten:
Neben 90 ausgebildeten Arbeitskräften wurden weitere 120 Helfer für die Verhüllungsarbeiten beschäftigt. Mit Hilfe von Computersimulation konnten Christo und Jeanne-Claude jede einzelne Falte für den Verhüllten Reichstag planen und vorher bestimmen. Das Gewebe war sehr fest, damit der Wind hindurchwehen konnte und der Regen es nicht unbeweglich machte. Dafür sorgten insgesamt 10 Kilo per Dampfdruck aufgetragenes Aluminium. Die Wahl des silberfarbenen Gewebes begründete Christo mit dem grauen Himmel über Berlin. Die hohe Reflexionsfähigkeit des Materials sollte so auch an Regentagen den Reichstagsklotz luzide erstrahlen erscheinen lassen.
Die Medien staunten über die friedvolle Atmosphäre, selbst bei größter Enge bleiben die Besucher höflich und gelassen. Von überall her tönte Musik: afrikanische Trommler, indische Sitarspieler, eine Dixieland-Band, eine Klezmergruppe, Celli, Klarinetten, Geigen. Tausende von Familien picknickten auf der Wiese vor dem Reichstag:
Wie alle Christo und Jeanne-Claude-Projekte war auch der verhüllte Reichstag zeitlich begrenzt und nur 14 Tage zu sehen. Das Berliner Sommermärchen von 1995 blieb für die fünf Millionen Besucher aus aller Welt ein unwiederholbares Kunsterlebnis.
Am Ende war es Christo und Jeanne-Claude gelungen, die massige Herrschaftsarchitektur des Berliner Reichstags in ein Sinnbild der Anmut und Freude zu verwandeln. Vor allem aber hatten zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Bundestages die Abgeordneten über Kunst debattiert. Insofern wurden Gegner wie Befürworter des Projektes gleichermaßen zu einem Bestandteil des Kunstwerkes.
Das Vermächtnis: L’Arc de Triomphe
CHRISTO: Viele Leute fragen mich: Was ist Ihr Vermächtnis?
2010, kurz nach dem Tod seiner Frau:
Ich sage dann immer: Überleben werden nicht Christo und Jeanne-Claude, sondern unsere Projekte. Wir haben unsere Zeichnungen an Museen und Sammler verkauft. Wissen Sie, wenn unsere zeitlich begrenzten Projekte beendet sind, dann sammeln wir alles, was dazu gehört: Kabel, Stoffe, Dokumente, Fotos, Maßstabsmodelle. Daraus entstehen Dokumentationen mit 350 bis 500 Teilen. Jeanne-Claude hat immer gesagt, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind und deshalb einen Ort für diese Sammlungen finden sollten. Die Smithsonian Museum in Washington D.C. hat beispielsweise unsere Running Fence-Dokumentation angekauft. Etwas Ähnliches haben wir mit dem Verhüllten Reichstag vor. Es gibt annähernd 400 Ausstellungsstücke. Die sollten in Deutschland bleiben, denn es war ja ein deutsches Projekt. Das ist für kommende Generationen eine wichtige Quelle.
Ihre Projekte polarisieren – bis heute: Für die einen waren und sind Christo und Jeanne-Claude Scharlatane, für ihre Fans gehören sie zu den bedeutendsten Gegenwartskünstlern unserer Zeit – und vielleicht auch darüber hinaus. Denn noch immer gibt es ein Projekt, das darauf wartet, realisiert zu werden: die Verhüllung des Pariser Wahrzeichens, des Arc de Triomphe. Wegen der Covid-19-Pandemie 2020 musste das Projekt auf den Herbst 2021 verschoben werden. Es sei eine Dankesgeste an die Stadt, die ihn, den Flüchtling aus Bulgarien, 1957 aufgenommen hatte, erklärte Christo kurz vor seinem Tod. Nun ist aus dieser Vision ein Vermächtnis geworden. Denn am 31. Mai 2020 ist Christo gestorben. Trotzdem wird das Projekt auch ohne ihn, aber nach seinen akribischen Vorgaben realisiert.
Am Place de Charles de Gaulles mit seinem berüchtigten Kreisverkehr herrscht wie immer Verkehrschaos. Insgesamt zwölf Straßen laufen hier sternenförmig zusammen. Auch im Zentrum des Platzes, am berühmten Triumphbogen, herrscht derzeit noch geschäftiges Treiben, damit rechtzeitig zur Eröffnung der Kunstaktion am 18. September alles fertig sein wird. Zugleich wird posthum ein Versprechen eingelöst, das sich Christo und Jeanne-Claude zu Lebzeiten gegeben hatten: gemeinsame Projekte auch nach ihren Tod fortzusetzen.
“Der verhüllte Arc de Triomphe ist das erste Projekt, das posthum realisiert wird. Wir werden es genauso umsetzen, wie Christo es zu Lebzeiten entworfen hat”, erklärt Projektleiter Jonathan Henery, Christos Neffe und seit vielen Jahren der Kopf des künstlerischen Teams.
Der von Napoleon I. zur Verherrlichung seiner Siege 1806 in Auftrag gegebene Triumphbogen – in dem auch das Grabmal des unbekannten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegt – wird mit einem blauen Gewebe, das mit silberner Farbe überzogen ist verhüllt. Das Ganze wirkt so, als hätte man eine Aluminiumschicht auf den Stoff gesprüht, ganz ähnlich wie beim verhüllten Reichstag 1995, aber mit dem Unterschied, dass das recycelbare Gewebe beim Arc de Triomphe blau ist. Je nach Lichteinfall wird das Gebäude farblich changieren, mal strahlend weiß, mal tiefblau, dann wieder mehr grau. Außerdem 3.000 Meter rotes Seil, mit dem das Gewebe nach Christos Vorgaben drapiert wird.
In Paris sorgt jetzt ein speziell angefertigtes Polypropylengewebe dafür, dass der Triumphbogen nur noch schemenhaft an seinem Profil erkennbar sein wird. Mit Hilfe von Computersimulationen hatte Christo jede einzelne Falte vorher geplant. Anschließend wurden 25.000 Quadratmeter des Kunststoffgewebes von Näherinnen in Mecklenburg-Vorpommern in elf Bahnen zugeschnitten. Jede von ihnen ist 52 Meter lang und wiegt fast eine Tonne. Auch deshalb wurden extra flache Stahlkäfige gefertigt, um die Dach- und Seitenornamente des Triumphbogens sowie kleinste Verzierungen am Gebäude zu schützen:
JONATHAN HENERY: Christo war mehrfach in Paris, um alles zu testen; er hat das Gewebe ausgewählt, die Farben, den Durchmesser des Seils; sogar den Faltenwurf des Gewebes hat er exakt festgelegt und wie es vom Seil am Arc de Triomphe gehalten werden soll.
Wie immer hat Christo sein Kunstwerk aus der eigenen Tasche bezahlt. Das 14 Millionen Euro Kunstspektakel kommt ohne Sponsorengelder und Zuwendungen der Stadt Paris oder der “Grande Nation” aus. Finanziert wird es allein durch den Verkauf von Originalen: Zeichnungen, Skizzen, Collagen, Lithografien, die Christo in seinem New Yorker Studio vor seinem Tod angefertigt hatte.
Unberührt von Christo und Jeanne-Claudes Kunstaktionen blieb bislang wohl niemand – vielleicht mit Ausnahme des eigenen Sohnes. Der war an keinem der elterlichen Projekte beteiligt:
CHRISTO: Unser Sohn geht seine eigenen Wege. Er ist ein unromantischer Aktivist, kämpft für Menschenrechte, ist Tierschützer. Wenn Sie mit ihm telefonieren, würde er Ihnen zwei Stunden lang erklären, was alles falsch läuft. Schon mit 14 Jahren ging er für ein halbes Jahr nach Afrika und arbeitete in Kenia für einen berühmten amerikanischen Anthropologen. Dort hat er ein Buch über eine besondere Affenart geschrieben. Heute spricht er mehrere Sprachen. Er weiß viel über die Spezies Menschen und die Natur. Sechs Monate im Jahr reist er in der Welt herum, besucht gefährliche Orte. Jeanne-Claude war immer besorgt deshalb. Unser Sohn hat Bücher veröffentlicht, Filme gedreht. Wissen Sie, er will die Welt retten!
Aber wollen seine Eltern das nicht auch, fragte ich Christo kurz vor seinem Tod?
CHRISTO: Er hat seine eigenen Vorstellungen vom Leben, wir haben die unsrigen. Aber zum Glück ist er kein Banker geworden!
Unser Autor Michael Marek, geboren 1960, lebt und arbeitet als freier Journalist und Autor in Hamburg. Veröffentlichungen vor allem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in D, A, CH, dazu kommen zahlreiche Reportagen und Features zur Zeit- und Kulturgeschichte. Außerdem ist er für (inter-)nationale Zeitungen und Zeitschriften tätig.