Alles fängt mal klein an. Daumengroß, keine sechs Zentimeter hoch, geriet das Figürchen aus Wachs zwischen den Händen. Doch Daumengroß lernte mit der Zeit das Laufen und wurde zum ausgewachsenen Riesen: Mann im Wind fast dreieinhalb Meter, Mann ohne Gesicht viereinhalb, Mann mit Fahne fünf Meter dreißig groß. Sie alle bevölkern jetzt das Kunsthaus Bregenz in einer wunderlichen, großartigen, grandios abgründigen Ausstellung. Oder sie grüßen die Zwergpassanten in der Bregenzer Fußgängerzone.
Der gläserne Kubus am Bodenseeufer, ein frühes Meisterwerk von Peter Zumthor aus den Jahren 1990 bis1997, erscheint dabei wie ein monumentaler gläserner Schrein, dann wieder wie ein Puppenheim für Großskulpturen. Die Maßstäbe scheinen sich zu verschieben, wirken verzerrt und gedehnt, dann wieder spielzeugklein, vielleicht um uns an die eigenen Gesetze der Kunst zu erinnern.
Vor den Eingang hat Schütte ein auch nicht ganz kleines Reptil platziert. Das Bronzemonster (380x410x215cm) bläst aus den Nasenlöchern mächtig heißen Dampf und blickt so traurig drein als seis ein Bruder des legendären Halbdrachens Nepomuk aus der Augsburger Puppenkiste. Aufgrund seiner überaus ungewöhnlichen Freundlichkeit wurde Nepomuk von der Drachengesellschaft ausgegrenzt. Hier steht er vor der Tür. Drinnen öffnet sich eine Ausstellung, die schnell jede Dimension verschiebt, von riesengroß zu liliputklein, bedeutend zu beiläufig; ernst und spielerisch, banal und transzendental, kinderleicht und tonnenschwer, schwertragisch bis märchenhaft, alles liegt schön beisammen und kippt doch munter hin und her – ganz wie große Kunst es manchmal schafft.
Die Vorstellung kann beginnen
Der Wanderzirkus Schütte macht in diesem Sommer in Bregenz Station. Seit über dreißig Jahren tourt er nun schon durch die Städte und Gemeinden und sein dezenter Direktor stellt uns sein Repertoire in immer neuen Zusammenstellungen und Verpuppungen vor. Dabei geht es ihm darum, bekannte Nummern, erprobte Werkgruppen wie experimentelle Kunststücke, in den verschiedensten Arenen der Kunst auf ihre Wirkung hin zu prüfen und dem erstaunten Publikum vorzuführen. Die Aufführung selbst erscheint als gewagtes Spiel, weniger als Bravourstück. Das Scheitern ist geheimer Hauptdarsteller. Sie gelingt, umso mehr es ihr erfahrener Arrangeur vermag auf den je besonderen Ort der Inszenierung einzugehen und gleichzeitig zu erkennen, was sein Publikum dort in sich rapide verändernden Zeiten überhaupt aufzunehmen bereit ist. Aber gerade nicht in Form einer Anpassung, vielmehr als eine Herausforderung und Zumutung. Darin zeigt er sich als wahrer Spross einer Ahnengalerie der Verblüffungskunst. Einer Kunst, die dem Volk etwas entgegensetzt, was es gar nicht erwartet und gerade deshalb, wenn es sich denn auf das Spiel einläßt, bereichert wird: Schau an! – so fremd, so anders könnte sie aussehen, deine Welt. „Das Konzept `der Verbesserung der Welt´ bleibt interessant“, hat dieser große Zauberkünstler einmal gesagt.
Es regnet an diesem Tag in Strömen, die Bronzemänner stehen bis an die Knie in Pfützen. Ab ins Kunsthaus. Gleich grinst uns das feuerrote Gesicht einer kolossalen Fratze an. Zwei Antennen stecken in ihrem Schädel. Wir verziehen uns unters schiefe Dach eines hölzernen, knallroten Pavillons – Frau Mahlzahns Pagode? hochalpine Schutzhütte? oder der neue Museumsshop? Ach nein, es ist nur, welche Erleichterung, die „Bibliothek“, in der sich zum Glück (fast) alle Schütte Kataloge finden. Wir setzen uns erst mal hin, lesen oder blättern lustig herum. So machen wir uns vertraut mit dem weit verzweigten Werk des Künstlers und teilen überdies einer seiner Lieblingsbeschäftigungen: das Lesen.
Dann aber die steilen Treppen hinauf in die drei Obergeschosse. Jede Etage eine neue Überraschung, ein neues Erstaunen. Acht schwere Tische mit acht schweren Frauen, darüber acht Gestelle mit acht Architekturmodellen, ganz oben fünf riesenhafte junge Männer. An den je 100 Metern Sichtbeton ringsum, große farbige Holzschnitte, die neue Serie Fake Flag (Keramik, 1. OG), eine Galerie der Blues Man (Aquarelle, 3. OG). Als Dreingabe zwei, drei Glasköpfe.
Das Vertrauen in das Geschick der eigenen Finger und Hände findet eine Fortsetzung in den von Schütte beschäftigen Werkstätten. Zu Recht lobt er seine „Weltmeisterleute“, die Glasbläser und Modellbauer, die aus der Gießerei, Töpferei, Schreinerei und Druckerei. Sie alle braucht der emsige Handwerker, der das Spiel liebt und das Arbeiten mit den eigenen Händen ernst meint. Er bastelt und knetet, bemalt und bepinselt unentwegt, was ihm unter die Finger kommt und hält es wohl nicht ganz zu Unrecht für ein „Gegengift“ gegen die unheimliche Globalisierung. Schüttes Festhalten am Handwerk ist vielleicht auch ein Gegengift gegen die allerorten betriebene Entgrenzung der Kunst. Das ist sein Spiel nicht. Der alte Zauberer erweist sich am Ende noch als Klassiker.
Schütte nutzt uralte wie modernste Technik, selbst „Genosse Computer“ ist mit von der Partie. Inszenieren kann dieser routinierte Puppenspieler mit traumwandlerischer Sicherheit. Pro Etage ein Tag, dann stand die Schose. Zumptors strenge, wohlproportionierte Ausstellungkiste diente ihm als Vorlage und Herausfordrung. „Wenn man frei improvisiert“, so Schütte eher beiläufig, “muß man zusehen, daß das Butterbrot immer aufs Gesicht fällt.“ Oder simpler: „Stimmt, oder stimmt nicht.“ Stimmt!
Helden im Wind
Was 1982 mit einem Wachsfigürchen begann, steigerte sich 2009 zu einer 5,80 Meter hohen Bronzeskulptur für seine Heimatstadt. Der „Mann im Matsch“ steht seitdem vor der Zentrale der Landessparkasse zu Oldenburg. Die Bronzeversion wiegt immerhin zehn Tonnen.
Doch offenbart sich das Ingenium dieses Ausnahmekünstlers am besten in der immer neuen, immer wieder erstaunlichen Zusammenschau verschiedenster Werkblöcke und Werkserien, deren unterschiedlicher Materialien, Modi, Formate und Gattungen. Aus einem immer verblüffenden Mit- und Gegeneinander läßt der Künstler seinen ganz eigenen Schütte-Kosmos entstehen. Spielerische Ironie und stupende Einfachheit treffen auf einen ausgefeilten Pragmatismus. Daraus entspringt die eigene Schütte-Poesie: von den zarten Blumenaquarellen zu den Bronzeriesen; von den Architekturmodellen zu den Glasköpfen, zu den Keramikarbeiten.
Drei Helden im Wind sind ganz oben zu einer zentralen Gruppe zusammengestellt. Bei allem Pathos und aller verbrauchten Pose, auch sie stehen wie verloren im Wind, stehen da erschöpft, zerzaust und verzerrt und sind doch gewaltig, hünengroß. Als stünden sie da im Rund, ratlos und trauernd um einen Verlust. Denn bei aller Kraft und Größe, auch sie stecken im Matsch fest.
Trotzig und anmutig, aggressiv und voll praller Erotik antwortet eine Etage darunter die Gruppe der überlebensgroßen Liegenden, Frauentorsi allesamt. Auch sie sind nach winzigen Knetmodellen (Keramikbozzetti) in Bronze, Stahl und Aluminium gegossen, mal auf Hochglanz poliert, mal samtiges Rost, mal mit rotem oder schwarzem Chamäleonlack überzogen.
Von der luziden Aquarellfarbe bis zu Bronze und Stahl, von Glas zu Keramik zu Holz und Papier – allein das Spektrum der Materialien zeugt von Gefühlslagen, denen wir uns in diesem sonderlichen Panoptikum ausgesetzt sehen und nie ist eindeutig, auf was wir uns da einlassen, wie wir, Winzlinge oder Giganten zwischen den Ausstellungstücken, reagieren sollen. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, eine Emotionserschütterungsbahn, in die wir hinein gezogen werden. Es läßt die Haare zu Berge stehen und zieht uns den Boden unter den Füßen weg.
Es ist der lange Atem Schüttes, der sich auch durch diese Vorstellung zieht. Werkgruppen, die er schon als Student an der Düsseldorfer Kunstakademie (bei Fritz Schwegler und Gerhard Richter) aufgreift, finden sich hier wieder. Was er als Sechsundzwanzigjähriger in Wachs knetet, sieht man in monumentale Größen gedehnt. Die winzige Wachsfigur konnte auf ihren Beinen nicht stehen, also steckte Schütte sie in eine Dose mit Creme. Aus dieser Verlegenheit heraus, kommen die Monumental-Männer 38 Jahre später „im Matsch“ zu stehen. Schütte gibt ihnen bisweilen eine Wünschelrute in die Hand, frei nach Eichendorffs Gedicht. „…Schläft ein Lied in allen Dingen.“
Von der Poesie der Modelle
Nicht anders bei den Architektur-Modellen. Seit den frühen 1980er Jahre verfolgt Schütte diese Werkgruppe, anfangs aus der Auseinandersetzung mit öffentlichen Bauten entwickelt. „Speer’sches Pathos und postmoderne Ambitionen prägen die aggressive Symbolik ihres Auftritts. Doch Schüttes Entwürfe sind nicht bloß Karikaturen, sie eröffnen eine Erzählung. Der öffentliche Raum, mit dem er sich in zahlreichen Arbeiten beschäftigte, ist der Ort der Auseinandersetzung zwischen Menschen und damit der Ort, an dem das vom Künstler inszenierte Drama stattfindet. Hier erhalten die Dinge ihre Bedeutung, hier werden die schicksalshaften Rollen gespielt. Es geht um die Symbolik und Anmaßung der Macht – um die von ihr ausgehende Bedrohung und zugleich um ihre Lächerlichkeit…“, schreibt etwa Dieter Schwarz.
Nur eines bedient Schütte nicht, ja er entzieht sich ihm geradezu: Das ach so Bedeutungsvolle, politisch aktuell korrekte. Schütte verfolgt kein Thema, außer der Kunst selbst. Schütte ist an gesellschaftlichen Fragen und öffentlichen Belangen vielfach interessiert, doch wandert kein Zeitgeist durch seine Werke. Seiner Kunst öffnet er damit eine heute vielfach eingehegte Freiheit.
Gedankenspiele, poetische Bilder, fiktive Entwürfe? Und immer schon die Versuchung, das Bild in der Realität bestehen zu lassen. Mit dem Eispavillon für die Documenta 8 entstand aus einem Pappmodell 1987 ein Gebäude in den Auenwiesen vor der Kasseler Orangerie, das tatsächlich Speiseeis für die Besucher anbot. Wie andere Modelle aus Streichhölzern und einem Kartoffelchip als Dach eine Umsetzung in die Wirklichkeit erfahren haben. Etwa die Skulpturenhalle auf Hombroich 2016. Der Gedanke des Künstlerhauses, das Atelierhaus als Ort der Produktion, als Festung und Kenotaph des Künstlers bewegt auch diesen Bildhauer.
Wer würde sich da noch wundern, wenn die Seebühne links am Ufer des Bodensees oder die Badeanstalt „Milli“ rechts, nach Entwürfen Schüttes gebaut wären. In Kunsthaus sehen wir neben dem Modell der Skulpturenhalle ein weit geschwungenes Pappmodell. Es wird demnächst umgesetzt. Als dreistöckiges Dienstgebäude kommt es im rechten Winkel zur Halle in Neuss zum Stehen. Der Baubeginn soll im Januar 2020 erfolgen. Unterirdische Lagerräume von 500 qm sind geplant, dazu 300 qm für Archiv und Papierlager, darüber eine „Dienstwohnung“. Der elliptische Grundriss lehnt sich an die Skulpturenhalle an, doch das sichtbare Obergeschoss besetzt gerade mal die Hälfte der Fläche. Das Unterirdische behält sein Gewicht. Ausstellungen soll es im „kleinen Bruder“ keine geben. „Unsere Kapazität ist begrenzt“, sagt Schütte. Das meint wohl den der eigenen Stiftung zur Organisation von Ausstellungen, wie auch den der Lagerräume für die anhaltende, unübersehbar reiche Produktion dieses Künstlers.
Schlussapplaus
Es ist beileibe nicht Schüttes größter Auftritt in Bregenz, nicht so ausladend wie der in der Bundeskunsthalle in Bonn, oder in der Reina Sofia in Madrid (beide 2010), nicht wie in der Serpentine Gallery in London, in der Foundation Beyerle in Basel, im Moderna Museet in Stockholm, oder zuletzt in der Monnaie in Paris. Es ist aber die kompakteste und erschütterndste Schütte-Schau überhaupt.
Lohnt den Umweg (bis 6. Oktober)
c.f.s.
Mehr Schütte:
Das KAT.A – Drachenfelserstraße 4-7, Bad Honnef/Röhndorf zeigt Andreas Schmitten und Thomas Schütte in einer Tandemausstellung (nur nach Anmeldung)
Die Galerie Ute Parduhn zeigt zur DC Open “Stilleben” u.a mit Werken von Thomas Schütte (Eröffnung, Freitag, 6. September, 18-22Uhr)
Texte und Filme zu Thomas Schütte auf eiskellerberg.tv: