Furchtbar aktuell

Vor 100 Jahren macht sich George Grosz ins kommunistische Sowjetrussland auf – und kehrt ernüchtert zurück. Das Kleine Grosz Museum trumpft mit einer halben Sensation auf. Die andere Hälfte wird hoffentlich nachgeholt

Schon in Amerika. Grosz Aquarell und Tuschfeder um 1936 (aus der Sammlung Judin)

Wie nah Christian Hufen wirklich dran war, schwer zu sagen. Solange es noch halbwegs friedlich, solange eine Zusammenarbeit mit russischen Archiven noch denkbar war, liefen seine Nachforschungen auf Hochtouren. Dann überfiel Putins Russland die Ukraine. Aus der Traum vom großen Forscherglück. Der Historiker, 1964 in Weimar geboren, musste seine Koffer in Moskau packen und flog zurück nach Berlin. Nicht ohne reiche Ausbeute an Fundstücken, Fotos und Filmsequenzen und historischen Dokumenten. Denn die sollten zur Grundlage der Ausstellung „1922 – George Grosz reist nach Sowjetrussland“ im erst vergangenen Mai eröffneten Berliner Grosz-Museum werden.

Im Stil der Grossen Revolution. Blick in die Berliner Ausstellung

Nun ist die Russlandreise von George Grosz (1893 bis 1959) das große Mirakel und das Schwarze Loch der Grosz-Forschung. Kein Wunder also, dass sich das gerade eröffnete Kleine Grosz Museum vom Ehrgeiz gepackt sah, diese Reise im Jubiläumsjahr zu “rekonstruieren”. Was von langer Hand geplant war, erhält in diesem Jahr allerdings eine schreckliche Aktualität. 100 Jahre ist sie her, Grosz‘ ominöse Reise durch „Karelien“ bis nach Petrograd (St. Petersburg) und Moskau. Bis auf den IV. Weltkongress des Komintern hat er es gebracht, nimmt an den Feiern zum 5. Jahrestag der Oktoberrevolution inklusive Militärparade auf dem Roten Platz teil, wird im von Karl Radek im Kreml empfangen und hat selbst Lenin die Hand geschüttelt. Allein das wäre für einen jungen Künstler aus Deutschland die volle Beute. Nicht so für Genosse Grosz. Das Gründungsmitglied der KPD verfolgt mit der dreieinhalbmonatigen Reise nicht allein politische Ziele. Er erhofft sich auch reichen künstlerischen Ertrag. Ein neues Mappenwerk im MALIK-Verlag, den sein Freund und Mitstreiter Wieland Herzfelde in Berlin betreibt, soll herausspringen. Wird es aber nicht. Skizzen, Illustrationen und Portraits der teils berühmten Gesprächspartner fertigt Grosz, umtriebig wie er ist, zahlreiche an. Doch gehen diese allesamt verschütt. Ein Ausstellungsprojekt in Moskau platzt.

Krieg, 1924

Zurück in Berlin klagt er, 69 seiner besten Zeichnungen seien verloren gegangen, „eine ganze Lebensarbeit.“ Wie viele Werke, die Grosz Ende 1922 mit in seine Heimat zurückbringt in den Wirren der Zeiten untergegangen sind, wissen wir nicht. Keines dieser Werke, weder die in Russland verschollenen, noch die in Berlin zurückgelassenen sind je wieder aufgetaucht. Elf Jahre nach der Reise ergreifen die Nazis die Macht in Deutschland, Grosz aber hat den Braten längst gerochen. Seit seiner frühesten Jugend war Grosz von Amerika fasziniert. Anfang 1933 besteigt er den Dampfer nach New York und verlässt Deutschland.

Auch Christian Hufen stieß während seiner Recherchen nicht auf unbekannte Grosz-Werke. Die Ausstellung muß sich also auf andere “Fundstücke” stützen, auf historisches Dokumentarmaterial zumal. Damit bekommt die Ausstellung eine Schlagseite in Politische. Kurator Ralf Kemper hat das Manko so gut es geht überspielt.

Anfang Dezember tritt Grosz die Rückreise an, am 23.12. diktiert Lenin sein Testament und fordert die Bolschewiki auf, Stalin als Generalsekretär des ZK der KPdSU abzulösen. Sieben Tage später wird die Sowjetunion gegründet. Stalin bleibt deren erster Generalsekretär, die Folgen sind grausame Geschichte.

In seinen Memoiren, “Ein kleines Ja und ein großes Nein”, die 1946 in seiner neuen Heimat New York erscheinen, läßt Grosz die Russlandreise komplett weg. Erst 1955, in der deutschen Erstausgabe, erscheint ein Kapitel dazu. Doch das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Hufen schreibt mit Verweis auf Michel Houellebecq von einer „idealen Lüge“, die Grosz da auftische. Fragen, Zweifel blieben. Erst 100 Jahre nach der Russlandreise bringen Ausstellung und Katalog die Sache endlich auf die Reihe, oder besser doch auf Linie.

Vor der Russlandreise. Grosz mit Palette in seinem Berliner Atelier 1921.

Die Reise kann “als vorläufiger Höhepunkt seines agitatorischen Engagements für die radikale Linke seit der Novemberrevolution 1918 in Deutschland gelten”, fasst Hufen das Ergebnis zusammen. Zudem widersprächen die neuen Dokumente der Vermutung, Grosz habe aus Enttäuschung über seine Reiseerlebnisse in Sowjetrussland, “dem Kommunismus abgeschworen”. Also darf die Ausstellung in revolutionärem Pathos schwelgen. Aber Grosz, der Avantgardist, fühlt sich dann doch dem Systemfeind USA näher hingezogen. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Russland bemüht er sich um eine Reise nach Amerika. Der linke Propagandist war eben auch ein Freund Amerikas.

Karelien übrigens, das Gebiet über das Grosz 1922 nach Russland einreist, war nach der Oktoberrevolution Schauplatz blutiger Kämpfe des Finnischen Bürgerkriegs. Finnische Truppen kämpften gegen das bolschewistische Russland. Aus dem dann Russischen Karelien wurde unter Stalin die Karelische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Sowjetunion. Grosz sah Zwangsarbeiter und Arbeitslager. Er kritisierte illusionslos Überwachung, Paranoia und Spitzelwesen. Aber darauf geht die Ausstellung über die Reise zu den Sowjets nicht weiter ein.

Im Grosz-Museum kommt auch der Überfall auf die Ukraine und die kriegerische Annexion der Krim und von Teilen der Ost-Ukraine durch Russland nicht vor. Das könnte die Revolutions-Nostalgie dieser Ausstellung stören. Man bleibt hier lieber auf Linie.

C. F. Schröer

1922 – George Grosz reist nach Sowjetrussland
bis zum 31.03.2023
Das kleine Grosz Museum, Berlin

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