Es muß ja kein atomarer Overkill sein, kein Meteoriteneinschlag, kein Mega-Tsunami und auch kein anderes grauenvolles Ereignis. Auch kein düsteres Umweltszenario oder die Eroberung durch außergalaktische Lebewesen. Nehmen wir einfach an, die Menschheit wäre verschwunden. Plötzlich weg, einfach so. Die Erde wäre auf einen Schlag befreit von 6,7 Milliarden Menschen. Eine grauenvolle oder eine befreiende Vorstellung. Die Welt würde aufatmen und zu ihrem Frieden finden oder endgültig kollabieren?
Es ist diese unheimliche Abwesenheit des Menschen, welche die großen Panoramen und Tableaus von Hartmut Neumann so schön abgründig, so unheimlich anziehend erscheinen lassen. Es sind die Zwischenreiche, die unsere Phantasie beflügeln, die unbestimmbaren, unerreichbar fernen, nicht fassbaren, die irgendwo zwischen Weltanfang und Weltende liegen, traumverloren, vertraut und fremd zugleich. Grandios und bestürzend wie sie uns in ihrer Detailgenauigkeit und realistischen Maltechnik erscheinen, sind es Nirgendwos und Nirgendwanns. Sie beschreiben keinen Ort auf irgendeiner Landkarte, noch liesse sich je sagen, welche Zeit da geschildert ist. Ein Land in der Schwebe – zwischen Südsee und Steinhuder Meer, zwischen Urknall und Übermorgen. Ohne Ort und ohne Zeit, sind sie unserer Wirklichkeit und Ordnung enthoben. Doch sind sie auch ohne Verdammnis und ohne Verheißung, frei von Kulturpessimismus als moralisierender Sittenklage und frei von utopischem Aufbruch in eine vermeintlich bessere Welt. Sie führen uns eine Welt jenseits von Angst und Bedrohungen vor Augen, verheißen aber auch kein neues Allzeit-Paradies.
Malerischer Furor als Antwort auf die Moderne
In ihrer Fülle an floralen Mustern, rankenden Gewächsen, in all ihrer üppig wuchernder Vegetation, auch in ihrer farblichen Wucht und malerischen Pracht scheinen die Gemälde als ein Widerspruch zur Moderne, die eine bessere Welt ja gerade aus der Reduktion und Minimalisierung, aus Standardisierung und Formalisierung heraus gewinnen will. Dem minimalisierten, monochromen Bild begegnet Neumann mit einem malerischen Furor und kosmischer Fülle. Doch tauscht der Künstler keineswegs die utopischen Entwürfe der Moderne gegen Untergangsehnsüchte einer Nachmoderne. Er bietet auch keine Schlaraffenlandversion der Vergangenheit und keine science fiction. Er ist weit entfernt von jeder Naturmystik oder Heilserwartung. Noch malt er Kulissen für eine neue Episode der TV Serie „Life after People“.
Auch Neumanns Universum ist durch Reduktion gewonnen, wie sie radikaler kaum sein könnte. Wesentliche Bestimmungsgrößen unserer Welt sind wie in einem experimentellen Großversuch genommen. Weder Zeit noch Ort lassen sich bestimmen. Diese beiden zentralen Koordinaten binden uns als menschlich Wesen existentiell an die Welt, in der wir leben. Keinem Lebewesen ist es je gelungen, sie als Bedingtheiten des Lebens aufzuheben, noch sie auf Dauer zu überwinden. Der Mensch bleibt, bei allem, an diese Realität gebunden.
Ob wir die in Neumanns üppigen und doch seltsam entleerten Landschaften vorgestellte Ort- und Zeitlosigkeit als Offenheit und Befreiung erfahren, oder eher als Verlust an Orientierung und beängstigende Leere, bleibt uns überlassen. Der Mensch ist verschwunden. Seine Abwesenheit erscheint keineswegs demonstrativ, sie ist unwillkürlich. Er ist abwesend – und das in einer erschreckenden Dimension. Er ist seiner zentralen Rolle beraubt und wird nirgends vermisst.
„Daß der Mensch etwas ist, was überwunden werden muß, das ist keine wirre Idee von Nietzsche und Trotzki, ganz Europa ist seit dem mystischen 14. Jahrhundert ein Trainingslager zur Menschüberwindung mit Hilfe von Mystik, Kunst und Pädagogik,“ so Peter Sloterdijk (in Zeilen und Tage, 2012).
So sind Neumanns Bilder alles andere als klassische Landschaftsbilder, wie wir sie etwa aus der europäischen Landschaftsmalerei seit der Antike kennen. – Eine Landschaft, die auf den Menschen bezogen ist, die mit seinen Augen und aus seiner Perspektive gemalt und gesehen wird.
Es sind vielmehr phantastische, transzendente Landschaften. Sie transzendieren den Menschen, in dem sie eine Welt ohne ihn vorstellen. Damit aber werden wir von dem Schrecken erlöst, ohne uns herrsche das Inferno, der Weltuntergang. Wir blicken befreit in eine Welt, die jenseits von Mensch und allem Menschenwerk sich selbst überlassen ist. „Der Mensch ist von sich selbst so eingenommen, dass er sich lediglich als das einzige Ziel der Anstalten Gottes ansieht, gleich als wenn diese kein ander Augenmerk hätten als ihn allein. Wir sind Teil der Natur und wollen das Ganze sein,“ so der junge Kant als er zu dem erschütterndsten Naturereignis des 18. Jahrhunderts, dem Erdbeben von Lissabon von 1755, Stellung bezieht.
Unbestimmbar ferne, erreichbare Landschaften stellt uns Hartmut Neumann in großformatigen Panoramen vor, die uns wie in einem Sog erfassen und in die galaktischen Gefilde hineinziehen. Ferne und Nähe, Fiktion und Realismus sind die Koordinaten eines Spannungsverhältnisses, das der Maler uns zumutet. Wir tauchen ein in die realistisch dargestellten, doch fiktiven Bildwelten, lassen uns treiben und überwältigen von solchen grandiosen wie bestürzenden Wildnissen.
Welche Natur?
Hartmut Neumann ist Natur- und Tiermaler. In allen seinen Werken, in seinen großen Gemälden, in seinen inszenierten Schwarz-Weiß Photographien, wie in seinen ausladenden Installationen spielt die Natur die Hauptrolle. Welche Natur?
Im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit können wir nicht mehr sicher sein, wovon wir sprechen, wenn wir von Natur sprechen. Das haben Gernot Böhme und andere schon vor Jahren zur Sprache gebracht. Die Natur als fundamentale Bezugsgröße für unser Handeln ist uns abhanden gekommen. Welche Erschütterungen und dramatischen Auswirkungen es haben muß, wenn sich der archimedische Punkt unserer Welt auflöst und zunehmend unbestimmbar wird, kann man sich leicht vorstellen. Wenn sich nicht mehr sicher bestimmen lässt, was Natur ist – und was Naturimitat, Naturersatz – dann läßt sich auch nicht sagen, was in Abgrenzung dazu Kultur ist. Für einen Naturmaler wie Neumann muß das ein besonderes Problem sein.
Georg Simmel entwickelte etwa um 1911 eine fundamentale Kulturkritik, die in der inneren Struktur der Kultur ihr eigenes Scheitern begründet sah. Bei Neumann findet sich kein Kulturpessimismus, keine Spur von Anklage jedenfalls, auch nichts von Naturschützermoral. Neumann zeigt keine Zivilisationskritik und keine Weltuntergangssehnsucht, kein Chaos am Ende der Welt und auch keine Zurück-Zur-Natur-Predigt. Was er uns vor Augen stellt, ist so paradox es klingt, eine Erinnerung an die Zukunft. Ein weiter, beinahe liebevoller Blick, der uns gleichwohl erschrecken läßt. Natur erscheint in seinen Bilder in einer ungeheuren Prächtigkeit und außerordentlichen Schönheit – gerade deshalb so schön und verlockend, weil wir ihren Lauf nicht mehr stören können? Es ist eine Natur ohne Menschen. Es zeigen sich keine Spuren einer Weltkatastrophe, noch überhaupt Überreste menschlicher Zivilisation, keine Ruinen, keine überwucherten Städte, keine Erinnerung und zum Glück keine Nostalgie. Das ist, wie gesagt, Neumanns Thema nicht. Ist es eine Welt vor dem Auftreten des Menschen, oder eine nach seinem Verschwinden? Der Mensch spielt keine Rolle mehr – es sei denn in Form seiner Abwesenheit.
Befreite Natur, befreit vom Menschen
Es wird uns eine Natur vor Augen geführt, die allein ist mit sich selbst. Sich selbst überlassen und darum unendlich schön ist. Liegt darin eine grundsätzliche Skepsis des Künstlers gegenüber der eigenen Art? Schließlich sind wir es, die Abwesenden, die aus dieser Welt Ausgeschlossenen, die seine Naturbilder ansehen. Für uns, wen sonst, sind sie gemalt. Wie sich die uns vorgestellte Welt frei und ohne uns auch entfaltet, das gemalte Bild bliebe ohne uns sinnlos. Das weiß auch der Maler Neumann. Es ist sein unauflösliches Dilemma und sein Malreiz.
Es ist eine beklemmende und auch wieder befreiende Vorstellung einer Zukunft von Natur, die der Mensch auf welche Weise auch immer verlassen hat, der seine Hand nicht mehr weiter nach ihr ausstreckt, um sie auszubeuten und nach seinen Zwecken zuzurichten. Ein verlockende Vorstellung, wie sie wieder zu sich findet und sich in all ihrer Prächtigkeit und Schönheit zeigt, nur weil sie sich, wieder sich selbst überlassen, entfalten kann. Um endlich wieder zu jenem Bezugspunkt werden kann, der für die Menschen und ihre Kultur unverzichtbar ist.
Neumann zeigt Natur groß und unendlich, abgründig und erhaben, schön und erschreckend, voller Überraschungen und Wunder. Aber sie wird nicht verherrlicht oder gar als etwas Heiliges vorgestellt. Es findet sich keine Romantik und keine Metaphysik in Neumanns Bildern. Doch ist es eine radikale Gegenwelt, die uns befremdet und doch anzieht, die uns verlockt und bald unerträglich wird, bald sogar abstoßend erscheint, gerade weil wir, die wir heute mit sieben, bald acht Milliarden Artgenossen diese Welt bevölkern, allein sind vor dem Schauspiel der Natur, das uns nicht braucht.
Neumann ist ein Natur- und Tiermaler, der seine Vorbilder aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert genau kennt und so in der Nachfolge der Wunderkammern zum Erfinder eines eigenen Kosmos werden konnte. Dort spielt Natur und besonders die Tiere, Affen zumal, ihre besondere, bisweilen auch kommentierende Rolle. Doch sind diese Neumann-Universen, so kolossal und überwältigend uns diese phantastischen Welten auch um Augen und Ohren fliegen, zugleich Innenwelten von außerordentlicher Schönheit, voller Urängste und letzter Hoffnungen, intime Zufluchtsorte und kosmische Vaginallandschaften.
Befreite Welt – jeneseits von Zeit und Raum
Alles, und das Gegenteil von allem: Schönheit und Schrecken, Hass und Liebe, Diesseits und Jenseits, vorgestern und übermorgen, hier und dort. Neumanns Universum ist eine Welt befreit von Ordnung und Unordnung, von Gut und Böse, überhaupt von allen Hierarchien. Doch ist das Göttliche nicht dort zu finden, wo alle Gegensätze zusammenfallen? Alles liegt darin. Es gibt keine Dualität. Auch das eine überkommene menschliche Erfindung.
Kali, die indische Göttin der Zerstörung, jene mit der bluttriefenden Zunge und der Kette aus Totenschädeln um den Hals, ist gleichzeitig auch die Mutter des Universums, eben weil es keine Schöpfung gibt ohne Zerstörung. Der Maler zeigt nur üppige Vegetation, ein gewaltiges Werden, eine gärende, gebärende und verschlingende Welt. Wir sind es, die zwischen Glück und Versagen, Freude und Schmerz unterscheiden möchten. In Wahrheit sind sie eins.
„Der Tag ist der Schatten der Nacht, das Leben der Schatten des Todes“, heißt es in den Veden. Die befremdliche Abwesenheit des Menschen, dieses Rätsel und diese Leerstelle wird speist sich nicht aus einem Überdruß am Menschen, etwa als eine Abkehr und Verleugnung. Es finden sich weder Ekel noch Triumph. Sie wird ohne jede Dramatik dargestellt, schlicht als Wegfall, als Abbruch eines Versuchs und Befreiung der Welt vom Irrläufer, dem „kranken Tier“ (Nietzsche). Und wie die Welt still und beharrlich, jedenfalls ohne Triumphgeschrei, wieder in ihren friedlichen Zustand übergeht und sich ausbreitet in ihrer ganzen Schönheit. Trunken und berauschend sich in Schönheit ergeht.
Ein Ausflug in die Zukunft von Carl Friedrich Schröer