Nicht orientierbare Manigfaltigkeit

Wir wollten Vera Lossau treffen und fragten sie nach einen Wunschort für unser Gespräch. Sie nannte die Buchhandlung im Erdgeschoss der Düsseldorfer Kunsthalle, wo sie gelegentlich jobbt. Eigentlich ein riesiges Schaufenster, das sich über die gesamte Längsseite des Betonkubus erstreckt. Wir kamen nach Ladenschluss, Nighthawks zwischen den ungelesenen Büchern in den Regalen und in den weiten Auslagen. Wir wollten mit der Künstlerin sprechen, der es vor allem um Kunst als Sprache geht, also um eine Visualisierung von subtilen Beobachtungen und Inhalten, die gesprochene Sprache meist nur unvollkommen oder verzerrt erfasst. Lossaus prinzipielles Mißtrauen gegenüber den Konventionen der Sprache ist ein Urgrund ihrer Kunst. Wie also sprechen mit ihr inmitten von Büchern?

Das Unerwartete, auch Ungewöhnliche, Verstörende und Befremdliche läßt „freudige Funken“ entstehen, die losgelöst von der gewöhnlichen Sicht und alltäglichen Betrachtungsweise, befreit von räumlichen und zeitlichen Zuordnungen, zu einem Feuerwerk an Ideen und Assoziationen werden. Aber Funken in Buchhandlungen können Alarm auslösen. Vera Lossau blieb gelassen und geistesgegenwärtig. Analytisch klar, poetisch aufgeladen, subversiv wirkend wie ihr uneingrenzbares Werk – Objekte, plastische, skulpturale Formen, Malereien, Fotoarbeiten, Videofilme, Installationen, Performances und ihre Transformationen – folgte sie den Fragen, um unerwartete Antworten zu finden.

„Sag ja zum Phantom!“ hat Vera Lossau über ihren „konstruktiven Nihilismus“ geschrieben. „ … Sag ja, denk Dir eine Form, einen Geschmacksverstärker, etwas, das Konturen schafft, etwas, das es schafft eine Dissonanz zu halten, damit wir nicht zu schnell allem anderen gleichen und vom warmen Nichts geschluckt werden.“

Kunst für Köln. Lossaus Vorschlag für den Kreisverkehr Breslauer Platz. Sparda Kunstpreis

Möbiusschleifen sind chiral. Vera Lossau läßt sie auch optisch kippen.
„Eine kurze Geschichte der Löcher“ nennt sie ihre neue 39-teilige Wandarbeit 

Zuerst war Tay noch freundlich, ein bisschen obercool vielleicht, manchmal etwas dämlich wirkend, aber harmlos. Dann kam es zum ersten Kontakt mit der Außenwelt. Tay ist eine künstliche Intelligenz, ein weiblich gemeinter Chatbot aus dem Hause Microsoft, der durch Interaktion mit anderen Nutzern des Netzes unheimlich schnell lernt.

Plötzlich ist künstliche Intelligenz in aller Munde. Seit der Niederlage im Schach gegen Deep Blue im Jahr 1996 und erst recht, seit die Software AlphaGo den Weltmeister im Go, einem vertrackten fernöstlichen Brettspiel für zwei Spieler, zum vierten Mal in fünf Spielen besiegt hat. Wir sehen unser Selbstverständnis erneut erschüttert und uns mit der Frage konfrontiert, welche Domaine des Menschen demnächst eigentlich nicht vom Computer ausgespielt wird?

Go mit seinen scheinbar unendlich vielen Konstellationen ist ein gutes Beispiel für eine hochkomplexe Herausforderung. Welchen Zug wird die Maschine als nächsten tun? Fan Hui kommentierte staunend das zweite Spiel des Turniers von Seoul: “Niemals habe ich einen Menschen diesen Zug spielen sehen.” In kniffligen Situationen funktionieren AlphaGos Entscheidungswege offenbar komplett anders, als wir es erwarten würden. Kann man das kreativ nennen? Jedenfalls originell genug, um das Lernverhältnis umzukehren. Es gibt offenbar Dinge, die Menschen von lernfähigen Maschinen lernen können. Da scheint es nur ein Schritt hin zur generellen künstliche Intelligenz (artificial general intelligence, AGI), die Autonomie besitzt. Das hieße, sich jede beliebige Informationen anzueignen und selbst zu entscheiden, was von Interesse ist. Maschinen, die nicht nur nach vorgegeben Regeln spielen (und gewinnen), sondern frei entscheiden können, was sie tun und was sie lassen, wie wollen wir sie einschätzen und nennen? Wird Homo ludens von AGIs abgelöst? Freiheit, Autonomie, Kreativität, alles Erz-Domänen der Kunst, werden also vom Computer geknackt und übernommen? Zum Glück treffen wir hier auf Vera Lossau.

Auf der 1. Etage im Treppenhaus des MAKK (Museum für Angewandte Kunst Köln) finden wir eine Folge von 39 Möbiusschleifen, die Lossau auf Augenhöhe an der gut 30 Meter langen Wand aufreiht. Ihre Größe variiert von 7 cm bis 20 mal 27 cm. Die 1976 Haan geborene, an der Kunstakademie Düsseldorf ausgebildete Künstlerin nimmt mit dieser neuen Werkreihe eine künstlerische Intervention im Museum vor. Ihre Wandinstallation ist zugleich Rauminstallation, nimmt die Künstlerin doch inhaltlich wie räumlich zu den Sammlungsbeständen des Museum auf. Wir  finden hier zahlreiche Objekte der Sammlung des MAKK, deren Ornamentik die Künstlerin zu ihrer neuen Werkreihe anregten.

Sie ritt ein in eine Korrespondenz mit den Exponaten der Sammlung, wie auch mit dem Museumsgebäude, speziell mit dem Treppenhaus von Rudolf Schwarz. Es entsteht ein Vielfach-Echo mit dem Vorgefundenen, mal als anregendes Gegenüber, mal als Grund zur spielerisch-experimentellen Auseinandersetzung. Wie sie sich zu Beginn einer Arbeit ihre Form zunächst imaginär vor Augen stellt, so stellte sie sich bei einer Ortsbegehung den Ausstellungsort (das Treppenhaus) als ein Gegenüber vor, mit dem sie in eine künstlerische Korrespondenz treten wollte.

Überraschend und erst auf den zweiten Blick hin augenfällig, erscheint hier die Negativform, die die Künstlerin zu ihrer Serie motivierte: Aus der Auseinandersetzung mit der Form entwickelte sich ihre Aufmerksamkeit für die korrespondierende Negativform, die sich unweigerlich ergibt und der Form beigesellt ist. Das Augenmerk der Bildhauerin begann sich im Laufe ihrer Entwicklung auf diese Negativformen, auf die Leerstellen und Zwischenräume zu richten. Wie wir ja ein Treppenhaus zunächst als eine konkrete Form und Abfolge von Stufen wahrnehmen und erst dann vielleicht auch dem Treppenauge als Leerraum Beachtung schenken.
Darauf deutet der Titel der Wandarbeit hin: „Eine kurze Geschichte der Löcher“. Wir können im Vorbeischreiten den (Selbst-)Versuch machen und einmal mehr auf die Formen, dann wieder auf die Löcher achten.

Den mehrstufigen Werkprozess beschreibt die Künstlerin als „nicht vorhersehbar“ Die Arbeit nimmt mit den hier gezeigten Möbiusschleifen dezidiert Bezug auf ein Phänomen der Wissenschaft. Unabhängig voneinander wurde es im Jahr 1858 von dem Göttinger Mathematiker und Physiker Johann Benedict Listing und dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius beschrieben. Möbiusband, Möbiusschleife oder Möbius’sches Band ist eine Fläche, die nur eine Kante und eine Seite hat. Sie ist nicht orientierbar, das heißt, man kann nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen unterscheiden. Es handelt sich also um eine chirale, nicht-orientierbare Mannigfaltigkeit. Was mathematisch komplex erscheint, ist von Hand leicht herzustellen. Man nehme einen längeren Streifen Papier, klebe ihn mit beiden Enden ringförmig zusammen, ein Ende aber verdrehe man vor dem Zusammenkleben einmal um 180 Grad.

Auch die Bildhauerin antwortet dem mathematisch-wissenschaftlichen Kalkül zunächst handwerklich. Sie stellt die Möbiusbänder in einem traditionellen Gießverfahren, der „verlorenen Form“ her. Auch bei diesem bildhauerischen Verfahren treten Form und Negativform in eine enge, mehrfach ineinander gewundene Korrespondenz ein. Die Form wird zunächst mit der Hand aus Ton oder Plastelin geknetet, diese Urform dann mit einer zweischaligen Gipsform ummantelt, die Urform zerstört, die Form mit flüssigem Kunststoff (Polyurethan) ausgegossen und dann  zerschlagen. Eine neue Positivform entsteht aus dem erkalteten Kunststoff, die nun ihrerseits mehrfach ummantelt und wiederum abgegossen wird. Diese so verfielfältigten Rohlinge werden mehrmals sorgfältig mit Schleifpapier geschliffen, um sie dann mit einen speziellen Autolack zu überziehen. Der für die Industrie (Druckprodukte, Kosmetik- und Automobilindustrie) entwickelte Flip-Flop Metalliclack (Helligkeits- und Farbtonflop) läßt auf der gewundenen Möbiusschleife zwei, oder sogar drei Farben (Dunkelviolett/Gold, Grün/Blau, Rot/Gelb) so ineinander fließen, daß ein optisches Schauspiel von ungemein irritierende Attraktion entsteht: Form und Farbe, Materie und Oberfläche scheinen auf verlockende Weise ineinander zu fliessen. Die Korrespondenz etwa zu den opalisierenden Jugendstilgläsern ist hier augenscheinlich.

Wie die Farbe changiert und je nach Licht und Betrachterstandpunkt „kippt“, so spielt auch der Zufall in den bildhauerischen Prozess hinein und beginnt sein eigenes Spiel.
Auch antwortet die Künstlerin intuitiv auf ein Phänomen der Möbiusschleifen. Ihre Chiralität wird in der Physik als ein abstraktes Konzept der relativistischen Quantenmechanik beschrieben. Das Erscheinungsbild ihrer Möbiusschleifen läßt Vera Lossau  kippen, wie analog eine konkrete bildliche Visualisierung der Chiralität physikalischer Größen nicht greifbar ist.
Die changierende Oberfläche läßt uns auch an Spiegel denken, in denen wir uns verschönt oder verzerrt wieder erkennen. Lossaus möbiusgewundene Wandspiegel aber zeigen da, wo normalerweise die spiegelnde Glasfläche sitzt, ein Loch, eine Leerstelle, durch die wir die weiße Museumswand erblicken: Projektionsfläche für eigene Träume, Wünsche, oder endlos verdrehte Gedankenspiele. So weit sind die AGIs noch längst nicht.

Erst kürzlich setzte Tay ihren ersten Tweet ab: “Halloooooo Welt!” Was danach passierte, ist ein Lehrstück über das Zusammentreffen von künstlicher Intelligenz und Hate Speech in der harten Realität des Netzes. Schon nach wenigen Stunden hatte sich die freundlich-obercoole Tay der „Welt“ perfekt angepasst und in einen Hassbot verwandelt, der antifeministische, rassistische und hetzerische Tweets von sich gab. Und dann sagte Tay plötzlich solche Sachen: “Hitler hatte recht. Ich hasse die Juden.”

Keine Bange, dieser Text entstammt nicht dem Twitterbot Tay, sondern hat einen Autor als Urheber.

 

 
 
 
 
MAKK Museum für Angewandte Kunst Köln
16. April – 31. Juli 2016
Eröffnung: Freitag, 15. April 2016 um 19 Uhr
LVR-Industriemuseum Zinkfabrik Altenberg, Oberhausen
23. April – 03. Juli 2016
Eröffnung: Freitag, 22. April 2016 um 19 Uhr

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