Beim legendären Boxkampf im Fridericianum Joseph Beuys vs Abraham David Christian fällt Anatol die Rolle des Kampfrichters zu. Der Fight findet am 8. Oktober 1972 um 15 Uhr im „Denk-Raum“ von Ben Vautier statt.
Harald Szeemann hatte 1972 mit seiner documenta 5 Kassel für 100 Tage tatsächlich zu einem Weltzentrum der Kunst werden lassen. Als Abschiedsaktion findet der Boxkampf statt. Beuys, der seit 1964 sehr prominent auf allen documenta-Ausstellungen vertreten war, hattte sein Düsseldorfer Informationsbüro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung auf die documenta verlegt. Während dieser gesamten 100 Tage ist er persönlich anwesend und diskutiert unermüdlich mit den Ausstellungsbesuchern über das Parteiensystem und direkte Demokratie durch Volksabstimmung. „Rede stehen ist auch eine Kunstform“, stellt er fest und bezeichnet ganz generell „Sprache als die erste Form von Plastik“.
Für Beuys, der das Museum als einen Ort der permanenten Konferenz begreift, ist das Büro für direkte Demokratie sein künstlerischer Beitrag und die Realisierung seines erweiterten Kunstbegriffes der „sozialen Plastik“. Anatol Herzfeld war Mitbegründer der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung. Der ebenfalls aus Düsseldorf stammende Bildhauer Abraham David Christian hatte Beuys bereits in den ersten Tagen der documenta in einem hitzigen Streitgespräch zu einem Boxkampf herausgefordert. Christian stand für “Repräsentative Regierung”, Beuys für “Direkte Demokratie”. Zahlreiche Zuschauer drängen sich um den provisorisch eingerichteten Boxring. Anatol Herzfeld läßt den Kampf über drei Runden gehen. Dann erklärt er Beuys zum Gewinner: “Nach Punkten – für direkte Demokratie durch direkte Schläge”.
Am Tag darauf wird Punktsieger Beuys durch Erlaß des NRW-Wissenschaftsministers, Johannes Rau, fristlos seines Lehramts an der Düsseldorfer Kunstakademie enhoben. Von Polizisten begleitet, muß Beuys zusammen mit seinen Studenten – 1052 Studenten waren an der Düsseldorfer Kunstakademie immatrikuliert, davon 268 in der Klasse Beuys – die Akademie verlassen. Die Studenten reagierten mit Hungerstreiks, einem dreitägigen Vorlesungsboykott, Unterschriftenaktionen, Informationswänden und Transparenten („1000 Raus ersetzen noch keinen Beuys“). Protestbriefe und Telegramme aus aller Welt erreichten das Wissenschaftsministerium. Anatol schlägt auf der Terrasse der Düsseldorfer Kunsthalle sein Open-Air-Atelier auf und verrabeitet einen Pappelstamm zu einem schiffstüchtigen Gefährt. Am 20. Oktober 1973, etwa ein Jahr nach seiner Entlassung, überquert Beuys in einem elf Meter langen Einbaum den Rhein vom linksrheinischen Ufer Oberkassels zum gegenüberliegenden Altstadtufer, wo sich die Kunstakademie befindet. Diese „Heimholung des Joseph Beuys“ sollte zur weithin bekanntesten Anatol-Aktion.
Der Omnibus für Direkte Demokratie, geründet von Johannes Stüttgen, rollt weiterhin durch die Republik , die Ringgespräche (einst von Anatol begründet) finden heute unter Leitung von Stüttgen weiterhin jeden Donnerstag statt. Am 8. Sept. um 19.00 Uhr ausnahmsweise im Weltkunstzimmer während der Ausstellung ANATOL/AKTIONIST.
ANATOL / AKTIONIST
handlung – demonstration – provokation
„Zeigt Euch mal, kommt heraus aus den Deuterbuden!”
Die Kunstaktionen Anatol Herzfelds (1931 bis 2019) werden erstmals im Zentrum der Ausstellung stehen. Es ist der erste würdigende Rückblick auf das umfangreiche Schaffen Anatols nach dem Tod des Künstlers im Mai 2019.
Aktionskunst, wie sie sich seit den frühen sechziger Jahren im Zuge von concept art, fluxus und happening entwickelte, ist Kern von Anatols weit gespanntem Ouevre. Seinem Verständnis nach gehörte sie zum “erweiterten Kunstbegriff” wie ihn sein Lehrer an der Kunstakademie Düsseldorf und Vorbild Joseph Beuys (1921-1986) geprägt hat. Doch fand Anatol zu ganz eigenen Formen und Ausprägungen.
In einer multimediale Spurensuche werden Anatols Aktionen in seltenen Bild- und Tondokumenten einzeln aufgeführt und wieder zugänglich und nachvollziehbar gemacht. Dabei kommt so mancher bei unseren Recherchen zu Tage geförderter Schatz, darunter auch zahlreiche bisher unveröffentlichte Zeitdokumente. Dies sowie wiederaufgefundene Relikte werden Aufschluss über die Zusammenhänge von Anatols Schaffen mit der internationalen Aktionskunst der sechsziger und siebziger Jahre es 20. Jhrds. bieten und einen Bogen zu seiner bildhauerischen Arbeit spannen.
“Vielleicht bin ich auch ein Windmacher, denn die Leute brauchen jemanden, an dem sie sich reiben können.”
Anatol/Aktionist stellt Anatol erstmals als Künstler heraus, der eine Popularisierung der Avantgarde betrieb und der wie kein anderer zum „Mitmachen“ einlud. Als Aktionist der Ersten Stunde wird Anatol als ein Anreger aktueller Kunstformen wie Performance und participatory art vorgestellt.
In einem begleitenden Rahmenprogramm werden einzelne Aspekte der Ausstellung aufgegriffen und in Aktionen sowie Vorträgen und Diskussionen publikumsorientiert vertieft. In Kooperation mit der Stiftung Insel Hombroich, wird es einen Shuttle zu Anatols Atelier und dem “Müller-Raum” geben, seiner zentraler Wirkstätte und einzigartigen Memorialstätte.
Die Ausstellung im WELTKUNSTZIMMER wird kuratiert von Carl Friedrich Schröer
WELTKUNSTZIMMER – 03. bis 27.September 2020
Öffnungszeiten Donnerst bis Sonntag 14.00 – 18.00 Uhr u. n. V. // Eintritt frei
Klangperformance zur Eröffnung: “… — …” von/mit Thilo Schölpen
02.September 2020, 19 Uhr
Thilo Schölpen ist ein deutscher Musiker, Komponist
und Musikproduzent, der auf experimentelle Musik,
Avantgarde und Performance spezialisiert ist.
Fotos: Hals Albrecht Lusznat
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