„Ich fühle mich immer am Anfang“

Pia Fries zum 70. Geburtstag

Bei der Arbeit. Pia Fries im Atelier Höherweg. Foto C. F. Schröer

Für ihre neue Ausstellung musste sich Pia Fries noch mal richtig aus dem Fenster lehnen. Wie ja überhaupt jede neue Ausstellung für sie eine eigene Herausforderung ist. „Ich fühle mich immer am Anfang“, klagt sie, gar nicht unfroh über diesen Dauerzustand. Am Anfang gibt es immer noch viel zu entdecken.

Aus ungestillter Neugier und Welterfahrungsunruhe speist sich ihre unentwegte Malerlust. Ein sisyphotisches Glück. Das hält sie wach und treibt sie jeden Tag, jeden freie Minute ins Atelier: malen, weitermachen, von vorne anfangen. Ihr Ehrgeiz: „Noch eine grandiose Zeichnung machen, noch ein gewagteres Bild.“ Ihre Unruhe wächst: „Je älter ich werde, desto weniger Zeit habe ich.“

Routine kennt sie bei alledem auch, dazu ist sie lange genug im Geschäft. Aber jetzt Beromünstler. Von den Einheimischen „Möischter“ gerufen, im oberen Wynental gelegen, Zentralschweiz. Wahrlich kein Weltkunstplatz. Hier stammt sie her, hier in diesem „Flecken“ ist sie 1955 in den Gasthof „Zum Ochsen“ (oder Französisch: „Hôtel du boef d’or“) als fünftes Kind der Wirtsleute geboren; und jetzt diese Ausstellung im Haus zum Dolder gleich gegenüber.

Der Hausarzt hatte hier auf der Fälcke in einem stattlichen Bau aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, sein Domizil und führte lange Jahre seine Praxis bis auch er starb. Als Kind stürzte Pia einmal vom Balkon des Elternhauses, stieß sich den Kopf übel auf, worauf der Vater seine Tochter hinüber zu Dr. Müller brachte. Der nähte die Platzwunde geschwinde zu. Pia Fries tippt sich an die Stirn: „Da, die Narbe habe ich noch.“

Löwen-Apotheke, alchemilla und Löwenplastiken, Foto Christian Hartmann

Da, gegenüber vom Elternhaus, soll nun, sechs Jahrzehnte später, die Ausstellung sein. Die Heimkehr der verlorenen Tochter. Das Behandlungszimmer von Dr. Müller hat sie sich vorgenommen für die Verwandlung. Beim Hausarzt ist es die Kraft zur Heilung, bei der Malerin die wundersame Wandlung von Malgrund und Malmittel zu Kunst. Im Sprechzimmer steht bis heute die alte Apotheke in Schränken und Regalen hinter dem Schreibtisch.

Als wissbegierige Frau stieß Pia Fries vor über zwanzig Jahren auf eine Ausgabe einer anderen Reisenden, Maria Sibylla Merians „Raupenbuch” („Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumen-nahrung“) von 1679. Das Druckwerk wurde ihr zur Anregung einer weiteren Werkgruppe. Ohnehin arbeitet sie gerne in Serien, die da heißen: floredot / heliopedi, durch sieben siebe, bric-à-brac, pylon / parapylon, corpus transludi, der name der farbe, weisswirt & maserzug, palimpsest, polypogon, musselin.

Die Tafeln der Merian über die Verwandlung der Raupen in schönste Schmetterlinge boten reichlich Material zu eigenen malerischen Paraphrasen und Metamorphosen. Aus der Werkgruppe „black flowers” hat Pia Fries für das Behandlungszimmer vier Monotypien und das Ölbild surinam `les aquarelles de leningrad` ausgewählt. Überhaupt stehen Malerei und graphischen Arbeiten im Schaffen von Pia Fries nebeneinander, ergänzen sich, fließen zusammen, bedingen sich. Wie hier im Haus zum Dolder, wo ein Faksimile der Merian eine Übermalung durch Fries erfährt.

Grünes Zimmer, durch sieben siebe und Hl Sebastian, Foto Christian Hartmann

Indem sie alle Räume des historischen Gebäudes, vom Gewölbekeller zum Grünen Zimmer bis zur Schlafkammer entsprechend den Gegebenheiten mit ihren Werken schmückt, ist in Beromünster ihre erste situationsbezogene Ausstellung entstanden und eine kleine Retrospektive dazu.

Den Weg aus diesem Flecken hinaus in die Welt der Malerei ging sie dann doch ungewöhnlich unbeirrt und folgerichtig, eine Ochsentour gleichwohl. Als jüngstes Kind, „vier waren vor mir“, ging es erst mal in die Klosterschule. In Möischter gab es Bilder nur in der mittelalterlichen Stiftskirche St. Michael. Aber der Kunstunterricht bei den Nonnen war gut und gab den Weg frei zur Kunstgewerbeschule in der Kantonhauptstadt Luzern. Von da wagte sie den Schritt in die „freie Kunst“, zog an die Malerakademie nach Düsseldorf. Später lehrte sie selbst an der Kunstakademie Düsseldorf, in Karlsruhe, in Berlin, dann ab 2014 Malerei und Grafik in München.

Aber was malen? stand am Anfang. Bei wem studieren? Ende der Siebziger Jahre herrschten in Düsseldorf Happening, Fluxus und Joseph Beuys. Erst nach einem Jahr im Ortientierungsbereich wagte sie es, bei Gerhard Richter anzuklopfen. Der nahm die junge Frau in seine Klasse auf. Da hat sich sofort ernstgenommen gefühlt. „Auch wenn die Kritik manchmal hart war.“ Ihren berühmten Professor hat sie als scheuen Menschen, aber „immer ernsthaft“ in Erinnerung. „Wenn nur Wenige da waren, morgens um zehn Uhr, konnte man gute Gespräche mit ihm führen.“

Unbeirrt ist vielleicht ein gewagtes Wort. Doch entwickelt Pia Fries ihre Malerei mit langem Atem und großer Beharrlichkeit. Seit bald dreißig Jahren schafft sie in ihrem Atelier auf dem Höherweg in Düsseldorf und sagt heute: „Wenn ich länger nicht ins Atelier gehe, werde ich unzufrieden.“ Mit Hans Brändli, ihrem Mann, bildet sie eine langjährige Künstlergemeinschaft und erst in diesem Sommer kam es zu einer ersten Gemeinschaftsausstellung, „Soloduo“ in der Neuen Galerie Bitburg.

Ihr geht es beileibe nicht darum, die Malerei neu zu erfinden, allerdings neu zu fundieren.  Beharrlich wie leidenschaftlich ergründet sie die Malerei als Malerei immer wieder erneut und fragt: Wie lässt sich die Wahrheit der Wahrheit anders als in der Malerei wiederherstellen?

Fries malt mit Farbe. Im doppelten Sinn des Wortes setzt sie Farbe zweiwertig ein: als Farbwert und als Farbmaterie. Beide Qualitäten setzt sie mit Vehemenz und Leidenschaft gegeneinander: pastose, schrundige Farbkulster, leuchtend, kontrastierende Farbkaskaden. Beides überaus kraftvoll, an den Rand dessen gewagt, was das traditionelle Bild verkraftet. Virtuos, wäre nicht das richtige Wort: eher sublim. Erschreckend und furios, farbschlächtig wie farbversessen.

laret, Foto Hans Brändli

Die Farbe als ureigentliches Malermaterial ist ihr Formgelegenheit und Formherausforderung. Sie schwelgt in Farbe, traktiert sie, druckt, zerdrückt sie, schabt, streicht, streichelt, fetzt, kleckst, lässt sie tropfen, zu fetten Farbwülsten hervorstehen und fährt das Ding jedes Mal voll vor die Wand. Jedenfalls dort, wo das Drama augenscheinlich und die Farbsetzung zur Sensation wird. In unvorstellbaren Variationen konträrer, frei flottierender Formen und Formfetzen bringe sie ihre Bilder in eine Spannung zwischen völliger Auflösung und meisterlicher Setzung.

Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass Bilder auf etwas verweisen, das man gerade nicht sehen kann. Das Sichtbare wird generiert durch etwas Unsichtbares und hängt von ihm ab. Was im Bild zählt, ist nicht nur das unmittelbar Gezeigte und Einleuchtende, sondern es sind auch die Elemente, von denen zunächst eine gewisse Stummheit ausgeht. Immer bleibt bei einem Bild eine Lücke zwischen dem Sichtbaren und dem Gedachten, dem Sichtbaren und dem Schweigen. Bei Fries sind es die weißen Flecken, die unbemalten Leerstellen, die uns (vielleicht) auf die Sprünge helfen.  

Pia Fries verfügt krass über Farben und Techniken, collagiert und zitiert, fügt ein und lässt frei, verbindet über Jahrhunderte hin weg alle erdenklichen Motive und Materialien und ist darüber zu einer der größten Malerin unter den Lebenden geworden.

C.F. Schröer


Pia Fries- farbwirtschaft im fleckenhaus
vom 10. Oktober bis 30. November
Haus zum Dolder, Beromünster, Schweiz

Pia Fries  Hans Brändli Soloduo
bis 18. Januar 2026
Neue Galerie Bitburg, Bedaplatz 1, Bitburg


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