Was unsere Zeit ausmacht, ist genau der Salonmüll, unwichtig, aufgebläht und albern, den wir in ungeheuerlichen Massen produzieren, den wir diskutieren, kommentieren, in Ausstellungen, Texten, Filmen, Aufführungen dokumentieren, der schlicht das geistige Leben unserer Zeit ist. Kunst ist irgendwo anders. Gerhard Richter
Wo, wenn nicht in Leipzig, ließe sich etwas über den akuten Zustand der Kunst erfahren. Das alte Gelände der Baumwollspinnerei, draußen in Lindenau, ist vielleicht nach wie vor das schönste und lebendigste Kunstareal der Republik.
Also gleich mal rein. „Zentrum für Zeitgenössische Kunst“ nennt sich etwas sehr selbstbewusst diese gemeinnützige Kunsthalle in Halle 14 der alten Backsteinfabrik. Verhandelt wird hier die Zukunft. The Future of Cities. Not for Granted, ein dreiteiliges Projekt, das die Kulturstiftung des Bundes initiiert und gemeinsam mit der Bundeskulturministerin auch bezahlt hat, malt eher ein düsteres Bild. Es geht es um Städtebau und um vieles mehr, um die Frage wie Städtebau auf das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung und die damit verbundene Erderwärmung, das dadurch verursachte Ansteigen des Meerwasserpegels, die dadurch ausgelösten Flüchtlingswellen und weitere Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes, reagieren kann.
„Die katastrophalen Folgen der Erderwärmung wie Dürre und Überschwemmungen treiben weitere Menschen vom Land in die Städte. Der Anteil der Weltbevölkerung auf der Flucht war nie so hoch wie heute. Notgedrungen ist die Zukunft der Stadt Teil der geosozialen Frage nach dem Überleben aller Spezies auf unserem Planeten,“ bekomme ich als Beipackzettel mit auf den Weg durch die Ausstellung. Dramatisch schöne Bilder von der dahin schmelzenden Eiskappe über Grönland zeigt ein Video, verängstigte Gesichter von Frauen aus Rudrapur im Norden einer der dichtbesiedelsten Regionen der Erde (die Wachstumsrate der Bevölkerung beträgt hier über zwei Prozent) werden auf Fotografien gezeigt. 4,2 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, leben in Bangladesch von der Arbeit in Textilfabriken, die aber liegen in den großen Städten, erklärt ein Wandtext. Eigentlich eine prima Vorlage, von der stillgelegten Baumwollspinnerei hier zu den boomenden Textilfabriken dort einen Bogen zu spannen.
“Was wäre, wenn sich in der Architektur ein Begriff von Schönheit durchsetzte, der nicht den Luxus für das eine Prozent meinte, sondern als „erste Geste der Fürsorge und Liebe“, fragt Raul Pantaleo. Der Mitbegründer von TAMassociati (auf der Architektur-Biennale von Venedig 2016 kuratierten sie im zentralen Pavillon die Schau „Taking Care – Designing for the Common Good“) ist sich sicher: „weltweit bedarf es zukünftig großer Veränderung, wir brauchen einen ethischen und ökologischen -Ansatz in der Architektur. Wir entwerfen gerade ein Krankenhaus, wir kooperieren mit einer Organisation, die an der Bekämpfung von COVID-19 arbeitet, wir helfen bei der Gestaltung eines Notfallspitals. … Ich habe immer Ethik, Ökonomie und Ökologie zusammengebracht. Hoffentlich wird das in Zukunft vermehrt geschehen. Sonst machen wir nämlich wieder so weiter wie gewohnt. Aber wir haben keine Zeit mehr für business as usual.“
Klimawandel, Migration und Digitalisierung sind also die großen Herausforderungen für die Stadtplaner von heute. Aber nirgends wird die Frage gestellt, ob die vorgestellten Projekte überhaupt in der Lage sein werden, den großen Herausforderungen standzuhalten.
Beim Gang durch diese Ausstellung fällt auf, dass völlig einerlei scheint, ob es sich bei den elf Beispielen um Kunst oder Städtebau, um Architektur oder soziales Engagement handelt. Aber ist es angesichts der massiv hereinbrechenden Gefahren nicht längst obsolet, Kunst als eigene Kraft zu denken? Im Leipziger Zentrum für Zeitgenössische Kunst wird jedenfalls mehr an der Rettung der Welt gearbeitet als nach der Rolle der Kunst dabei gefragt. Schönheit und Formwille haben hier nur insoweit eine Überlebensberechtigung, wo sie sich in die Pflicht einer Umweltpolitik nehmen lassen.
Corinne von Lebusa zeigt bezwingende Innensichten unterkühlter Beziehungen
Wo bleibt eigentlich die Kunst, jetzt wo es überall darum geht, die Welt zu retten? Also schnell auf die andere Seite der Spinnerei gewechselt, hinüber zur Galerie Kleindienst. Dort finde ich mich in der Einzelausstellung von Corinne von Lebusa wieder.
Die Künstlerin (geb.1978) zeigt Interieurs, intime Szenen, Beziehungsgeschichten, die eigentümlich bunt und lustig sind, doch bei aller Sinnlichkeit wie schockgefroren wirken. Alle sind sich hier fremd. Die Paare verharren in einer gepflegten Unbeziehung. Es herrscht klirrende Sprachlosigkeit, eine erschreckende Unfähigkeit überhaupt zu jeder Berührung. Eisige Erotik.
„Ich friere nicht“, heißt eines dieser wunderlichen Interieurs. Auf der einen Seite des frisch bezogenen Doppelbetts sieht man eine Frau, halb liegend, halb sitzend, nackt, mit gespreizten Beinen. Das weiße Bettzeug hat sie sich über das linke Bein gezogen, so dass nicht gleich klar wird, ob da neben ihr wer liegt. Die junge Frau aber blickt aus dem Bild. Vielleicht auf eine Tür, ein offenes Fenster. Im Bild „Giraffe fängt Kaninchen“ sieht man ein Paar. Das große, moderne Zimmer ist durch eine wandhohe Verglasung von der Welt draußen abgeschirmt. Die Frau, nackt bis auf einen Leopardenslip, bedient den Staubsauger. Auf dem Bett liegt ein Mann nur halb mit einem roten Tuch bedeckt. Die junge Frau führt aus einiger Entfernung den Rüssel des Bodenstaubsaugers wie einen Tastarm über das Textil da auf dem Bett bis ziemlich in die Nähe seiner erogenen Zone. Seinen Kopf sieht man nicht.
„Ennui“ heißt eines der großen neuen Bilder (140 x 100 cm). Es zeigt eine heitere Badeszene. Ein Mann in Unterhose aber hält die leicht laszive Gelegenheit nicht aus. Aus einem Schlauch lässt er sich kaltes Wasser über sein Gesicht laufen.
Es ist dieser Ennui, der die Grundstimmung der Bilder Corinne von Lebusas ausmacht. Es handelt sich aber nicht einfach um Langeweile. Es ist die pure Erwartungslosigkeit und ein distanzierter Beobachtermodus. „Man erwartet etwas, nichts passiert. Ist aber o.k.“, sagt sie in einem ihrer lakonischen Ennui-Sätze. Oder: „Es muss gar nichts passieren. Aber trotzdem ist alles arschlangweilig. Zum Glück habe ich noch so einen Grundhumor, um es erträglicher zu machen. Erträglicher, weil es darum schon gar nicht mehr geht.“
Beim Leiden an der Banalität will sie es nicht belassen. Als Künstlerin hat sie gelernt, „frei und unabhängig selber bestimmen zu können und vielleicht auf die Schnauze zu fallen.“ Sie fand es lange als ein großes Manko aus Lebusa zu kommen, „aus so nem Pupsdorf“. Dann machte sie ihr Manko zu ihrer Stärke und nannte sich fortan von Lebusa. Wie ja auch die Kollegen Leonardo, Franz oder Georg ihre Geburtsstadt zu ihrem Namen machten.
Freiheit und Poesie, die Abwesenheit des gleichzeitig sich vollziehenden Weltdramas in Aquarellfarben. Aquarell auf Pappe, Aquarelle hinter Museumsglas. Ganz so heiter wie es die Farben nahelegen, ist auch hier nichts. Es herrscht eine täuschende, trügerische Gelassenheit, die eher schon eine Verlassenheit und Isolation bedeutet. Zart erscheinen die Frauen, schön und verletzlich. Stark allein in ihrer Selbstbezogenheit. Kann man heute als Künstlerin so bestehen, kann man der Welt so trotzen?
Keiner guckt keinen an. Alle blicken woanders hin. Meistens ins Leere, aus dem Bild als suchten die paar Augen da jemand außerhalb (des Bildrahmens, des Ausstellungsraums). Oder auch gar nicht. Einfach nur wohin. Es gibt auch verstohlene Blicke von draußen. Hinter hohen Glasscheiben sind graue Männer mit der Gartenarbeit beschäftigt, zwei Schöne relaxen, posieren drinnen im wohl klimatisierten Glashaus. Durch die Scheiben zwei Welten, zwei Klimazonen.
Innehalten in Dresden
Tags darauf nach Dresden zur Vermeer Ausstellung „Innehalten“. Auf dem Weg dahin stoße ich auf die Fridays for Future-Demo. GLOBALER KLIMASTREIK AlleFürsKlima zieht durch die Dresdner Neustadt. Die Gemäldegalerie Alte Meister zeigt das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ (samt freigelegtem Cupido) zusammen mit neun weiteren Werken Vermeers und etwa 50 Werken der holländischen Genremalerei. Merkwürdig die Innenansichten aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Niederlande hatte nach 80jährigem, wahrlich blutigem Freiheitskampf eben erst ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone erstritten. Und nun diese „Interieurs“, eine Spezialität, die Johannes Vermeer, Pieter de Hooch, Gerard ter Borch u.a. in Delft erfunden haben. Weltabgewandt und welterfüllt, Spiegelungen der Seele und Spiegel der Zeit. Intime Szenen, Beschaulichkeit und bürgerliche Ordnung. Über allem Vermeer, der es nicht dabei beließ, dem Geschmack seiner Auftraggeber und Sammler zu schmeicheln und auch nicht mit seiner Kunst die Welt retten wollte. Aber die Kunst meinte und zu einem neuen Höhepunkt führte, indem er seinen stummen Bildern eine Innigkeit und Poesie verlieh und mit einzigartiger malerischer Könnerschaft ausführte. Auch bei Vermeer keine Idylle. Auch hier findet die Kommunikation unter den Paaren nicht statt, auch hier, wie bei Corinne von Lebusa, blicken die Damen fragend aus dem Bild, aus dem Rahmen zu uns hinüber.
Goldenes Zeitalter, Klimawandel. „Ich habe mich hier reingemogelt, wie aus einem anderen Jahrhundert“, sagt die Leipziger Künstlerin. Und auch: „Ich will durch die Kunst leben. Das kann ich nur, indem ich mich distanziere vom Kunstbetrieb, weil da ja eigentlich viele dasselbe machen. Öl auf Leinwand, fand ich sogar ekelig.“
The Future of Cities. Not for Granted
bis zum 29. Januar
Corinne von LEBUSA / Alles oder Dich
bis zum 23. Oktober