Ein Brief erreichte uns dieser Tage aus Istanbul. „Ist es dort auch so heiß wie hier?“ – Kollege Bülent Mumay schreibt nicht vom Absturz der türkischen Lira, sondern von der neuen Nationalfarbe: Türkis. Immerhin eine kalte Farbe. Aber wieso neue Nationalfarbe? – “Lassen Sie mich erzählen, wie Türkis zur sakralen Farbe wurde“ schreibt Bülent. Das Wort für den Farbton zwischen Blau und Grün stammt von dem französischen Wort für „türkisch“, turquoise. In älteren Texte finden sich Spuren von Türkis als die Farbe der Türken. Doch ist die schöne Farbe im Mittleren Osten und in Asien für zahlreiche Völker von Bedeutung.
Türkis ist nun mal Erdogans Lieblingsfarbe, also wird die Türkei seit seinem Amtsantritt regelrecht türkis gestrichen. Türkis hat schrittweise die türkische Nationalfarbe Rot ersetzt, weil Erdogan sie gewissermaßen heilig sprach: „Türkis ist unsere Nationalfarbe.“
Am Anfang wich das Rot im staatlichen Protokoll allmählich dem Türkis. „Über Nacht wurden die Uniformen der Polizisten, die wichtige Einrichtungen wie das Parlament und den Amtssitz des Präsidenten bewachen, türkis. Ebenso wechselten auf den Fluren des Parlaments und die vor ausländischen Staatsgästen ausgerollten Teppiche zu Erdogans Farbe. An die Parlamentsabgeordneten verteilte Kalender, Planer, Notizhefte sind auch nicht mehr rot. Sogar das vom Parlament gedruckte Büchlein mit der Verfassung ist türkis. Selbstverständlich wurde Erdogans 1150-Zimmer-Palast in dieser Farbe eingerichtet, und die Uniformen der Palastwachen und -reiter sind ebenfalls türkis“, schreib Bülent.
Sein Brief bringt den Farbenwechsel in Zusammenhang mit einer anderen Leidenschaft des türkischen Staats- und Regierungschefs. Er will seinem Land nicht nur eine neue Farbe verpassen, sondern ihm überhaupt seinen Stempel aufdrücken.
Schon die Herrscher des Osmanischen Reichs, auf dessen Trümmern die Republik errichtet wurde, taten das. Vor allem Mitte-rechts-Regierungen sorgten dafür, dass der „osmanische Geist“ auch die Republikzeit prägte. Die Osmanen zielten auf die Weltherrschaft unter muslimischem Banner und drückten allen eroberten Gebieten ihren Stempel auf.
Diese Tradition versüßt noch heute die Träume unserer Politiker, schreibt Bülent – nicht etwa, weil sie neue Territorien erobert hätten. „Vielmehr geht es ihnen, kaum an der Macht, darum, das Gebiet, in dem wir seit Jahrhunderten leben, neu zu prägen. Man wird sie mit Vorhaben in Erinnerung behalten, die anmuten, als sollte damit die osmanische Eroberungstradition fortgesetzt werden. Sie wollen mit dem Bau gigantischer Brücken, Staudämme und Gebäude gleich phallischen Symbolen in die Geschichte eingehen. Es wird Ihnen sonderbar vorkommen, aber in der Türkei bleibt eine Regierung mit solcherlei Investitionen im Gedächtnis, nicht etwa damit, ein Klima der Freiheit und des Wohlstands geschaffen zu haben. Es ist kein Zufall, dass der damalige Premier Süleyman Demirel in den Siebzigern die erste Istanbuler Bosporus-Brücke bauen ließ und in den Achtzigern Turgut Özal die zweite einweihte. Die dritte Brücke über denselben Bosporus zu bauen fiel natürlich Recep Tayyip Erdogan zu.“
Er ist zweifelsohne der Politiker, der die Sache mit dem Stempelaufdrücken ernster nimmt als alle anderen. Als Istanbuler Bürgermeister liebte er es, seine Unterschrift unter die gewöhnlichsten Vorhaben zu setzen. Beim Bau einer Straßenunterführung oder der Erneuerung einer Bushaltestelle ließ er unbedingt vermerken, das Werk sei in seiner Amtszeit vollbracht worden. Diese Attitüde hat sich auf Erdogans Weg vom Bürgermeister zum Alleinherrscher über die Türkei nicht geändert. „Immer will er von allem das Größte. Missverstehen Sie mich nicht, es geht nicht um große Leistungen in Bereichen wie Bildung, Wissenschaft oder Kunst. Erdogan brüstet sich vielmehr damit, das größte Gefängnis und das größte Gerichtsgebäude Europas errichtet zu haben. Gerechtigkeit sollte dabei nicht herauskommen. Es dauerte gerade einmal sechzehn Jahre, bis uns das klar wurde.“
Die Sache mit dem Prägen hat unter Erdogan eine neue Dimension angenommen. Es geht nicht mehr allein um Straßen oder Brücken mit seinem Namen, es geht um die Umgestaltung des gesamten Landes. Nicht nur, dass er das System geändert und eine unmittelbar an seine Person gebundene Struktur geschaffen hat. „Erdogan gibt dem Land seine Farbe, und zwar nicht im übertragenen Sinn, nein, buchstäblich macht er seine Lieblingsfarbe zur Farbe des Landes.“
In diesem Zusammenhang sollte man sich vielleicht noch mal das Video reinziehen, das Mesut Özil vor knapp einem Jahr bei Youtube postete # Mesut Özil $10 Million Dollar London House Tour, in dem der Deutsche Nationalspieler seine neue Londoner Bleibe vorstellt. Özil trägt da auffällige türkise Turnschuhe. Zufall? Bekenntnis? Ans Eingemachte geht es als Özil uns sein Lieblingszimmer („my favorite room“) vorstellt. Er öffnet persönlich die weißlackierte Tür und gibt uns Einblick in einen prächtigen Salon. „Hier verbringe ich viel Zeit mit meinen Freunden“, macht er uns ganz schön neugierig. Welche Freunde er meint, verrät er leider nicht. Wir sehen ein großzügiges türkisches Ecksofa, viele, viele Kissen und darüber drei große Ölgemälde in goldenen Prunkrahmen. Eine Moschee ist da zu erkennen und zwei Palastszenen aus alten Zeiten. Sammelt Özil Kunst?
Es geht ihm offenbar mehr um die Inhalte der Bilder. Ein Bild rückt näher in den Blick. Ein Zoom: Großaufnahmen zeigen das Portrait Mehmed II. Özil erklärt uns: „Er eroberte die Stadt, Istanbul“. – Ach so!
Nun könnte man denken, was da ein Fußballspieler bei sich zu Hause für Kunstwerke hängen hat, geht niemanden was an. Wenn Özil sich aber demonstrativ vor dieses Portraitbild stellt und die Eroberung des ottomanischen Sultans derart lobend herausstellt, wird daraus eine Botschaft. Özils Botschaft: Sieh mal, wen ich da bei mir zu Hause habe. Den, der die Christen aus Konstantinopel endgültig verjagt hat. Denn das Homevideo ist eigens für die Verbreitung im Internet fabriziert worden. Özil folgen 70 Millionen Menschen – Follower. Da wird ein türkiser Schuh draus und ein Geschäft dazu. Warum der in Gelsenkirchen geborene Nationalspieler die Tat Mehmed II preist, ist da kein Zufall, sondern ein Plan. Eine Marketingstrategie. Und für die ist Mananager Erkut Sögüt verantwortlich, ein Deutschtürke wie Özil, auch er von Deutschland enttäuscht, auch er hat seinen Firmensitz vor Jahren nach London verlegt. Özil ist Sögüts dickster Fisch, Sögüt ist Özils Berater.
Özils Sympathiewerte in den social medias lagen hierzulande immer unter denen seiner deutschen Mitkicker. Doch dann merkte Sögüt wie gut die Marke Özil global funktioniert, besonders bei seinen muslimischen Fans, seiner wichtigsten Zielgruppe. An die richtet sich auch die Botschaft des Homevideos. Sieh da! Ich habe es geschafft, bis ganz nach oben. Mögen deutsche Werbepartner wie Daimler ihm teuerste Mercedes-Luxuslimusinen vor die Tür stellen, Adidas die Schränke mit feinstem Schuhwerk vollstopfen, er hält unbeirrt zu Mehmed II. Der heißt in der islamischen Welt Ebū ʾl-Fetḥ ‚Vater der Eroberung‘ oder kurz Fātiḥ‚ der Eroberer. 1453 eroberte er Konstantinopel und besiegelte damit das Ende des christlichen Byzantinischen Reiches nach über 1000 Jahren. Auch verstand sich als fanatischer Glaubenskrieger. Auch darauf spielt Özil an. Deshalb das Bild mit Erdogan im Wahlkampf. Stimmt schon, irgendwas muß bei der Integration Özils schief gelaufen sein. Es stellt sich bei allen Geschäften die Frage, wie radikal muslimisch, oder radikal nationalistisch Özil wirklich denkt, der sich seinerseits über „ein Gefühl des Rassismus“ beklagt, das ihm aus Deutschland entgegen schlage. Özils zweit-erfolgreichster Tweet aller Zeiten zeigt ihn als Gläubigen im weißen Gewand in Mekka. Volltreffer: 50 Millionen Clicks.
Aber wer vom DFB fragte eigentlich nach der Veröffentlichung des Videos bei Özil nach, wie ernst er denn die Sache mit dem Triumpf Mehmed II über die Christen meint? Wie steht Özil beispielsweise zum Osmanischen Reich? Der planmäßigen und nationalistisch motivierten Vernichtung der Armenier durch die Osmanen. Der Bundestag etwa verurteilte im Juni 2016 die Massaker an den Armeniern fast einstimmig als Völkermord.
Indem Özil den Eroberer und die Eroberung Konstantinopels preist, feiert er zugleich die Niederlage des Christentums gegen die Muslime.
Präsident Erdogan wiederum trat jetzt in Ankara vor die Öffentlichkeit und kam erneut auf die Causa Özil zu sprechen. Es sei „inakzeptabel, einen jungen Mann wie Özil, der alles für die deutsche Nationalmannschaft gegeben habe, wegen seines religiösen Glaubens so rassistisch zu behandeln.“ Er habe am Montag mit Özil gesprochen. „Das Vorgehen des Spielers verdiene jede Art der Bewunderung.“
Mit der Lobpreisung des Eroberers und der Eroberung Konstantinopels feiert Özil auch die Niederlage des Christentums durch die Muslime.
Präsident Erdogan hingegen trat nun in Ankara vor die Öffentlichkeit und kam erneut auf den Fall Özil zu sprechen. Es sei “inakzeptabel, einen jungen Mann wie Özil, der alles für die deutsche Nationalmannschaft gegeben hat, wegen seiner religiösen Überzeugung so rassistisch zu behandeln”. Er sprach am Montag mit Özil. “Die Herangehensweise des Spielers verdient jede Art von Bewunderung.”
In der Türkei stehen nach dem jüngsten Drei-Monats-Bericht des Unabhängigen Kommunikationsnetzwerks BIA zufolge zurzeit 315 Journalisten wegen Tätigkeiten im Zuge ihrer Berufsausübung vor Gericht. 47 von ihnen droht lebenslange Haft unter verschärften Bedingungen. Der Rest soll für insgesamt mehr als 3000 Jahre hinter Gitter. 127 Journalisten waren zu Beginn des zweiten Halbjahres 2018 inhaftiert. Bis Oktober 2015 leite Bülent Mumay die Online-Redaktion der Zeitung „Hürriyet“. Auf Druck durch Ergodan wurde er entlassen und nach dem Putschversuch im Sommer 2016 kurzzeitig festgenommen. Im Internet berichtet er weiterhin über die Veränderungen in seiner Heimat.
Redaktionelle Mitarbeit Benita Ortwein