Von Jörg Restorff
Ohne mit der Wimper zu zucken, zerschmetterte der so sanftmütig wirkende Artist auch schon mal eine Violine. Während er Beethovens „Mondscheinsonate“ auf dem Klavier zum Besten gab, ließ er die Hüllen fallen. Adagio sostenuto mit Striptease, das hatte die Kunstwelt bis dato noch nicht gesehen.
Bei seinen Fluxus-Konzerten wusste Nam June Paik eine kongeniale Gefährtin an seiner Seite: Charlotte Moorman. Sie spielt in der Ausstellung im Dortmunder Museum Ostwall eine tragende Rolle. Beinahe drei Jahrzehnte stand die betörende Cellistin (1933–1991) mit im Zentrum von Paiks Aktionsmusik. Mal platzierte er sie auf einem Bett aus TV-Monitoren – hier spielte sie ihr Solo auf dem Cello in ungewohnt liegender Position. Bei anderer Gelegenheit spielte sie auf einem Elektro-Cello, das Paik aus drei Fernsehgeräten zusammengebaut hatte. Auch Moorman zog bei den gemeinsamen Performances regelmäßig blank. Was damals schockierte, wirkt heute harmlos – und seltsam antiquiert. Fluxus ist alt geworden, aber nicht gut gealtert.
Doch Nam June Paik hatte auch eine andere, eine meditative Seite: Seine in Dortmund präsentierte Arbeit „Zen for Film“ von 1964 besteht aus einem Filmprojektor, der ein weißes Bild an die Wand wirft. Tritt man dazwischen, wird man als Schattenriss eingebunden in die kontemplativ anmutende Szenerie.
Er starb 2006 im Alter von 73 Jahren, ist aber als „Vater der Videokunst“ nach wie vor sehr präsent. Nam June Paik machte den Bildern Beine, als Medienkunst noch eine exotische Enklave des künstlerischen Schaffens war. Schon in den frühen 1960er-Jahren baute der in Südkorea geborene US-Amerikaner Brücken zwischen Installation und Musik – inzwischen sind solche Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung. Nicht zuletzt gehörte Paik zu den Vorreitern von Performance und Provokation – heute ist das Performative Mainstream, und mit Tabubrüchen kann man in einer weitgehend enttabuisierten Welt längst keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken.
Wie gegenwärtig ist Paik angesichts solcher Zeitgeist-Verschiebungen? Wie vital und gegenwartsrelevant seine Kunst? Und welchen Beitrag leistete das Multitalent zur experimentellen Musik? Antworten darauf sucht das Dortmunder Museum Ostwall mit seiner Paik-Schau „I Expose the Music“. Fluxus ist einer der Schwerpunkte des städtischen Museums, das im sechsten Geschoss des Dortmunder U rund 100 Paik-Exponate versammelt. Präsentiert werden hier Partituren und fotografische Dokumentationen seiner musikalischen Darbietungen, Live-TV-Sendungen, Installationen, Medienskulpturen, Videos, Handlungsanweisungen und Plakate. Highlight der Schau ist die „Sistine Chapel“ von 1993 – ein Vorläufer der immersiven Welten, die inzwischen auf breiter Front in den Kunstbetrieb Einzug gehalten haben.
Kuratoren, die Retrospektiven von Künstlern des 20. Jahrhunderts vorbereiten, suchen gern die Tuchfühlung zur zeitgenössischen Produktion. So auch die Dortmunder Ausstellungsmacher Rudolf Frieling, Christina Danick und Stefanie Weißhorn-Ponert. Sie luden vier Gegenwartskünstler nach Dortmund ein, um die Hommage ins 21. Jahrhundert zu verlängern: Vor der Kulisse von Paiks nie aufgeführter „Sinfonie for 20 Rooms“ präsentieren Aki Onda, Autumn Knight, Annika Kahrs und Samson Young wechselnde Installationen und Performances.
Damit nicht genug der Bezüge zur Gegenwartskunst: Der Nam June Paik Award, mit dem die in Düsseldorf ansässige Kunststiftung NRW seit 2002 Künstler ehrt, die experimentell und medienbasiert arbeiten, geht an Camille Norment. Die Soundkünstlerin, die an das interdisziplinäre Schaffen des großen Vorgängers anknüpft, kann am 27. August im Grimme-Institut in Marl den mit 25 000 Euro dotierten Preis in Empfang nehmen. Anschließend wird im nahegelegenen Marler Skulpturenpark Norments „Glass Sound Pavilion“ eingeweiht.
Inspiriert von John Cage
Weil Nam June Paik im Bewusstsein der Kunstöffentlichkeit vornehmlich als Fluxus-Pionier verankert ist, gerät bisweilen in Vergessenheit, dass am Anfang seiner Laufbahn die Musik stand. Aus Seoul kam er zu Beginn der sechziger Jahre nach Köln – gemeinsam mit dem vier Jahre älteren Komponisten Karlheinz Stockhausen erprobte er im Studio für elektronische Musik des WDR neue musikalische Ausdrucksformen. Eine zentrale Quelle der Inspiration war John Cage. In Paiks Manifest „Postmusic“ entwickelte der Grenzgänger seine Vorstellungen von einer aktionsgeladenen „Musik nach der klassischen Musik“. Aufführung und Ausstellung – für Nam June Paik waren das zwei Seiten einer Medaille, wie die Dortmunder Ausstellung mit vielen Beispielen und Dokumenten darlegt.
Zu sehen sind beispielsweise Sinfonien und Partituren, Handlungsanweisungen, Instrumente, Klangobjekte und Toninstallationen. Für eine Karriere als Pianist reichten Nam June Paiks Künste am Klavier nicht aus. Weltberühmt wurde er dennoch – als „the world‘s most famous bad pianist“. So hat Paik, der Sinn für Ironie hatte, sich selbst charakterisiert. In herkömmlichen Konzertsälen hätte er als Pianist keinen Lorbeer ernten können. Anders verhielt es sich auf der Fluxus-Bühne – die eroberte er im Sturm. Dabei kannte der Mann am Klavier kein Pardon, präparierte, malträtierte oder attackierte das Instrument. Alles im Dienste der Kunst, die er und seine Fluxus-Mitstreiter aus den Angeln heben wollten.
Das Fernsehgerät als Medium der Avantgarde
Die Einbindung und Aktivierung des Publikums, heute vordringliches Anliegen vieler zeitgenössischer Künstler, sie hatte Nam June Paik schon zu Beginn der sechziger Jahre auf dem Schirm. Sein wichtigstes Werkzeug war dabei das Fernsehgerät. Man hatte es fast schon vergessen: Vor dem Internet-Zeitalter war die Live-Sendung im TV das einzige Medium, um eine weltweite Community zeitgleich zu erreichen.
Bereits 1961 plante Paik ein Klavierkonzert, das parallel in San Francisco und Shanghai gespielt und live im Fernsehen übertragen werden sollte – der Plan scheiterte aus technischen Gründen. Als 1977 die documenta 6 Performances per Live-Satellitenübertragung in den Äther schickte, war Paik selbstverständlich mit von der Partie. Bei vielen Intellektuellen hatte das Fernsehen damals (wie heute) einen schlechten Leumund. Im Vorfeld des Orwell-Jahres 1984 befürchteten Kritiker, die Mattscheibe sei eine Kontrollinstanz des Staates. Wer in die Röhre gucke, geriete schlimmstenfalls in die Fänge von „Big Brother“, das war der Verdacht.
Elektronische Ode an die Freude
Dem setzte Nam June Paik ein Signal der Zuversicht entgegen: Seine Live-Sendung „Good Morning Mr. Orwell“ wurde am 1. Januar 1984 im Fernsehen ausgestrahlt. Eine elektronische Ode an die Freude: „Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt; / Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt“ – Schillers euphorische Zeilen entsprachen dem Geiste von Paiks Aktion weit eher als Orwells düstere Dystopie. Gesendet wurde aus dem Centre Pompidou in Paris und aus einem Studio des WNET-TV in New York. Die französische Sängerin Sapho, Joseph Beuys oder Yves Montand meldeten sich aus Paris. In New York beteiligten sich am Morgengruß beispielsweise Laurie Anderson, John Cage, Peter Gabriel, Allen Ginsberg, Philip Glass und Mauricio Kagel.
Im Museum Ostwall kann man das in die Jahre gekommene TV-Experiment nochmals auf sich wirken lassen. Ein Tohuwabohu der Bilder, hektisch und heterogen. Aus Populärkultur und Hochkunst mixte der Künstler eine elektronische Collage, die arg zappelig und zerfahren daherkommt. Ähnliches gilt für seine „Sistine Chapel“, die Nam June Paik bei der Venedig-Biennale von 1993 im deutschen Pavillon verwirklichte. Passend zum Genius loci diente ihm die China-Reise des Venezianers Marco Polo als Impuls für eine multimediale Inszenierung, die in Dortmund in einer Rekonstruktion von 2019 zu erleben ist. Mit einer bis dahin nicht dagewesenen Fülle von Projektoren bespielte der Künstler Wände und Decken des Biennale-Pavillons.
Wer in die furiose 4-Kanal-Video-Installation eintaucht, die von einem Zufallsgenerator gesteuert wird, begegnet Janis Joplin und David Bowie, John Cage und Joseph Beuys oder dem radikal pazifistischen Living Theatre. Michelangelos Sixtinische Kapelle im römischen Vatikan stand Pate bei dem Kunstwerk. Paik bezeichnete die Ausmalung als „großartigste Innengestaltung eines Raumes“, gab allerdings zu bedenken, dass sich die Betrachter auf Dauer langweilen könnten, da Fresken nun einmal statisch seien. Mit seinem „Lieblingsprojekt“, wie er es selbst nannte, wollte der Medien-Michelangelo dieser Langeweile vorbeugen. Das ist Paik gelungen. Kurzweilig ist seine „Sistine Chapel“ allemal – einen nachhaltigen Eindruck aber hinterlässt sie kaum.
„Nam June Paik: I Expose the Music“
Museum Ostwall im Dortmunder U
bis 27. August 2023