Die Prinzessin auf dem Sofa

Ein Sommermärchen

In der Pandemie, sagt Norika, als der Zug unter ihrem Fenster endlich vorbei ist, hat man sich das Spielzimmer gebaut, das man immer schon haben wollte. Man hatte ja weniger Ablenkung als sonst. Langweilig war da nie. Ihr unendlicher Vorrat an Material, haufenweise Illustrierte, GEO, Vogue, Elle, Apotheker Rundschau (Rentner-Bravo), Auktionskataloge, konnte so schnell nicht aufgebraucht werden. Keine Bange, er wuchs und wuchs sogar weiter an.

Wie Norika zu ihrem Sofa fand, ist eine eigene Geschichte. Wie die Jungfrau zum Kind. Serendipity eben. Es geschah mitten am helllichten Tag. Jonas, ihr leibhaftig angetrauter Ehemann, Eisenbahnfanatiker, Betonausbesserer, Verwandlungskünstler trat auf sie zu und sprach: „Jetzt habe ich unser Sofa gefunden!“ Es war Samstag, man war also wie gewöhnlich auf dem Trödelmarkt, dem größten der Stadt, weit draußen beim Großmarkt, fast schon beim Flughafen.

Schön! Allein die schiere Größe. Nur passte dieses Jumbo-Sofa-Exemplar erstens nicht rein in die gute kleine Stube und zweitens wie sollte man es überhaupt nach Hause kriegen? Und wo hin überhaupt mit dem anderen Sofa, das da schon stand?

Jonas aber hatte gesprochen und das Wort ward Tat. Ein kolossal ausladendes Polsterteil, rot und riesengroß, klares Gegenstück zu Klippan. Mit diesem Stretchdiwan, hätte man, Flügel ausfahren, leicht nach Hause fliegen können. Aber war es auch erschwinglich? 40 Euro nur, ein echter Schnapper. So beginnen Märchen.

Der Prinz im Erbsenmärchen sucht und sucht in der ganzen Welt herum und kann seine Prinzessin nicht finden. Pech eben oder die pure Selbstverhinderung. Bis sie bei ihm vor der Haustür steht. Die „Bettprobe“ allerdings, die das Märchen von Andersen noch als Clou inszeniert, muss umgeschrieben werden. Weibliche Weinerlichkeit war noch nie ein Ausweis für echte Prinzessinnen. Heulsusen sind eine Erfindung von grimmigen Märchenonkels.  

Prinzessin Norika ist da ganz anders. Sie ist siebzig und trägt schulterlanges weißes Haar. Heulen, Suchen stehen bei ihr nicht an. Von ihrer Mutter hat sie gelernt, mit dem auszukommen, was man so hat. Eher stolpert man über Dinge, die nachher verwertet werden. Das Sofa stand auch einfach so da. Es stammte aus einer Haushaltsauflösung und war, oh Wunder! in der Mitte in zwei Teile auseinandernehmbar. Die netten Verkäufer versprachen sogar, es am Abend nach Ende des Trödelmarkts quer durch die Stadt ins Wohnzimmer zu bringen. Das Polstermöbel schwebte also tatsächlich ein. Untere Ackerstraße zwischen Gleiskreuz und Worringerplatz, zweiter Hinterhof, Anbau rechts, ganz hinter durch, direkt an den Gleisen.

Das andere, grüne Sofa hatte auch so dagestanden. Zum Sperrmüll auf der Ackerstraße, Norika kam zufällig vorbeigelaufen, als Bauarbeiter es hinaushievten. Es kam direkt aus dem Puff, der gerade aufgelöst wurde, außerdem erwies es sich als total unbequem. Jetzt kam plötzlich das neue und das grüne Sofa wurde kurzerhand an Wandel in Bilk weitergegeben. 350 Euro Reingewinn.  

Das neue Sofa hat unser Leben verändert, sagt Norika noch immer fassungslos. Abends, wenn sie ihren Collagekrempel beiseite gelegt hat, liegen wir diagonal. Jonas in der einen Ecke, näher zum Fernsehen (ich glaube er hört schlecht), Norika in der anderen. Das Sofa ist nicht nur enorm lang, an die drei Meter, sondern auch ungewöhnlich tief, mindestens 1,40. Es steht da mitten im einzigen Zimmer, ausladend, einladend, rot und rundum gepolstert und ein wenig unförmig, wenn man hier Maßstäbe von Einrichtung anlegen wollte.    

In der Coronazeit, sagt Norika, wurde das neue Sofa zu ihrem Arbeitsplatz. Weil wir nirgends mehr unterwegs waren, hat sich mein Leben aufs Sofa verlagert, essen, lesen, schreiben, lieben, telefonieren, Gesichtsmasken auflegen, in Zeitschriften blättern, was ausschneiden, Bilder zusammenlegen.

Das Handy klingelt. Und weil es zum Aufladen auf dem Stuhl lag, musste Norika tatsächlich kurz mal aufstehen. Sie hätte den Kunstpreis der GROSSEN… sagte jemand ins frisch aufgeladene Mobiltelefon. Wo man mit Collagen ja sonst keinen Blumentopf gewinnen kann. Erst mal zurück aufs Sofa. Jetzt, nach dem Rummel, stehen überall in der Stadt 18/1 Großflächenplakate, Querformat in den Maßen 3,56 mal 2,52 Meter mit ihren Bildern drauf. Auch jumbomäßig. Sie hat einen befreundeten Fotografen gefragt, die alle mal zu fotografieren, alle sechzig, siebzig in Kinoleinwandformat. Ihre Vorlagen sind kaum größer als 30 mal 20 Zentimeter.

Collage, sagt Norika, ist deshalb so spannend, weil man ja nichts suchen kann. Die Teile treten in einen Zusammenhang, den es gerade zuvor noch gar nicht gab, den niemand kannte oder plante. Klingt fast wie im Märchen. Schnipsel um Schnipsen fügen sich wie von Geisterhand zu was völlig irrem Neuen zusammen. Schnipp-Schnapp-Kinderspiel, alles kann alles werden, Augenpaare, Münder, Nasen, gewagte Decolletes, hochstehende Haare, verdrehte Arme und schlangenlange Beine. Alles kann entstehen. Bei Norika meistens ein Gesicht, könnte aber auch eine Landschaft sein oder eine Tier-Menschfratze. Das Endprodukt, sagt sie im Ton abgeklärter Entrüstung, ist ihr nicht so wichtig; der Entstehungsprozess schon. Der macht nämlich gute Laune. Was sich auf dem Sofa zuträgt, ist eine Form des kreativen Spiels.

Ob es auch hart sei? Wieso? – Nein, überhaupt nicht, wirklich sehr bequem. Norika hat die Sofaprobe mühelos bestanden. Wie das Sofa stammt das Ebsenprinzessinnenmärchen aus dem Orient. Sarandīb, die alte, von arabischen Seefahrern und Händlern geprägte Bezeichnung für die fernöstliche Insel Ceylon, heute Sri Lanka, gab serendipity den Namen: Goldeiland. Was das orientalische Märchen von den drei Prinzen erzählt und der britische Sir Horace Walpole mit seiner Wortschöpfung einfangen will, ist viel mehr als eine weitere Weisheit aus dem Fernen Osten. Serendipity ist so was wie Finderglück. Allerdings von was, das man gar nicht sucht. Ein Erstaunen wider besseren Suchens, eine Gabe, auf etwas zu stoßen, das wir gar nicht auf dem Schirm haben, vielleicht auch gar nicht gerne wahr haben wollen.

Kunst? Hat ihre Tücken, weiß Norika aus langer Erfahrung. Immerhin hat sie vor einer Ewigkeit mal Kunst studiert. Ach du meine Güte, je kostbarer das Malmaterial wurde, desto gehemmter wurde ich. Als auch das überwunden war, sammelte sie abgenutzte Kuscheltiere, bis das ganze grüne Sofa davon voll war. Dann kamen die Zeitschriften, Abteilung Altpapier. Je wertloser das Material, desto…

Blöd nur, man will immer die letzte Collage übertreffen, immer besser werden, immer mehr Anerkennung. Dabei geht der Zufall flöten und das Spiel endet im Krampf. Auf dem Sofa herrscht nicht das Chaos, auf ihrem Sofa herrscht sie. Alle Sachen um sich herum, Scheren, Brille, Kleber, Teekännchen und Tasse, Füße hoch, tausend Seiten Vogue, Elle, Kunstbücher, neuerdings gerne die TUSH von Gleis 7 aus Hamburg (Wahlspruch „Glanz Oder Gar Nicht.“ Oder „The art of (not) being political“).

Bei mir ist es sowieso manisch, sagt Norika. Wenn ich mich dranmache, kommen Collagen raus, oft mehr als eine pro Tag. Wenn sie mal eine Reaktion einholen will, setzt sie welche auf Instagram. In den USA gibt es die fetteste Collagecommunity, # discovercollage oder absurdistcollageclub. Ihr Merging into Yellow aus der Becoming Permeable-Serie erhielt 315 Herzchen, bei 2242 Followern.

Mering into Yellow, aus der Serie Becoming Permeable, 31x25cm

Durchlässig wie eine Membran werden will Norika auch. Sie hat es sich dazu auf ihrem komfortablen Sofa eingerichtet. Es beginnt mit einem morgendlichen Privatritual, einer Art geregeltem Spielablauf, der sich tagtäglich wiederholt. Sie nennt es ihre „Materialschlacht“. Haufen an bedrucktem Papier, hauptsächlich Fotos, Illustrationen, Kunstdrucke auf, neben und unter dem Sofa. Barocke Verschwendung, drei vier Scheren, schnipp hier, schnipp da, ein Gesicht entsteht oder auch keins, ein Tier hat sich im Haar verfangen und will wieder raus, ein Treppenhaus hat eine schönes Geländer, die Frau aber keinen Unterleib.  

Serendipity ist neuerdings Norikas Lieblingswort. Finden ohne zu suchen, übersetzt sie. „Glück im Unglück“ oder „unverhofft kommt oft“ wäre auch nicht schlecht. Gestern Abend zum Beispiel (war mal wieder nix mit Diagonalliegen): Freunde aus Köln kamen zu Besuch. Bierchen getrunken in der Altstadt, zum Rhein, Fortunabüdchen, weiter zum Stadtstrand auf der Unteren Werft, dort ein Instand-Konzert. Eine Band aus den Tiefen der USA spielte bis tief in der Sommernacht, Eintritt frei für jeden und jede, der, die, das gerade vorbeikam. Die Sängerin (Lesie Kernochan, Norika hat sich den Namen gemerkt) ganz famos. Sie hat gesungen wie Joni Mitchell in ihren besten Zeiten. Wir haben gestanzt.     

Ein Zug fährt vorbei. Es ist Hochsommer. Also entweder ersticken oder Fenster auf. Wir müssen unser Gespräch unterbrechen, es geht im Lärm unter, wird verschluckt wie ein Haus, ein Vogelnest samt Baum von der Wanderdüne. Gibt es Vergleiche, die nicht hinken? Züge, ratternd, donnern, dröhnen, zischen, rauschen unmittelbar unterm Fenster vorbei, manchmal auch zwei, drei gleichzeitig, manchmal aus entgegengesetzten Richtungen. Das knallt. Das Sofa steht auf seinem Platz, es wackelt nicht.

Köln, wurde da nicht im Herbst vor gut hundert Jahren die Collage erfunden! „Eines Tages im Jahre 1919, als ich mich an einem Regentag in einer Stadt am Rhein befand, wurde ich von einer Faszination erfasst, die die Seiten eines Katalogs, in dem Gegenstände für anthropologische, mikroskopische, psychologische, mineralogische,  und paläontologische Demonstrationen abgebildet waren, auf meinen irritierenden Blick ausübten. Ich fand dort so weit voneinander entfernte Figurenelemente vereint, daß die Absurdität dieser Ansammlung eine plötzliche Intensivierung der visionären  Fähigkeiten in mir verursachte und eine halluzinierende Folge von widersprüchlichen Bildern hervorrief, doppelte, dreifache, vielfache Bilder, die sich mit der Eindringlichkeit und Schnelligkeit, die Liebeserinnerungen und Visionen des Halbschlafs eigen sind, übereinander lagerten.“ So Max Ernst über seine plötzliche Eingebung, seinen Schock, der am Anfang seiner Erfindung stand. Was er in den Katalogseiten voller wissenschaftlicher Abbildungen vorfand, brauchte er nur ein wenig zu verändern, „um das, was vorher nur banale Reklameseiten waren, in Dramen zu verwandeln, die meine geheimsten Begierden enthüllten.“ Voilà, das kapitale Gründungsmanifest der Collage wäre vollbracht. Dadamax nennt es: „Au-delá de la peinture“.   

James Joyce und Marcel Proust und haben gleichzeitig von ihren epiphanies berichtet. (Joyce: „Die Epiphanie ist der Moment, wo die Wirklichkeit des Dings einen plötzlich wie eine Offenbarung überfällt.“). So plötzlich sie auch eintrat, es geht auch hier nicht ohne eine messerscharfe intellektuelle Komponente. Das Neue dieser Collagen lag ja nicht an der Technik (die ihm von Hausmann und Heartfield aus Berlin streitig gemacht wurden), das Neue lag in einer besonderen Sicht, einer Blickverschiebung, einer Poetisierung des Banalen. Die neuen Klebebildchen sind ja nicht weitere, irgendwie zusammengeleimte Bilder, sondern Mikro-Erzählungen von gefährlichem, kippeligem Inhalt. Irgendetwas Drohendes erscheint immer hinter diesem menschlich inszenierten Universum.    

Das Schlüpfrige daran: Es sind Bilder, die dem Auge auf der Zunge liegen. Eine Ahnung von bereits Gesehenem, weit Zurückliegendem steigt auf. Doch entziehen sich Collagen in schönster Mehrdeutigkeit einer internen Logik, verschlüsseln ihre Herkunft stets neu. Ein in seinen Einzelheiten leicht verständliches und oft massenhaft benutztes Material wird durch ein paar flinke Handgriffe ummontiert, dass, bei allen Realien, ein wundervoll einladendes Rätsel entsteht.  

Als junges Mädchen, war es in Löhrbach oder in Weinheim, bekam Norika „Une semaine de bonté“ in die Hände. Es hatte Folgen. Norika wurde Maxinaner. Für Mode war es auch zu haben. Ungeheuer, sagt Norika. Wenn im Frühjahr endlich die Sommerkleider wieder aus dem Schrank kamen, habe ich mir immer sofort welche angezogen. Ihr Lieblingsspiel Zuhause war Verkleiden. Nach langem Bitten und Betteln durfte die Verkleidungskiste geöffnet werden. Heraus kamen Prinz, Indianer, Zigeuner, Holländer, sogar ein Ballkleid aus Tüll.   

Melancholisch? Meine Grundstimmung. Man könnte es auch poetisch nennen. Alte Sachen erzählen mehr. Sie sind liebevoll hergestellt und handwerklich sorgfältig gearbeitet. Meine Mutter, erinnert sich Norika, hat selbst sehr viel genäht, gestickt, gesmokt. Ihre Schere hätte sie doch gerne. Sie hat sich dann im Nachlass verloren, war 10 Pfennige wert, silbern und fein ziseliert. Wenn man sie zumachte, ließ sich in der Mitte ein kleines Kreuz sehen. Eines Tages findet die Schere zu ihr zurück. Die Schere aller Scheren. Auf Serendipity ist Verlass.

DER ROTE FRIES

Thomas Huber

von Fabian Reifferscheidt Etwas springt ins Auge. Ein aufdringlicher rosaroter Streifen, vom Boden bis zur Hüfte reichend, überzieht die sonst weißen Galeriewände. Schon beim Betreten

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