Jorge Luis Borges führt uns in seine Vorstellung von einem allumfassenden Archiv, einer wahren Universalbibliothek. In dieser bibliotheca total gibt es ein abstraktes Gerät, das eine zufällige Abfolge von Buchstaben und Symbolen ad infinitum erzeugt. Der Schriftsteller, der fast erblindet, 1955 tatsächlich Direktor der argentinischen Nationalbibliothek wird, erfindet einen Affen, der, wenn er nur unendlich lange wahllos Tasten auf einer Schreibmaschine anschlägt, mit ziemlicher Sicherheit sogar das Gesamtwerk von William Shakespeare tippen könnte. Dies gelingt bestenfalls in einem Zeitraum, der hunderttausende von Größenordnungen länger ist als das Alter des Universums, ist also extrem gering. Aber eben nicht null. Jede Abfolge von Ereignissen, die eine Wahrscheinlichkeit ungleich Null hat, kann mit ziemlicher Sicherheit irgendwann eintreten. So ging es lange mit dem George Grosz Museum in Berlin.
Ralph Jentsch, Büchermensch wie Borges und Leiter einer Bibliothek, hat den Glauben an die Wahrscheinlichkeit ungleich Null nie aufgegeben. Jahrzehntelang unternahm er unermüdlich Anläufe, ein Grosz-Museum, ein Forschungszentrum für diesen „wichtigsten Künstler Berlins“ in die dadamäßig krause Welt zu setzen.
Am 13. Mai soll es tatsächlich kommen. Eine wirkliche Adresse gibt es schon: Alte Shell-Tankstelle, Bülowstr.18, 10783 Berlin. Der Magische Realismus findet zu einem späten Triumph, der Affe laust sich und alle Nullen staunen.
Berlin, wo sonst?
Hier erblickt Georg Gross im Juli 1893 das Großstadtlicht, als George Grosz stirbt er daselbst im Juli 1959, keine sechs Wochen nachdem er aus dem amerikanischen Exil in seine zerstörte, viergeteilte Heimatstadt zurückgekehrt war, keine zwei Kilometer von der schicken Tanke mit dem optimistischen Wirtschaftswundervordach entfernt.
Wie hätte sich Grosz, „A Little Yes and a Big No“ (so der Titel seiner Autobiografie), über seine Berliner gewundert, weil die, großes Nein, partout kein Grosz-Museum haben wollten. Und dann doch ein kleines Ja. Ein paar Unentwegte wollen im Mai dieses Jahres, zumindest und vorläufig (der Mietvertrag läuft auf fünf Jahre), das „Kleine Grosz-Museum“ eröffnen.
Immerhin ist Grosz der bedeutendste Künstler, den dieses Großstadtnest Berlin bislang ausgebrütet hat. Mit Sicherheit ihr schärfster Chronist und schonungsloser Porträtist der Weimarer Verhältnisse, der Zeit des „blutigen Terrors“, als jener General Dr. von Staat antrat, um der Republik das Genick zu brechen und der Nazi-Diktatur freie Bahn zu schaffen. Grosz malte schon 1926 die „Stützen der Gesellschaft“ als feiste Fratzen und feixende Totengräber.
Als kompromissloser Kritiker der rechten Reaktion gilt Grosz allemal. Jetzt kann es gelingen, ihn als genialen Künstler wieder zu entdecken, einen wie ihn selbst das kunstgeile Berlin nur alle paar Jahrhunderte erlebt. 89 Jahre nach seiner Flucht in letzter Minute aus Nazi-Deutschland, 63 Jahre nach seinem Tod wird es höchste Zeit das Museum zu eröffnen – Grosz’ zweite Rückkehr nach Berlin.
Tant pis. Tant mieux
Juerg Judin, Schweizer Sammler, Cineast, Galerist hat die alte Shell-Tankstelle, nachdem sie jahrzehntelang leer gestanden hatte, entdeckt, 2005 gekauft, zu seiner Berliner Bleibe ausgebaut (Thomas Brakel, bfs design und der Landschaftsarchitekt Guido Hager haben die Konversion bewerkstelligt), eine Bibliothek und einen Ausstellungsraum dazu gestellt und nun an den Verein „George Grosz in Berlin“ vermietet. Der Verein, lauter private Leute, lauter privates Geld, wird das Kleine Grosz-Museum betreiben.
War da nicht kürzlich was mit einem anderen Verein? Da schlägt doch gleichzeitig ein Bonner Verein mit der „Kunsthalle Berlin“ im Flughafen Tempelhof auf und zweigt hunderttausende Euros an öffentlichen Geldern aus der Senatskasse ab. Apropos Museum: Erst letzten Herbst wurde in Oslo der Neubau des Munch-Museums eröffnet, 13 Geschosse hoch, 250 Millionen Euro teuer. Ob da was schiefläuft in Neo Dada-Berlin?
Vor über zehn Jahren hatte Ralph Jentsch die Nase voll, oder besser: Es ging ihm ein Licht auf, warum ausgerechnet George Grosz derart unter Wert lief. „Weil man in keinem Museum der Welt mehr als zwei Bilder von Grosz beisammen findet.“ Selbst in Berlin nicht. Über mehrere Häuser verstreut wären hier fünf seiner Gemälde zu sehen, wenn sie nicht im Depot liegen.
Jentsch trifft Peter Grosz
Im Frühjahr 1988 sitzt Jentsch in New York. Er fährt raus nach Princeton, um Peter Grosz zu treffen. Am 31. Januar 1933, nur einen Tag nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, stürmte ein SA-Schlägertrupp erst in die Wohnung des Künstlers in der Trautenaustraße, dann um die Ecke in sein Atelier in der Nassauischen Straße. Die verschlossene Tür schlugen sie mit Äxten ein. Doch Grosz kannte die braune Gefahr, in letzter Minute gelang ihm die Flucht aus Deutschland. Peter Grosz war 1933 dem Vater ins Exil gefolgt.
1988 weiß er, wer ihn da besuchen kommt. Auf einem Spaziergang fragt er den Mann, ob er nicht den Oeuvrekatalog zu den Gemälden seines Vaters erstellen wolle. Die Frage kommt nicht aus heiterem Himmel. Jentsch hat da schon unzählige Fachbücher und Aufsätze veröffentlicht, sich einen Namen mit Ausstellungen zu Edward Munch, Ernst Barlach, Max Beckmann, Otto Dix, Werner Drewes, Karl Hofer, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz, Ludwig Meidner, Egon Schiele, Richard Seewald gemacht; die Liste der Namen ließe sich verlängern. Jentsch übernimmt. Was sich daraus entwickeln wird hält ihn bis heute in Atem. Schwerlich wird man hier von nichtsahnend sprechen können. Aber die Ahnung wurde spielend von der Wirklichkeit in den Schatten gestellt. Peter Grosz beauftragt Jentsch wenig später, auch den Nachlass seines Vaters zu übernehmen. Unvertraute Arbeit kommt hinzu: „Je tiefer ich da eingestiegen bin, desto klarer wurde mir, dass um die 50 Gemälde von Georg Grosz in den Kriegswirren verloren gegangen sind, mehr als ein Dutzend sind unrechtmäßig in den Besitz von Museen weltweit gelangt.“
Jentsch zieht es mehr und mehr in den Sumpf der Nazijahre. Entartete Kunst, Raubkunst, Beutekunst seien hier als Stichworte genannt. Rechtliche und moralische Fragen um Restitutionen kommen hinzu. Aktuell laufen Rückgabeforderungen des Grosz-Nachlasses an die Kunsthalle Bremen, das Museum Ludwig Köln, das Centre Pompidou Paris, das Belvedere in Wien, das Museum of Modern Art in New York, das Bridgestone Museum of Art in Tokio und einige renommierte Museen mehr. Insgesamt zehn bedeutende Grosz-Gemälde und ein Aquarell gelten als unrechtmäßig erworben.
Mitten im Leben findet Jentsch zu seiner Mission. Er beginnt erste Pläne für ein Grosz-Museum zu schmieden, führt Gespräche, tritt in Verhandlungen ein. Sammler im Ausland zeigen Interesse. Dann bietet sich der stillgelegte Flughafen Tempelhof als Standort an. Jentsch kann über 30 Groszgemälde, zahlreiche Grafiken, Mappenwerke aus dem Grosz-Nachlass und dazu sein eigenes Archiv einbringen. Tim Renner (SPD) zeigt Null Interesse. „Wir mögen George Grosz nicht“, lässt der Kultursenator wissen. Kälter kann sich die linke Schulter Berlins kaum zeigen. Jentsch und mit ihm der gesamte Grosz-Nachlass blitzen ab. Drei Senatswahlen weiter – öffentliche Förderung? „Um Gottes Willen, aussichtslos“, winkt Jentsch ab. Als Reaktion auf die Abfuhr hat er mit anderen Grosz-Aficionados 2015 den Verein gegründet, das Museum geht ohne Senatsknete an den Start.
Grosz wird auch im Kunsthandel ein heißes Eisen. Kommt irgendwo in der Welt eine Arbeit von Grosz zum Aufruf, wird Jentsch, längst unbestrittener Experte aller Verästelungen und Besonderheiten des Grosz-Werks, zuvor von den Auktionshäusern angefragt. Seine Expertise ist entscheidend. Weit über 400 Fälschungen konnte er schon aus dem Verkehr ziehen.
Auch Beltracci hatte keine Chance. Jentsch ließ sich auch von diesem Betrüger nicht täuschen. Seine Vermutung, dass der Fälscher einen Aufkleber der Galerie Flechtheim gleichfalls gefälscht hatte, um eine unverdächtige Provenienz mitzuliefern, sollte sich bewahrheiten. Überall, wo dieser Aufkleber auftauchte, lag tatsächlich ein gefälschtes Bild vor. Schon 1992 wurde Jentsch vom Museum of Modern Art New York als Gastkurator eingeladen, dreimal kuratierte er Ausstellungen des Guggenheim Museums, es sollten Aufträge in Venedig, Madrid, Tokio, Rom und Brühl folgen.
Ums Haar
Um ein Haar wäre Ralph Jentsch in Berlin geboren. Doch werden die Eltern dort zweimal ausgebombt. Die Wohnung mitsamt der Graphiksammlung des Vaters geraten in Trümmer. Das Paar wird ins Erzgebirge evakuiert. Im Sommer 1944 kommt der Sohn in Augustusburg zur Welt. Jentsch erinnert sich. Wie er, schon nach dem Ende des Krieges, unter der Tischdecke im elterlichen Esszimmer hockte und große Ohren machte. Besuch aus Berlin war nach Hause gekommen. Man sprach über die Nazizeit. Der Vater, in Odessa geboren, sprach fließend Russisch, die Mutter (in Offenbach geboren) eine konvertierte Protestantin, war durch das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (Nürnberger Rassengesetze) der antisemitischen Verfolgung ausgesetzt. Ein Zettel mit einer letzten Nachricht des Großvaters erreichte die Familie aus dem KZ Theresienstadt, die Großmutter hatte sich schon 1934 aus Verzweiflung das Leben genommen. Als der Vater in Russland Zeuge von Massenerschießungen wurde, legte er Protest ein und war daraufhin Repressalien ausgesetzt.
Nach dem Ende der Nazizeit nahm ihn der Vater mit auf Reisen kreuz und quer durch das noch weitgehend zerstörte Deutschland, zeigte dem Sohn Burgen, Klöster, Sehenswürdigkeiten, nahm ihn mit in Museen und erste Ausstellungen. „Das, was du jetzt siehst, darfst du nie vergessen“, dieser Satz des Vaters blieb hängen, wie die Liebe zur Grafik. Im Alter von sechzehn Jahren entschließt er sich, künftig alleine zu reisen. Sein Ziel: alle Kupferstichkabinette in Europa. Von Wien bis Helsinki, von London bis Madrid. In den Zeichnungssälen fragt man den jungen Spund aus Deutschland verdutzt, was er denn zu sehen wünsche? – „Alles, was sie an wichtigen Sachen haben, will ich sehen.“
Mit 20 Jahren bricht er nach London auf, mit 21 öffnet er ein Antiquariat in Esslingen, wohin seine Eltern gezogen waren, mit 24 schafft er seine erste Museumsausstellung im Reichsstädtischen Rathaus, Thema „Die geschichtliche Entwicklung der Grafik und ihre Techniken.“ 1969 gründet er seine eigene Galerie, die erste Ausstellung ist Robert Genin gewidmet, der Wiederentdeckung eines vergessenen Expressionisten. Über 100 Ausstellungen sollten bis 1986 folgen, die letzten Jahre in München. Im Privathaus des Unternehmers Oskar Merkel organisiert Jentsch eine Aufsehen erregende Ausstellung mit Werken von Edward Munch. Es wird sein fulminanter Abschied aus Esslingen. Damit gibt er den Anstoß zur Gründung der Galerie der Stadt Esslingen am Neckar (seit 1973 „Villa Merkel“).
Bei allem Erfolg, Jentsch wendet sich mit Grausen ab. 1986 hat er „die Nase voll vom Kunsthandel und vom ganzen Nazidreck in Deutschland. Ich bin dann abgehauen.“ Sein Rettungsanker heißt Loriano Bertini im abgelegenen Prato. Dieser Industrielle, Sammler und Mäzen gibt ihm carte blanche. „Ich hatte vollkommen frei Hand, was Ankäufe und Ausstellungen betraf.“ Herausgesprungen ist wieder ein Buch, ein Standardwerk: Illustrierte Bücher des deutschen Expressionismus, zugleich Katalog der Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin 1989, später in Brüssel, Florenz, Siena, Orosei, Bozen und Münster. Doch er bleibt in Italien, auf sieben Jahre Florenz, folgen fünf Jahre auf Capri (in der Casa Malaparte), 20 Jahre Rom schließen sich an. Sein Archiv wandert mit, wächst und wächst, stapelt sich bis unter alle Zimmerdecken, platzt aus allen Regalen und Schubladen und ist heute eines der bedeutendsten Privatarchive zum deutschen Expressionismus.
Dann doch: Umzug nach Berlin
Dann kommt unverhofft ein Ruf aus Berlin. Juerg Judin kennt die prekäre Lage um Jentsch und stellt Lagerräume in einem Industrieareal zur Verfügung. Jentsch greift zu, 30.000 Bücher, Kataloge, Zeitschriften, dazu 12.000 Werkfotos, über 100.000 Kopien treten die Reise nach Berlin an. Das Archiv bekommt ein neues Zuhause: Fast alles zu Max Beckmann, zu Otto Dix und Grosz (auch zu Curzio Malaparte) wird hier verwahrt, gesammelt und ausgewertet. Darunter Rarissima wie das Musterbook I von 1921 „gibt es so gut wie überhaupt nicht“, die Mappenwerke von Grosz vollzählig.
Jentschs Bücherlager will eine Forschungseinrichtung sein, offen für alle, die was herausfinden wollen. „Das Wesentliche meines Archivs ist, dass ich Aufzeichnungen, Dokumente habe, die es an anderen Orten der Welt nicht gibt.“ Dieses Archiv ist die Herzkammer des Grosz-Museums. Wo andere, öffentliche Museen den Anteil der eigenen Forschungsleistung mehr und mehr zurückschrauben, verhält es sich hier umgekehrt: Das Kleine Grosz-Museum verfügt über ein Riesenarchiv, es ist die geisitige Tankstelle der Grosz-Tankstelle. Sein Archivar, nicht groß von Statur, ist ein Weltbürger, ein Spätspätheimkehrer. Einer, von einer gewissen Scheu und Beunruhigung ergriffener Mann, der von der Hoffnung nicht lassen will, dass durch demütigen Sinn, eifriges Forschen und ruhiges Leben die Welt, wenn schon nicht gerettet, so doch vor dem Schlimmsten bewahrt werden kann. Kunst und Kritik sind ihm die Pole im Freiheitsatom. Das mag anachronistisch erscheinen, ganz unwahrscheinlich ist es nicht. Möglicherweise ist es sogar die probateste Form des Überlebens.
Fast sicher ist ein mathematischer Begriff. Er bedeutet, dass das Ereignis mit Wahrscheinlichkeit 1 eintritt. Was das Überleben des Kleinen-Grosz-Museum betrifft, ist Jentsch ungewöhnlich optimistisch: “Es wird zum Grosz-Katalysator”. Seine Skepsis wird hier zur Stärke „Was Grosz im Wesentlichen von anderen zeitgenössischen Künstlern unterscheidet, ist die Tatsache, dass Aussagekraft und Kompromisslosigkeit seiner Kunst auch heute noch so aktuell sind wie damals. In seinen Bildern entblößt er die Schwächen der scheinbar Mächtigen und ergreift Partei für die minder Privilegierten, für all jene, die sich nicht wehren können.“
Nach „Gross vor Grosz,“ der Eröffnungsausstellung des Kleinen Grosz-Museums (ab 13. Mai 2022) wird dort Grosz‘ „Russlandreise“ von 1922 erstmals aufgeblättert. (Eröffnung Ende November)
Ralph Jensch ist eingeladen, die Ausstellung „Goya – Grosz. I sogno di ragione“ im Palazzo Pigorni in Parma zu kuratieren. (Dez. 2022)
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