Durch die enge Treppe geht es hinunter ins Tiefgeschoss und gleich ist man in einer anderen Welt: technische Versuchsanstalt, Weltraumlabor, universelle Wunderkammer. Hier können wir Baukästen staunen und unsere Augen wundern sich.
Was wir in Parallax Symmetry, Carsten Nicolais bisher größte, Werke aus den letzten 20 Jahren umfassende Ausstellung zu sehen bekommen, ist voller „spukhafter Wechselwirkungen“ (Albert Einstein). Die Körper und Objekte bedingen sich, werden in ein Spiel miteinander gebracht, geraten in Interaktionen. Das Verblüffende: wir verändern die Objekte, indem wir unsere Position verändern.
Da ist zum Beispiel tele, eine raumgreifende Installation von 2009, die sich hier zentral im offenen, strahlend weißen Raum entspannt. Zwei Spiegel in Form getrennter archimedischer Körper stehen sich gegenüber. Ein Laserstrahl wird aus der Mitte des einen Körpers zum gegenüberstehenden ausgestrahlt. Dort aktiviert er eine Fotozelle, die den Strahl zurück sendet, dort auf eine Fotozelle trifft, die wiederum… “Der Input ist der Output“, kommentiert Nicolai. Ist das System einmal in Gang gesetzt, funktioniert es bis in alle Ewigkeit. tele wurde durch Einsteins Beobachtung des „spooky distant effect“ (spukhafte Fernwirkung) angeregt.
Die Besonderheit der Quantenverschränkung heißt das Phänomen, bei dem sich zwei weit voneinander entfernte Systeme den gleichen Status teilen. Sie sind so miteinander verbunden, daß jede Änderung in einem, unmittelbar die Lage (oder Situation) des anderen beeinflußt, als ob da Telepathie im Spiel sei. Es geht um Unendlichkeit und Kommunikation. Das optische Wunder dabei: Die elektromagnetischen Wellen werden in Lichtgeschwindigkeit übertragen und erscheinen so dem menschlichen Auge als stabil und werden sichtbar. Die beiden glutroten Lichtstrahlen durchziehen den Ausstellungsraum und gewinnen skulpturale Qualität – ein autonomes System vom Künstler geschaffen. Denn wir befinden uns hier nicht etwa im Deutschen Museum München, sondern im eigens umgebauten K21 in Düsseldorf. Die beiden – übrigens unterschiedlich starken – Laserstrahlen lassen sich aus unterschiedlichen Positionen ganz unterschiedlich erleben. Die beiden Spiegel laden zudem ein, eigene optische Spiele zu kreieren. Kunst darf beides, demonstriert Nicolai ganz nebenbei, spielerisch und anspruchsvoll zugleich sein – beides auf schwindelerregendem Niveau.
Könnte gut sein, daß wir auf raster gradient (2009) stoßen. Ist in seinen Dimensionen auch kaum zu übersehen. Wie der Name schon sagt, besteht jeder Siebdruck auf einem Differentialoperator, wie sich jedes Punkteraster aus Hell-Dunkel-Werten zusammensetzt. Übertragen auf eine riesige Wandtapete ergeben sich schöne optische Täuschungen und räumliche Verzerrungen. In Düsseldorf überzieht Nicolai die gesamte Rückwand der Ausstellungshalle, gut 30 Meter, mit raster gradient. Eine enorme räumliche Wirkung. Die beiden Laserstahlen von tele erhalten so einen riesigen Screen.
Bei seiner Schwäche und allem Interesse für Quantenphysik, Raumfahrttechnik und Wahrnehmungspsychologie, verraten Nicolais Werke auch einen ausgeprägten Hang zu Schönheit und Poesie. Alle seine Werke scheinen aus einer technoiden Welt zu entspringen und sind doch ästhetisch-poetische Wunderwerke. Wir kommen, wenn wir es noch nicht verlernt haben, aus dem Staunen gar nicht mehr raus.
Carsten Nicolai, 1965 in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz geboren, ist einer der wenigen Künstler, der gleichzeitig in zwei voneinander getrennte Paralleluniversen arbeitet. In einem ist er der Künstler Nicolai, der überall in der Welt seine Installationen zeigt. Im anderen Universum ist er Noto, der Musiker. Von dem auch als Musiker enorm produktiven Künstler sind bei seiner Plattenfirma Alva-Noto zuletzt zwei neue Platten erschienen: „Unieqav“ und „Glass“, seine inzwischen bereits fünfte Zusammenarbeit mit der japanischen Pop- und Elektroeminenz Ryuichi Sakamoto. In seinem Berliner Studio gibt es drei Räume – zwei für Kunst, einen für Musik. „An einem Tag gehe ich auch mal von Raum zu Raum und widme mich nacheinander beidem, der Musik und der Kunst“, sagt der stets freundliche, immer konzentriert wirkende Carsten Nicolai. „Du brauchst als Künstler auch mal Abstand von dem, was du machst. Ich gewinne den, indem ich für eine Weile die Disziplin wechsele.“
Er findet den kleinen Clubs, in dem er als Musiker auftritt, genauso spannend wie den White Cube. “Zudem haben „die Leute, mit denen ich mich umgebe, oft ein multiples Interesse an Kunst und Musik. Ryuichi Sakamoto arbeitet ja auch als Künstler, obwohl das viel zu wenig wahrgenommen wird.“
Nicolais eigener Sound , vibriert zwischen einem streng pulsierenden Elektroniksound und Minimal-Techno. Sein eigenes Label Alva-Noton nennt er programmatisch „Archiv für Ton und Nichtton“. Auch davon gibt es wundervolle Beispiel im K21.
Warum Düsseldorf der allerbeste Ort für diese Carsten Nicolai Retrospektive, Kuratorin ist Doris Krystof, mit insgesamt 40 multimedialen und interaktiven Arbeiten ist? Wo sonst liesse sich ein derart weiter Bogen von ZERO zu Minimal- und Konzeptart, von Kraftwerk zur Elektronischen Musik spannen. Nicloai läßt dazu ein bißchen die Zukunftsmuskeln spielen.
Redaktion: Anke Strauch
Alva Noto wird mit UNIEQAV ein Konzert auf der Piazza im K21 geben – 18.01.2020, 20.00 Uhr.
Phillip Schulze wird drei Sonify-Konzerte beisteuern. Seit 2017 ist Schulze als Dozent für Akustische Kunst und Mediale Forschung im Masterstudiengang Klang und Realität des Institut für Musik und Medien tätig. Der Düsseldorfer Komponist und Medienkünstler arbeitet seit seiner Studienzeit an der Wesleyan University in unterschiedlichen Zusammenhängen von Computer prozessierter Musik. Seit 2011 hat er zusammen mit Angela Fette acht Kunststücke ELECTRONIC NOISE ART in der Combi Weisser Westen produziert.
Die Bundeskunsthalle kündigt DOPPELLEBEN. Bildende Künstlerinnen und Künstler machen Musik an.
Die Schau in Bonn rückt Künstlerinnen und Künstler in den Fokus, die sich auch intensiv dem Musik machen verschrieben haben. Großformatig projizierte Videos von Konzert-, Studioauftritte und Performances sollen das Gefühl vermitteln, live dabei zu sein.
Die Ausstellung will den Bogen vom frühen 20. Jahrhundert bis heute spannen. Beginnend mit Duchamp und den Futuristen über Yves Klein und die Fluxuskünstler Nam June Paik und Yoko Ono, führt sie zu zentralen Figuren der
1960er- und 1970er-Jahre wie A. R. Penck, Hanne Darboven, Gerhard Rühm oder Hermann Nitsch. Vertreter des Proto-Punk wie Captain Beefheart und Alan Vega sind Vorläufer zahlreicher Künstlerbands der 1980er-Jahre, in denen
unter anderem Albert Oehlen, oder Pipilotti Rist gespielt haben. Die Szene seit den 1990er-Jahren ist unter
anderem durch Jutta Koether, Stephen Prina, Carsten Nicolai oder Emily Sundblad vertreten.
19. Juni – 4. Oktober 2020