Am Ende ist immer alles zu spät. Oder es fängt erst richtig an. Als am 6. Juni 2011 Ingeborg Lüscher in Tegna/Tessin das Telefon in die Hand nahm, um der Leiterin des documenta Archivs in Kassel, Karin Stengel, mitzuteilen, das Szeemann-Archiv sei jetzt doch ans Getty verkauft, begann in Los Angeles erst die Arbeit.
Sieben Jahre nach dem Tod des wohl bedeutendsten Museumskurators und Ausstellungsmachers des 20. Jahrhunderts wanderte sein Archiv – auf vollgestopften 600 Quadratmetern seiner „Fabrica Rosa“ in den Schweizer Bergen untergebracht – über den Teich.
2,8 Millionen Schweizer Franken sollen die Amerikaner bezahlt haben, das Zehnfache steckten sie in die Aufarbeitung dieses einzigartigen Archivs, ach was Universums. 4000 Kisten und Kartons voller unsortierter „Dokumente“, dazu Devotionalien und Mobiliar harrten der archivarischen Aufarbeitung, Inventarisierung, digitalen Katalogisierung. Gut eine Million Positionen kamen zum Vorschein. 28 Mitarbeiter wurden am Getty Research Institute zusammengezogen, um diesen Schatz zu heben. Denn Szeemann (11. Juni 1933 in Bern – 18. Februar 2005 in Tegna im Tessin), Erfinder des fiktiven „Museums der Obsessionen“, war selbst ein manischer Sammler, hob seit den frühen fünfziger Jahren jeden Fatz und Zettel, jede Bahnkarte und Notiz, jeden biografischen Firlefanz auf. Er sammelte (fast) alles, mit Vorliebe Bücher, Kataloge, Zeitschriften und Künstler. 22.000 davon hat er in sein Archiv aufgenommen und alles über sie gesammelt, was nur irgends greifbar war. Nur Kunst hat er nicht gesammelt; er wollte sich nicht angreifbar machen.
„top of iceberg“, schätzt der schlagwortsichere Glenn Phillips vom GRI, sei das höchstens, was jetzt in der Düsseldorfer Doppel-Ausstellung „Harald Szeemann. Museum der Obsessionen“ und „Grossvater: Ein Pionier wie wir“ aus den Archiv-Beständen ans Kunsthallenlicht kommt. Sieben Jahre Kleinarbeit – aber was für eine großartige Ausstellung! Ein Must-Szee für alle, die Kunst (noch) hochschätzen, doch keineswegs bloß für Kenner und Spezialisten, für graue Archivare und ergraute Szeemann-Adicts. Es könnte der Einstieg in einen Kunst-Kosmos der Sonderklasse, zu einem ungeheueren See-Erlebnis überdies werden. Mit dem Eisberg meinte Phillips keineswegs Szeemann selbst, diesen „top of ausstellungsmacher“. Denn der war eher ein Energiebündel und Kunstberserker, ein leidenschaftlicher Obessionist und sprühender Kunstvulkan.
In diesem Sinn ist es ein Glücksfall, daß sich die Kalifornier der Sache angenommen haben und die erste Ausstellung in kurzer Spanne zu Wege gebracht haben, die dem Werk dieses Kurator gewidmet ist – ohne ihn zu musealisieren oder zu mumifizieren. Ein Glücksfall auch, dass Philipp Kaiser (1972 in Bern geboren) nun am Getty den Szeemann-Nachlass für diese beiden Ausstellung aufbereitet hat. Unbedingt wollten die Getty-Leute die Düsseldorfer Kunsthalle als Spielort (nach Los Angeles und Bern), weil Szeemann hier zwischen 1967 und 1992 sagenhafte acht Ausstellungen zeigen konnte – so viel wie nirgends sonst. Der Ruhm ver Kunsthalle verdankt sich nicht zuletzt dieser Verbindung. Auch sind in Düsseldorf beide Ausstellungen erstmals vereint zu sehen. Wobei sie sich wundervoll ergänzen und die besondere Dynamik, den kuratorischen Ansatz des Harry Szeemann zeigen.
Denn die Grossvater-Ausstellung war sein Befreiungsversuch aus der instutionellen Selbstfesselung. Nach der documenta 5 (1972) in Kassel, die wundervoll gelungen und bis heute als Höhepunkt aller Documentas gefeiert wird, hatte ihn mit all den Restriktionen und Kompromissen einer Großausstellung stark beansprucht, auch ausgebrannt. Szeemann wollt wieder frei von solchen Zwängen arbeiten, zurück zu seiner Idee der „Attitüden“ finden, also weg vom Kunstwerk als Objekt und Resultat. Mehr „Fluxus und Happening“, mehr Prozeß und Verlauf – und mehr die eigene Biogarfie in der Arbeit würdigen und einbinden. Deshalb gründete er sein persönliches „Museum der Obsessionen“, dessen erster sichtbarer Ausdruck die intime Grossvater-Ausstellung werden sollte. Eine Rückschau auch insofern, als hier das Leben seines eigenen Großvaters Étienne, einem maitre-coiffeur aus Ungarn gebürtig, gewidmet ist und 1974 in Szeemanns letzter Wohnung in Bern, Gerechtigkeitsgasse 74, 3. Stock stattfand. Die Rekonstruktion dieser einzigartigen Ausstellung gewann sich allein der mühevollen Archivarbeit in Kalifornien und den wahrlich akribischen Nachforschungen dort. Denn nur wenige Ausstellungsbestandteile fanden sich dort, in allen möglichen Kisten und Ordnern verstaut, erhalten.
Aber immerhin es gab Schwarz-Weiß Fotos. Was nicht erhalten war, wurde nachgebaut, hinzuerworben, zusammengesucht. Der ausgestopfte Chihuahua (Chiwawa) blieb verschwunden. Doch war es ausgerechnet der Lieblingshund der Großmutter. Also scheute man am Getty keine Mühe und Kosten, um so ein Exemplar zu beschaffen. Vergeblich. So mußt eine Spezialistin ans Werk. Anhand der Fotos wurde eine 3D-Fassung des Schoßhündchens erstellt, davon nahm die Tierpräparatorin eine Form, um das Tier in der originalen Pose „lebensecht“ wieder erstehen zu lassen. Der Doppelgänger blickt uns nun in der Ausstellung an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Dabei hätte er viel zu erzählen von seinem Leben in der Berner Wohnung des Maitre Étienne und von seinem Nachruhm als Kunstobjekt zwischen Los Angeles, Bern und Düsseldorf und demnächst in Turin und New York (Castello di Rivoli und Swiss Institute). Das geht so mit allen hier wieder gezeigten Stücken, Prozessen, Verläufen.
Ingeborg Lüscher, Künstlerin, Ehefrau und Nachlassverwalterin des Harry Szeemann, gab davon eine beredte Kostporbe, als sie vor ihrer Wand voller wunderlicher Objekte und Notate über ihre Begegnungen mit dem Sonderling Armand Schulthess ins Erzählen kam, „Enzyklopädie im Wald”. Viele Geschichten, Erinnerungen, so viel Wunderliches und Erstaunliches ist hier zu sehen, daß man fast vergisst, in einem Paradox spazieren zu gehen: der ersten und einzigen Ausstellung über einen Ausstellungsmacher.
Der Katalog erzählt mehr, steigt hinab in die Katakomben des Szeemann-Archivs und setzt sich kritisch mit Harry Szeemann auseinander. Er kostet stolze 50 Euro an der Kunsthallenkasse, eine schöne Stange Geld – mit der ein halbes Jahrhundert Kunst aus den Angeln zu heben wäre.
Das Getty Research Institute (Forschungsinstitut), das den Szeemann-Nachlass erworben hat, gehört zum J. Paul Getty Trust. Diese Stiftung ist in Brentwood, einem Distrikt von West Los Angeles, ansässig. Der Öl-Industrielle Jean Paul Getty (1892-1976) hatte zehntausende Kunstwerke gesammelt. Seit 1997 sind sie im J. Paul Getty Museum zu sehen, das Star-Architekt Richard Meier errichtet hat. Zur Stiftung gehören weitere wissenschaftliche Einrichtungen, die sich mit Restaurierung und der Aus- und Fortbildung von Führungspersonal für Museen beschäftigen. Direktor des Forschungsinstituts war lange Jahre der deutsche Kunsthistoriker Thomas W. Gaehtgens.
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