Die fliegende Kunsthalle

Walter Smerlings wirklich bestes Jahr

Ob 2021 das erfolgreichste Jahr von Walter Smerling ist, wird bei der erstaunlichen Dynamik dieses wendigen, weltweit agierenden Kurators, Museumsdirektors, Stiftungsvorstands und künftigen Berliner Kunsthallenchefs schwer zu sagen sein. Seit 35 Jahren ist er im Geschäft. Wir nutzen eine ungewöhnliche Verschnaufpause (wegen häuslicher Quarantäne), um mit Walter Smerling zu sprechen.

Erst kürzlich hat er im Museum Küppersmühle die Andreas Gursky Ausstellung (bis 13. April 2022 verlängert) eröffnet, wenige Tage später den wohl gelungenen Erweiterungsbau der Küppersmühle der Pritzker-Preisträger Herzog & De Meuron am Duisburger Innenhafen. Die Einrichtung der Sammlung von Sylvia und Ulrich Ströher in den 36 neuen Räumen, die alle großen Namen von Emil Schumacher bis Anselm Kiefer umfasst, besorgte Smerling. Nicht zuletzt läuft mit „Licht und Transparenz“  eine unerwartet gut besuchte Kunstschau im frischsanierten Bonner Münster (bis 31. Jan.2022). Auch Nachwuchstalente will er fördern, sie erhalten einen Katalog Ihrer Arbeiten.
Schon saß er wieder im Flugzeug nach Paris und weiter nach Salt Lake City, wo er nach Salzburger Modell einen
Walk of Modern Art anlegen soll.

Walter Smerling aus der Quarantäne

Ich kam aus Moskau zurück, wo ich den Aufbau unserer Ausstellung Diversity United in der Neuen Tretjakov-Galerie geleitet habe, um an einem Charity-Abendessen in Berlin teilzunehmen. An dem Abend kam ich zwischen zwei mir unbekannten Damen zu sitzen. Die, wie ich durch einen Anruf des Gesundheitsamtes zwei Tage später erfuhr, mit dem Corona-Virus infiziert waren. Da spürte ich schon erste Symptome, Kopf- und Gliederschmerzen und steigendes Fieber. Ich begab mich sofort in häusliche Quarantäne. Die Gliederschmerzen nahmen stark zu und ich schwitzte, was ich konnte. Zum Glück habe ich bei mir Zuhause drei Betten, die ich nacheinander durchschwitze. Ich habe mich glücklicherweise wieder erholt. Ein Test hat ergeben, dass ich das Virus überwunden habe. Ich bin sehr froh darüber, dass es vorbei ist.

Neue Tretjakow Galerie Moskau, 2021, Foto: Julia Zaharova

Unterdessen wurde die Ausstellung in Moskau eröffnet, es ist in meiner langen Zeit als Kurator die erste Ausstellung, bei der ich selbst nicht anwesend sein konnte. Ein Jammer, es war sehr frustrierend.

Ursprünglich sollte Diversity United als erste Station in Moskau eröffnet werden, es gab aber große Schwierigkeiten, weil dort drei unserer Partner, NGO´s, u.a. der Petersburger Dialog auf eine Schwarze Liste gesetzt wurden. Worauf hin wir auf die Eröffnung in Moskau verzichteten. Zeitgleich mit unserer Eröffnung in Berlin mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erreichte uns die Nachricht, dass die NGOs von Moskau verboten wurden. Wenn unser Kooperationspartner in Moskau verboten ist, dann können wir uns nicht vorstellen, unsere Ausstellung dort zu eröffnen.

Umso froher bin ich nach schwierigen Verhandlungen, daß nun in Moskau die zweite Station doch noch eröffnet werden konnte.

Unsere russischen Partner kamen nach Berlin, um sich die Ausstellung im Tempelhofer Flughafen anzusehen. Wir konnten einen guten Weg mit ihnen vereinbaren, um Diversity United jetzt in Moskau zeigen zu können. 90 Künstler mit über 400 Arbeiten konnten nach Moskau auf den Weg gehen. Wir haben für Januar/Februar 2022 zwei Diskussionsforen vereinbart, auf der diese NGOs in Moskau auftreten können und dort Stimme und Wort haben. Wir werden den Petersburger Dialog und die anderen NGOs in die Ausstellung einladen. „Kunst baut Brücken jenseits politischer Interessen“ – an unserem Wahlspruch wollen wir auch in diesem Fall festhalten. Wir werden sie einladen und ich hoffe, sie werden kommen.

Die Ausstellung ist eröffnet, die Resonanz ist sehr erfreulich. Besonders junge Menschen wollen die Ausstellung sehen. Es gibt sehr viele Kommentare, die sich begeistert über die Ausstellung äußern und wir wollen sehen, wie sich das in den nächsten Monaten entwickelt. Die Ausstellung beschäftigt sich mit Europa und den vielen schwierigen Themen auch in Russland. Ich bin begeistert darüber, dass wir das Werk über August Landmesser in Moskau zeigen können. Sanchez Fernandez Castilles hat ja 5000 Landmesser-Figuren in die Ausstellung gebracht. Jeder Besucher, jede Besucherin kann dort eine persönliche Vorstellung von Freiheit und Demokratie an die Wand schreiben. Sie sind eingeladen, einen Kommentar zu hinterlassen und auch eine Landmesser Figur mitzunehmen. Ich bin gespannt was dabei rauskommt. Wie ich hörte, gab es schon am Eröffnungsabend heftiges Gedränge an der Wand.

Ich werde jetzt nach Paris aufbrechen, um die dritte Station festzumachen. Wahrscheinlich wird sie im Parc de la Villette stattfinden. Das wir nicht ganz einfach sein, weil die Ausstellung mehrfach pandemiebedingt verschoben werden musste, die Leihverträge laufen aus. Es wäre aber schön, wenn es in Paris 2022 einen guten Abschluss finden würde.

 

Durch Diversity United haben wir gute Erfahrungen mit den beiden Hangars im Tempelhofer Flughafen sammeln können, außerdem wollen wir die Ausstellungsarchitektur weiter nutzen. Für die kommenden zwei Jahre wollen wir dort die Kunsthalle Berlin aufleben lassen. Schon Ende Januar werden wir beginnen. Die Hangars wollen wir für experimentelle Ausstellungen nutzen. Um keine Zeit zu verlieren, starten wir zunächst mit der Retrospektive Bernar Venet. Wir zeigen Werke, die er in den letzten 60 Jahren geschaffen hat, Skulpturen, Bilder und Performance. Schon jetzt sind es 25 Trucks, die wir für die Ausstellung nach Berlin schicken werden.

Ich werde die Kunsthalle Berlin wie bei allen Projekten der Stiftung für Kunst und Kultur, die wir jetzt bereits seit 35 Jahren machen, im Team führen. Wir bauen für Berlin einen eigenen kuratorischen Beirat auf.

Widerstand ist machbar: Auf einem Foto aus dem Jahre 1936 ist eine Menschenmasse zu sehen, die den Hitlergruß zeigt. Nur der Arbeiter August Landmesser verschränkt die Arme. Ihm setzt Fernando Sánchez Castillo ein Denkmal, indem er Landmesser fünftausendfach zu einer Armee des pazifistischen Widerstands reproduziert. In der Schau darf jeder eine Figur mitnehmen, der seine Definition von Demokratie an die Wand schreibt.

 


Neue Tretjakow Galerie Moskau, 2021, Foto: Julia Zaharova

Manche Brücken sind Grenzen – Vielfalt vereint in der Neuen Tretjakow-Galerie

 

Sergey Babkin, Moscow

Die Wanderausstellung Diversity United hätte 2020 nach Moskau kommen können, aber irgendwann wurde das Projekt mit Gerüchten über eine Art politischer Konflikt im Zusammenhang mit der Veranstaltung abgebrochen. Diese Neuigkeit wurde nicht allgemein diskutiert, und schließlich schien die Moskauer Kunstszene die Pläne, dieses Projekt in der Neuen Tretjakowka zu eröffnen, völlig vergessen zu haben.

Trotzdem ist ein Jahr vergangen, und die Ausstellung wurde endlich im Westflügel der Neuen Tretjakowka eröffnet. Aber man muss ziemlich neugierig sein, um zu erfahren, dass dies tatsächlich passiert ist, da es den Anschein hatte, dass es keine Ankündigungen in den Medien über das Projekt gab. Darüber hinaus wird es gleichzeitig mit einer sehr beliebten Ausstellung des russischen symbolistischen Malers Mikhail Vrubel im anderen Flügel des Gebäudes gezeigt, wobei die Besucher vor der Galerie in langen Schlangen stehen und darauf warten, dass ihre Covid-Pässe von der Sicherheit überprüft werden . Persönlich habe ich über den Instagram-Account der Kunstgruppe Slavs and Tatars von der Show erfahren. Und ich war nicht allein: Ein paar meiner Kameraden wiesen darauf hin, dass diese riesige Ausstellung scheinbar im Geheimen abgehalten wird.

Selbst am Freitagabend, der für das Moskauer Publikum ein recht beliebter Zeitpunkt ist, um Ausstellungen zu besuchen, kamen nur wenige Besucher zu Diversity United. Als ich die Ausstellung sah, wurde diese Geheimhaltung zu einem noch verwirrenderen Phänomen für mich. Es könnte in dem nach Meinung der Tretjakow-Galerie möglicherweise skandalösen politischen Inhalt der Ausstellung mit ihren scheinbar feministischen und dekolonialen politischen Ansätzen geboren worden sein. Aber diese wohlmeinenden Bestrebungen der Künstler und Kuratoren wurden auf ziemlich zahnlose Weise vermittelt – durch standardmäßige postkonzeptuelle Kunstpraktiken, die mit einer älteren Generation von Künstlern verbunden sind, von denen die meisten Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre an Bedeutung gewannen.

Darüber hinaus scheinen die von den Werken in der Ausstellung analysierten Themen für den russischen Kontext ziemlich irrelevant zu sein. Es schien, dass die Organisatoren der Ausstellung durch die Verlegung der Ausstellung von Berlin nach Moskau erklären, dass der Kontext derselbe bleibt, als ob Russland eine „europäische“ bürgerliche Demokratie wäre und alle Probleme der Europäischen Union auch für sie gelten würden. Ironischerweise entspricht die (nicht so scharfe) Kritik am europäischen Status quo in der Ausstellung in gewisser Weise durchaus den russischen Propagandamottos, die das zeitgenössische Europa als ein gescheitertes Projekt bezeichnen. Das mag tatsächlich so sein, aber den kleptokratischen Zustand der russischen Politik nicht zu beachten, ist zwar ein sicherer Weg, die Ausstellung in ein lokales staatliches Museum zu bringen, aber es scheint ziemlich heuchlerisch zu sein, wenn die reaktionäre Politik des Kremls verschärft wird.

Aber was ist, wenn das der Fall ist? Zeitgenössische Kunst spielt hier die Rolle einer Art universeller Sprache. Die Besucher sind eingeladen zu sehen, welche Möglichkeiten es gibt, über problematische Themen zu sprechen. Doch diese wohlmeinende Interpretation stößt auch auf einige Probleme. Das Konzept der Wanderausstellung ist aufgrund der Starrheit des Formats an sich schon problematisch. Es gibt nur sehr wenige anständige Beispiele für die Kontextualisierung solcher Shows unter lokalen Bedingungen. Das erklärte Ziel der Ausstellung „Diversity United“ weist auf Projekte wie die American National Exhibition im Sokolniki-Park in Moskau hin, die 1959 stattfand und während des Kalten Krieges als eine Art kulturelle Brücke zwischen den Nationen organisiert wurde. Aber während die Popularität dieses Projekts auf der Neugier der Sowjetbürger beruhte, die etwas über das Leben auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs erfahren wollten, kann Diversity United in einer globalisierten Welt nicht die gleiche Wirkung erzielen, insbesondere wenn man bedenkt, dass es sich um eine Hauptzielgruppe handelt höchstwahrscheinlich bewusst über den Stand der künstlerischen Produktion im Westen, da Tretyakovka offensichtlich nicht damit beschäftigt ist, Laienpublikum für die Show zu gewinnen.

Vor diesem Hintergrund kann ich mich nur über den didaktischen Unterton des Projekts ärgern, das prominente europäische Künstler in das Land bringt, das heuchlerisch „eingeladen“ wird, Teil Europas zu sein, Europas, das russische Bürger nicht überqueren lässt Grenzen ohne Visum und ist immer „besorgt“ über Menschenrechtsverletzungen in Russland, während er gleichzeitig in Infrastrukturprojekte investiert, um russisches Gas zu transportieren, wodurch russische Oligarchen reicher und russische Bürger noch mehr im Schrecken des russischen extraktivistischen Mafiastaates gefangen werden. Die Auswahl der russischen Teilnehmer der Ausstellung sagt viel darüber aus. Olga Chernysheva ist ein Klassiker der lokalen zeitgenössischen Kunstszene und ihre Arbeit über die Armut der Russen in den 1990er Jahren (obwohl dieses Stück wirklich ein starkes Statement zur russischen Wirtschaft ist) fungiert in diesem Zusammenhang eher als ästhetische Kuriosität. Das Gleiche gilt für die Installation von Irina Korina und die Gemälde von Katya Muromtseva, die auf unterschiedliche Weise als allegorische Stücke wirken und lokale politisch-ästhetische Regime exotisieren.

Es gibt ein kleines Detail in der Ausstellung, das die meisten ihrer inneren und äußeren Widersprüche offenbart. In einem Saal, der dem AWARE-Projekt gewidmet ist, das darauf abzielt, Künstlerinnen sichtbar zu machen, wird in einem der Texte das Wort «гомосексуализм» (gomoseksualizm / Homosexualität) anstelle des politisch korrekten «гомосексуальность» (gomoseksualnost’ / Homosexualität) verwendet. Dieser Rückzug in die Sprache rechter Homophober inmitten eines emanzipatorischen Projekts sagt mehr über das Projekt aus als die meisten dort vertretenen kuratorischen und künstlerischen Ansätze.

 

 


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