Der Streifzug durch dieses ausgreifende, außergewöhnliche Werk, der sich mutig und auch ein wenig vorlaut „Retrospektive“ nennt, kommt gerade zur rechten Zeit. Am Tag der Eröffnung, dem 5. Februar, wäre Gerhard Hoehme 100 Jahre alt geworden. Kein Museum, keine Galerie hierzulande, noch gar im weiteren Ausland wollte an diesen großen Maler erinnern. Die Akademie-Galerie am Düsseldorfer Schloßturm raffte sich dann glücklicherweise auf und zeigt Hoehme in fünf Räumen.
Der Glücksfall setzt sich fort, wenn man den Katalog zur Hand nimmt, der hier einmal gleich eingangs gelobt werden muss. Vanessa Sondermann, verantwortlich für Ausstellung wie Katalog, hat das Jubiläum und die Kunstakademie gleich mit rausgehauen. Wer weiß? Hoehme, das Fliegerass, der „seltene Vogel“ (Paul Nizon) schaut vielleicht von oben durch den grauen Himmel herab und lächelt ein wenig.
Der Glückfall setzt sich auch in der Nachbarschaft fort. Keine 300 Meter von der Akademie-Galerie entfernt, lässt sich Number 32 von Jackson Pollock bestaunen. 1950 gedripped, ist es bis heute der Stolz im Amerikanersaal der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Der Weg lohnt sich. Der Vergleich mit Hoehme ist überaus aufschlussreich und bietet überraschende Einblicke in eines der verschlungensten, ausgreifendsten Malerwerke des 20. Jahrhunderts. Von Linie, Ziffer und Buschstabe zu monumentaler Malerei; vom Informel zur Land-Art.
Pollocks Riesenformat jedenfalls, immerhin 269 mal 457,5 cm groß, war 1959, noch bevor es nach Düsseldorf kam, Prunkstück im Fridericianum auf der documenta 2 in Kassel. Die Kuratoren vom Museum of Modern Art hatten Pollock dort mit zwölf Bildern einen eigenen Saal eingeräumt, Number 32 an der Stirnwand. „Eine ungeheure Machtdemonstration“, erinnert sich Rudolf Zwirner in seiner gerade bei Wienand erschienen Autobiografie.
Für Hoehme, Absolvent der Kunstschule Burg Giebichstein wie der Düsseldorfer Kunstakademie, Teilnehmer der documenta 2, wurde dieses Bild zur Herausforderung, zum turning point. Ein Jahr später, schon Stipendiat der Villa Massimo in Rom, nimmt er Maß und schickt 1960 postwendend seine Antwort: „Römischer Brief“, Öl, Graphitstift, Papier-Collage, 295 mal 215 cm.
Sein erstes Großformat, ein Befreiungsschlag. „Lebensraum“, „Große Strukturlandschaft“, „Buchstäblich verschlossen“ (alle in der Ausstellung) sollten folgen.
Selbst allem Literarischen zugewandt und schriftstellerisch unterwegs, entzündete sich Hoehmes Genie seit Ende der 1950er Jahre an Ziffern und Buchstaben: „Brief heißt lesen. Meine Bilder sollen gelesen, nicht betrachtet werden,“ gibt uns Hoehme mit auf den Weg. Darin liegt seine Antwort, ein anderer, ein gegensätzlicher Ansatz als der Pollocks. Poetisches Labyrinth gegen Action Painting. Gemalte Worte verbinden sich mit aufgeklebten Zeitungsausschnitten, Papier- und Denkcollage zwischen Malerei und Graphik. Rechts unten die Signatur in Form einer Briefunterschrift „herzlichst Ihr G. Hoehme“. Notate, Selbstermutigungen wie „An der eigenen Vorsicht gescheitert“, „Kunst ist immer auch Kunst“, Aufrufe wie „versteh“ oder »sieh«, dann die Warnung auf Englisch: „this picture is not for you – only for analphabets.“
Später, 1966, da ist Hoehme längst Professor für Freie Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie (1960 bis 1984) sendet er den „Berliner Brief“ hinterher. Die alte deutsche Hauptstadt Berlin ist geteilt, die Mauer steht hässlich und betonhart mitten in Berlin. Hoehme, 1920 in Greppin/Sachsen-Anhalt geboren, ist es auch. Sein monumentaler „Berliner Brief“, 200 mal 360 cm groß, zeigt lauter Parolen, links wie rechts. Der Kalte Krieg tobt. Eine Sprechblase stiebt über die Mauer: „Balustrade aus Wind, um heute Abend meine Traurigkeit aufzustützen“. Hoehme zieht es nach Nemi, hoch in den Albaner Bergen.
Hier in den römischen Gefilden stillt er seinen Kummer, seine Zerrissenheit, seine Sehnsucht nach Antike und Mythologie, nach Elementarem und Erdigem – und kommt dem römischen Amerikaner Cy Twombly viel näher als dem brachialen Pollock.
Noch etwas nimmt er von der documenta mit in seine südlichen Berge: Rauschenbergs Combine Paintings. Mehr Bildobjekt als Malerei waren Rauschenbergs Bed und Kickback in Kassel zu sehen, Bed als zu gewagt in Zwirners Büro, Kickback immerhin im Fridericianum. Auch auf diese Verweigerung der Malerei, dem Verzicht auf alle malerische Tradition und künstlerische Umsetzung, antwortet Hoehme, auch dieses Mal dezidiert poetisch. Man darf auch sagen europäisch. Der einzelne Mensch, der Künstler bleibt die zentrale Gestalt des Geschehens. Auch wo der gelernte Graphiker Schnüre, Strippen, Seile, Kabel, Rohre der Malerei zufügt und -führt. Das führt zu selbständigen, raumgreifenden Plastiken, wie bei „Farbgezeiten II“ aus dem Jahr 1974, dem Jahr seines Umzugs von Düsseldorf nach Gut Selikum in Neuss (wo heute die Gerhard und Margarethe Hoehme-Stiftung ansässig ist). Doch ersetzt der Konsumartikel keineswegs die Kunst, Ready made und Pop art sind nicht Hoehmes Ding: „Kunst ist immer auch Kunst“, eben. Das überträgt sich auch auf seinen berühmten Schüler Sigmar Polke.
„Raus aus dem Bild“ lautete das Leitmotiv jener Jahre und Hoehme war ihr Pionier. „Statische Happenings“ hat Luise Rinser, eine Weggefährtin aus römischen Tagen, Hoehmes Bildmontagen trefflich genannt. „Alles hinterlässt Spuren“, schreibt sie über den Maler in „einer Art Tagebuch“ und noch ein Wort fällt: „Luftwurzeln“. Das ist schön gesagt, realistisch, weil Suchende immer auch Wurzeln treiben und poetisch, weil der Weltkriegs-Stuka-Pilot am Himmel seine Spuren hinterließ, bei seinen vielen Abschüssen wie bei den eigenen Abstürzen. Er hat sie alle überlebt, aber immer daran gedacht. Später hat er eine große Flugangst entwickelt und fuhr lieber mit seinem Ford Mustang runter nach Italien.
1980 hat er noch einmal ein Forschungsprojekt eingereicht, es sollte den Italienfahrer Hoehme erneut ins geliebte Sizilien führen. L´Etna – Mythos und Wirklichkeit nahm dann mehrere Jahre in Anspruch, immer wieder reiste er zum Ätna, nahm Maß, legte Schnüre an den Krater, verlor sich in der schwarzen Lava, atmete noch einmal Höhenluft. Das Ergebnis seiner „Forschung“ stellte er 1984 in der Aula der Kunstakademie vor, unbedingt zeitgleich zum „Rundgang“. Die Akademie erteilte eine Ausnahme. Ein furioser, fünfzehnteiliger Bilderzyklus, Bildmagie und Bildexpolsion, abgründig und ergreifend. Realität und Geistiges, Kunstwerk wie Naturschauspiel treten in einen spannungsvollen Dialog. Land-Art oder Bildbeschwörung, Intervention oder Monumentalplastik – wer wollte das bestimmen. Hoehmes Testament. (Das Saarland-Museum erwarb die Folge 1986).
[FinalTilesGallery id=’53’]
“Meine Bilder”, schrieb Gerhard Hœhme 1968 in einem Manifest, “sind Übersetzungen von visuellen Lebenserfahrungen, in denen sich Erinnern, Sich-etwas-Vorstellen, Zusammenfügen, Abschätzen, eine grosse Rolle spielen.” Als „bewußtlose Geschichtsschreibung“ hat Adorno einmal verkürzend Kunstwerke bezeichnet. Bei Hoehme ist es mehr: Freiheit in der Bewusstwerdung der eigenen Position. Ende Juni 1989, dem Jahr der Wende und des Mauerfalls, ist er in Neuss gestorben.
Wer sehen will, wie weit es Hoehme in dieser Disziplin gebracht hat, der mag hinüber in den Kunstpalast wandern, wo zur Zeit die Retrospektive einer anderen Italienfahrerin gezeigt wird, die der Angelika Kaufmann. Hundert Jahre nach Kaufmann blieb von deren sprödem Klassizismus nicht die Bohne.
Redaktion: Anke Strauch
P.S. Eine Spur hat Hoehme mit Sicherheit hinterlassen. Z.B. die nach Sizilien. Michael Kortländer, Hoehmes Schüler an der Akademie von 1972 bis 1978, hat 2013 den Verein Düsseldorf Palermo gegründet und leitet in Palermo ein schönes Ausstellungshaus.
Die Gerhard Hoehme – Retrospektive ist bis zum 26. April 2020 in der Akademie-Galerie, Burgplatz 1, 40213 Düsseldorf, zu sehen.
Bis zum 24.Mai 20 zeigt der Kunstpalast die Ausstellung: Angelika Kauffmann. Künstlerin, Powerfrau, Influencerin
Was Sie bestimmt auch interessiert:
Heine Preis für einen Unbeugsamen. Was Palermo mit Düsseldorf verbindet