Die Japanische Wollmispel blüht in Bilk

Klimawandel voraus. Überleben in den Städten. Stephen Readers Gartenfleck als Pilotprojekt

Stephen Reader inmitten seines Kräuter- und Unkrautgartens

Der nächste Sommer kommt bestimmt! Mit noch mehr Starkregen, noch größeren Hitzewellen, mit Donner und Dürren, mit Blitz und Stürmen. Sechzig Grad wird es in den Innenstädten und es wird sogar noch heißer. Eine Düsseldorfer Konferenz stellte bereits 2022 die Frage, wie unsere Städte ergrünen und doch urban bleiben können. Bis 2050 werden weltweit zwei Drittel der Menschen in den sich immer weiter aufheizenden Ballungsräumen leben, schon in den kommenden zehn Jahren wird es mehr als drei Dutzend Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern geben.

Kein Wunder, dass der Städtebau als eine der größten Umweltsünden unserer Zeit gesehen wird. Aber es liegt eben auch eine große Chance darin. Ein nachhaltiger Städtebau, eine „neue neolithische Revolution“ könnte einen großen Beitrag zum Überleben in den Städten leisten.

Vielleicht liegt die Lösung ja im Kleinen. Und Nahen. Da macht eine kleine, fast vergessene Siedlung in Bilk auf sich aufmerksam. 28 Wohnhäuser stehen da in aufgelockerter Bauweise, zwei bis drei Geschosse plus Satteldach hoch, um das Gemeinschaftsgrün herum. Die Carl-Schurz-Siedlung hart am Südring, 1926 errichtet, zählt eigentlich zu den Großtaten der Weimarer Republik, dem Siedlungsbau. Aber sie steht da vergessen und ziemlich vernachlässigt, verwildert.  

Gemeinschaftgrün in der Carl-Schurz-Siedlung

Sechs Wohnhaussiedlungen aus der Zeit der ersten Demokratie in Deutschland wurden 2008 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Damals wie heute geht es um die Wohnungsnot. Heute kommt der Klimawandel hinzu und damit die Frage nach unseren Nahrungsmitteln. Nicht nur die Megastädte werden gar keine andere Wahl haben als sich selbst mit Nahrungsmitteln zu versorgen, falls sie ihr eigenes Überleben und das des Planeten sicherstellen wollen. Die beiden wichtigsten Pfeiler für eine Nutzung der Stadtlandschaft zur Lebensmittelproduktion sind zwei gleichermaßen gegensätzliche wie sich ergänzende Konzepte: Urban Gardening und Vertical Farming.

Im Jahr 2015 wurde auf Initiative des Mailänder Bürgermeisters der Milan Urban Food Policy Pact MUFPP verabschiedet, dem sich mittlerweile 250 Städte mit Abermillionen von Einwohnern an geschlossen haben. In Singapur etwa werden 1800 Community Gardens zwischen den Wohnhäusern genutzt. In Toronto gibt es inzwischen in vielen Stadtvierteln einen Schaugarten für die Bienenzucht. In jedem deutschen Baumarkt kann man längst die passenden Gerätschaften kaufen, um mit dem Urban Gardening zu beginnen. Es fehlt bisweilen nur die passende Anregung.

Obwohl das historische Vorbild zum Greifen nahe liegt, hat man hier das Potential der Carl-Schurz-Siedlung offenbar nicht erkannt. Die SWD Städt. Wohnungsbaugesellschaft Düsseldorf, Eigentümerin der Siedlung, läßt ihren Schatz verkommen. Der könnte leicht gehoben werden und hätte die Anlage, zu einem Pilotprojekt zu werden. Düsseldorfs Eintrittskarte zum MUFPP.

Revolutionen beginnen meist mit kleinen Schritten

„Falls Sie von der Aachener Straße, von der Ecke vom Schaffrath-Bau her kommend, den Parkplatz durchqueren – habt Ihr auch schon, jetzt, im November den Blütenduft mitbekommen? Der weht bei günstiger Windrichtung vom Baum hinter der Mauer zwischen Carl-Schurz- und Kinkelstraße. Es ist der Loquat (Japanische Wollmispel, mit den großen sägegezackten Blättern), den ich aus einem Mispel-Kern vor ca. 25, 30 Jahren ankeimte. Wenn der Winter gnädig bleibt, trägt der Baum im nächsten Sommer Früchte.“

Auch Hecken können entzücken. © Stephen Reader

Wer hier so bescheiden fragt und auf den nächsten Sommer hofft, ist Stephen Reader. Der Künstler, geb. 1950 in Zürich, aufgewachsen in England und Wales, wurde in Düsseldorf Meisterschüler der Kunstakademie bei Rolf Sackenheim. Mitte der Achtziger Jahre beteiligte er sich an der Rettung des Jagenberggeländes (Torte und Quirl), gründete “Leben in der Fabrik e.V.“ mit, bevor er auf Australienreise ging. Samuel Beckett (After Beckett, Symposion Sydney/Sydney Festival) führte ihn zur Performance (u.a. mit der Musikerin Sylvie Norhausen), heute strebt er eine Ausbildung zum Heilpraktiker an und widmet sich mit wachsender Leidenschaft dem Urban Gardening, oder auch Guerilla Gardening, in der Carl-Schurz-Siedlung. Seit Ende 1984 unterhält er eines der elf erhaltenen Ateliers unter dem Dach der Siedlung (in denen auch schon Abraham David Christian wirkte und Thomas Ruff ein frühes Haus-Motiv fand “Haus Nr. 1” von 1987).

Dort ist Reader dort zum überirdischen Garten-Guerillero geworden. Seinen knapp hundert Quadratmeter großer „Kräuter- und Unkrautgarten“ hat er spiralförmig angelegt, „damit er in die gesamte Anlage ausstrahlen kann.” Vom Einfachsten zum Vielfältigsten, heißt seine Devise. Was in seinen „Gartenfleck“ hineinkommt soll möglichst von selbst wachsen, aber gut duften, gut schmecken, medizinische Wirkung haben und noch dazu schön aussehen.     

„Andere Gärten haben andere Schätze“, weiß er. „Wir wohnen und haben unsere Freuden eben an einem ungewöhnlichen Ensemble von Gärten und Rasenflächen, die uns und der weiteren Umgebung doch auch Luft, Erholungsraum, Privatheit und Gemeinschaft schenken. Zugleich bereichert es das Stadtwesen insgesamt.“

Als Künstler will Stephen Reader vermitteln und den „Schatz“ heben. Da erscheint seine künstlerische „Intervention“ vielleicht nur am Rande bedeutend. Doch greift er da ein, wo sich die Oberfläche mit dem grundlegenden Wandel verbindet. In einer Ecke der Siedlung hat er ein munter spriessendes Naturgärtchen angelegt, halb geduldet, halb belächelt. Wild und struppig, Augenweide und Insektenparadies. Reader ist ein geduldiger Gärtner. Kraut und Unkraut gedeihen hier prächtig und wohlschmeckende, rotbackige Äpfel gibt es zurzeit auch zu kosten.

Dieser Gartenflecken wird jetzt zum Kunstpunkt 55. Führungen stehen auf dem Programm, Kost- und Riechproben inbegriffen, Äpfel, solange der Vorrat reicht, Kombattanten werden gerne geworben. Verkauft wird hier allerdings nichts.

Hallo liebe Nachbarn!

Mit Blick auf die Luther-Kirche. Wohnhäuser der Carl-Schurz-Siedlung von 1926

„Garten, Gärten, Gelände erzählen“, beginnt Stephen Reader seine Einladung. Doch Kunstpunkt 55 hat es in sich. Hinter der Ziffer verbirgt sich kein Atelier und auch kein Kunstraum. Was es hier zu bestaunen gibt, ist wiesenflach, tief verwurzelt und bodenlos aufregend. Viele werde es überhaupt nicht als Kunstwerk erkennen. Wer, bei aller Bescheidenheit, die Dimensionen dieser Intervention erfasst, lernt sie wertschätzen oder wird sie sogar bewundern.

„Natürlich seid Ihr, die Nachbarn, herzlich eingeladen. Keine Sorge! Es wird für Euch, für Sie, keinerlei Störung oder Belastung entstehen. Im Gegenteil: Wir möchten, dass das Grün dieser Wohnsiedlung in seiner wunderbaren Vielfalt auch öffentlich gewürdigt und wertgeschätzt wird als das, was es ist: ein Schatz, etwas Besonderes und für uns alle als Nachbarn gut und wohltuend: Schutz und gute Luft trotz des Südrings, Erholung und Erleichterung für eine gute Nachbarschaft“ so der Aushang in allen Treppenhäusern der Carl-Schurz-Siedlung.

Readers Beitrag besteht aus Kommunikation, Nachbarschaftsarbeit, Recherche über eine Siedlung der Zwanziger Jahre und ihre Gärten, aus Dokumentationslust und einem Aufruf zur Gemeinsamkeit. Seine künstlerische Arbeit ist, frei nach Beuys „soziale Plastik“ und zugleich Naturkunst mitten im Anthropozän. Reader will nicht die Welt retten, aber die Siedlung mitsamt ihren Gärten, seit über vierzig Jahren sein Kiez, ins öffentliche Bewußtsein bringen.

Vielleicht, so seine Hoffnung, geht ja doch endlich ein Keim auf. Die Japanische Wollmispel mit ihren großen sägegezackten Blättern, weiß Reader, wird in Japan und anderswo zum Bau von Flöten verwendet. In Japan heißen sie so wie der Baum: Biwa. Auf Chinesisch, Pipa. Vielleicht ist ja Reader der Flötenspieler, der uns mit sanften Tönen und spiralförmigen Gärten lockt und wachruft, eine neue zentrale Produktivkraft der Großstadt zu wecken, diverse Akteure zusammenzubringen, Energien freizusetzen, wie es sich bereits in der Reformzeit um 1900 im Gründungsfieber von Assoziationen, Kreisen, Bünden und Künstlerzirkeln zeigte. 

Carl Friedrich Schröer

Redaktionelle Mitarbeit Anke Indefrey


Kaputtsaniert. Eingang zu einem Wohnhaus der Zwanzigerjahre, Zustand 1987 bis heute

100 Jahre Carl-Schurz-Siedlung

Im nächsten Jahr kann die Carl-Schurz-Siedlung ihr 100jähriges Bestehen feiern. Sie wurde 1926 im selben Jahr wie der Ehrenhof von Wilhelm Kreis eröffnet. Im Gegensatz zu dieser monumentalen Anlage, gibt es zu der Wohnsiedlung bisher keinerlei Dokumentation. Weder ist bekannt wer der Architekt war, noch warum die Siedlung gegründet wurde. Sie hat nicht einmal einen offiziellen Namen bekommen, noch gibt es eine Planung oder Satzung für die Gemeinschaftsgärten. Eine historische Aufarbeitung wäre wünschenswert wie auch eine Würdigung der schmucken Siedlung als ein früher Beitrag zum „Bauen im Klimawandel“.


Kunstpunkte 2025
13./14. und 20./21. September
Kunstpunkt 55, Kinkelstr. 1, Düsseldorf-Bilk

Tag des Offenen Denkmals
Sonntag, 14. September

Bickendorf I

auf eiskellerberg.tv
Der Quirl. Oder der Kampf um den Salzmannbau

Oh my dear!

~ Von Carl Friedrich Schröer, 17.12.2020 ~ Über die Nähe der Bücher zur Kunst unserer Tage ist viel zu wenig gesagt worden. Der digitalen Revolution

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