Mehr Marl wagen

Blick in die Baustelle. Marshall 66 in Marl

Es geht um die Neue Mitte. Es geht um Marl, die Stadt auf der Kippe, die schrumpfende Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets. Das Skulpturenmuseum ist schon auf dem Abstellplatz gelandet.

Der internationale Museumstag wird am 21. Mai gefeiert. Er wird vom Internationalen Museumsrat ICOM jedes Jahr neu ausgerufen und in Deutschland an einem Sonntag zelebriert. Klar, auch Museen wollen die Welt verändern und dazu erst mal erhalten. In der ICOM-Resolution “On sustainability and the implementation of Agenda 2030, Transforming our World” (Kyoto, 2019) wird betont, wie sehr alle Museen die Aufgabe haben, eine nachhaltige Zukunft zu gestalten.

Der Deutsche Museumsbund bläst auf seiner gerade zu Ende gegangenen Jahrestagung in Osnabrück ins gleiche Horn: Klimaschutz. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) begrüßte den aktuellen Leitfaden als wichtigen Schritt zur CO2-Reduktion der Museen. Der liefert Anregungen, wie Energiesparen, aber auch Veränderungsprozesse organisiert werden können. Für kleinere Museen mache ein Zusammenschluss mit anderen Institutionen Sinn, um Aufgaben zu bündeln und Erfahrungen auszutauschen.

Hier ist Marl weit vorne. Marl ist aber auch ein gutes Beispiel für die zunehmend unter Druck geratenden Kommunen. Mit 83.697 Einwohnern ist sie die zweitgrößte Stadt des Kreises Recklinghausen. Die Stadt schrumpft, ihre Bevölkerung ist überaltert, der Ausländeranteil wächst, dazu kommen Migranten und Flüchtlinge in hoher Zahl. Hier unterscheidet sich Marl wenig von anderen Städten in Deutschland. Der Demografiebericht für die Stadt Marl von 2008 weist die Richtung: „Dennoch sollte nichts unversucht bleiben, um mehr Menschen (insbesondere junge Erwachsene und Familien) in Marl zu halten bzw. zu einem Umzug nach Marl zu bewegen und den Trend der Abwanderung zu bremsen, zu stoppen oder gar umzukehren.“ Und was wäre der Weg? „Die Lebensqualität in Marl zu verbessern. Ein entsprechendes Wohnumfeld, attraktive Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen, ein möglichst hohes Maß an Urbanität und ein vitales kulturelles Leben sind Standortfaktoren, denen mindestens das gleiche Gewicht zukommt wie das Vorhandensein von Arbeitsplätzen.“

„Städtebau wird zum Stadtumbau“

Blick ins Marler Outlet-Center

Deshalb kam die neue Mitte, kam das Marschall 66 auf den Plan. Der Stadtplaner und Architekten Günther Marschall (1913 bis 1997), ein Schüler Heinrich Tessenows, wurde in den 1960er und 1970er Jahren zur prägenden Größe jener Aufbruchjahre. Er entwarf das neue Stadtzentrum „Marler Stern“ mit Rathaus, Wohnhochhäusern und dem Einkaufszentrum auf freiem Feld. Marschall entwarf auch „die insel“, ein heller Atrium-Bau aus Glas, Stahl und Klinkern, in der sich bis heute das Adolf-Grimme-Institut befindet. Mitte der 1960er Jahre erhielt er den Auftrag zum Bau einer neuen Volksschule, die später zur Hauptschule an der Kampstraße ausgebaut wurde. In diesem lichten Flachbau soll das Marschall 66 entstehen.

Die schrumpfende Stadt, so das Fazit der Studie, „findet nicht durch Neubauten statt, sondern durch qualitätsvollen Umbau. Grün- und Landschaft mit ihren ästhetischen Qualitäten werden zu dominierenden und wichtigen Gestaltwerkzeugen der Stadtplanung.“ Prima Vorlage. Doch wie steht es mit einer Rückkehr der Produktion in die Stadt, von dem eine aktuelle Stadtplanung neuen Auftrieb für sieche Städte verspricht? Oder ist das Outlet-Center die Rettung? 2020 wurde im Marler Zentrum eines mit 25 Outlet-Stores eröffnet, in Phase II und Phase III soll es auf 70 bis 80 Stores erweitert werden. Über 2.000 kostenlose Parkplätze stehen zur Verfügung. Jährlich 4,2 Millionen Besucher sollen anrollen. Gut möglich, versprechen die Investoren, schließlich leben 8 Millionen Menschen in einer 60-minütigen Fahrtzeit ringsum.

Nachhaltig ist anders. Und nach Marl wird es keine neuen Einwohner locken. Die Stadt hat die Zeichen der Zeit verstanden, sie will keinen Neubau für ihr traditionsreiches Skulpturenmuseum errichten. Nachdem der Auszug aus dem maroden Rathaus fällig wurde, soll die Marschall-Schule zu einem neuen Kulturzentrum umgenutzt werden. Zusammenschluss mit anderen Institutionen, Aufgaben bündeln, Erfahrungen austauschen. Im Marschall 66 könnte das vorbildlich gelingen. Doch nun droht das Aus für das Vorzeigeprojekt.

Kein Abwickler. Museumsdirektor Georg Elben

Schon zweimal fand im zersplitterten Rat der Vorschlag von Marls Bürgermeister Werner Arndt (SPD) keine Mehrheit. Der Rat ist zerstritten. Die für den 11.Mai angesetzte Ratsentscheidung über Mehrkosten beim Ausbau des Marschall 66 wurde von der Tagesordnung genommen. Die nächste Ratssitzung ist für den 15. Juni angesetzt. Ausgang ungewiss. Dann ist Sommerpause und dann Sanktnimmerleinstag. Es geht um sieben Millionen Euro gestiegener Baukosten. Vor drei Jahren wurden 15 Millionen Euro veranschlagt. Sollte es zum Baustopp kommen, wird Marl vor der Blamage stehen. „Ich sehe mich nicht als Abwickler“, sagt Georg Elben. Der Kunsthistoriker leitet das Marler Museum seit Mitte 2011, seine Geduld ist am Ende: „Einen Plan B gibt es nicht“.

Das Marler Museum: ausgelagert

Derweil fristet sein Museum ein Schattendasein in einem Notbehelf auf dem Schulhof der Martin-Luther-King Gesamtschule im Stadtteil Hüls. Alle Planungen liegen auf Eis. Die eigene Sammlung von Skulpturen der Klassischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst ist derweil auf Depots in Münster verteilt.

Unverdrossen hält das Marler Museum an Marschall 66 fest. Bei allem Kleinstadtzank zwischen Hochhinaus und Tiefzerstritten, zwischen „Klein-Brasilia“ und Outlet-Euphorie ist es erstaunlich, mit wieviel Elan und großem Sachverstand hier eine erste Museumsausstellung der US-amerikanischen Künstlerin Barbara Hammer präsentiert wird. „Would you like to meet your neighbor?!“ heißt diese Überblicksschau über ihr 50 Jahre weitgespanntes Werk. Die Ausstellung bietet zugleich einen tiefen Einblick in die ästhetischen und narrativen Mittel der Film- und Videokunst. (Bis 18. Juni 2023)

BLACKOUT nannte sich zum Abschied aus dem „Glaskasten“ 2021 eine Lichtinstallation von Mischa Kuball. Ob die Lichter im neuen Museumsquartier jemals angehen ist ungewisser denn je.

Nutzer mit Raumverteilung im Marshall 66

Was Elben gerne den „Dritten Ort“ nennt, soll Skulpturenmuseum (ca. 2000 qm) und Stadtbibliothek aufnehmen, die städtische Musikschule und die Volkshochschule werden mit Angeboten präsent sein. Ein fast 500 Quadratmeter großes Foyer wird für Veranstaltungen aller Art genutzt werden, eine Cafeteria, ein Kunstdepot, eine Werkstatt, Räume für die museumspädagogische Arbeit und ein Atelier kommen hinzu. Ein über sechs Meter hoher Ausstellungsraum wird die Präsentation großer Skulpturen ermöglichen. Mit drei großen Innenhöfen und der Blickverbindung durch die gläsernen Gänge in Richtung Park wird das Museum auch am neuen Standort wieder wie zu besten Glaskasten-Zeiten Transparenz zeigen. „Marschall 66 wird ein gutes Museum“, verspricht Museumsdirektor Elben. „Kunst und Kultur werden hier ganzheitlicher zu erleben sein“. Und doch steht das Marschall 66 auf der Kippe. Die Kosten steigen, die Baumaßnahmen ruhen und Marl geht die Puste aus.

Brandbriefe und Beistandspetitionen treffen im Marler Rathaus fast täglich ein. „…Die Sicherung der Zukunft des Skulpturenmuseum Marl stellt weit mehr als einen kommunalen Sachverhalt dar“, warnen etwa die Sprecher der RuhrKunstMuseen Peter Gorschlüter vom Museum Folkwang in Essen und Regina Selter vom Museum Ostwall im Dortmunder U. „Ein Ratsbeschluss, der einem in öffentlicher Trägerschaft stehenden Museum die Existenzgrundlage entzieht, ist in der Geschichte der Bundesrepublik ein bisher einmaliger Vorgang, dessen Tragweite den Ratsmitgliedern bewusst sein sollte und zu einem bundesweiten Einspruch führen wird, sollten nicht zeitnah neue Beschlüsse zur Sicherung des Museums, seiner herausragenden Sammlung sowie seiner weit über die Grenzen Marls bedeutenden Vermittlungsarbeit erfolgen.“

Nam June Paik-Award geht nach Marl

Camille Norment erhält den Nam June Paik Award 2023, Foto: Herman Dreyer

Unterstützung kam unterdessen aus Düsseldorf. Die Kunststiftung NRW hat nach immerhin fünf Jahren Grabesstille ihren Nam June Paik-Award in abgespeckter Form wiederbelebt und kooperiert für zunächst drei Jahre mit dem Marler Skulpturenmuseum. Am 27. August wird die Preisverleihung des internationalen Medienkunstpreises (25.000 Euro) in „der Insel“, dem seit 2010 gemeinsamen Sitz des Europäische Zentrums für Medienkompetenz (ecmc) und des Adolf-Grimme-Instituts, stattfinden. Paik, der immerhin 19 zentrale Jahre in Nordrhein-Westfalen lebte, hat die Medienkunst im Industrieland NRW viel zu verdanken. Mit Camille Norment wird 2023 eine Preisträgerin in Marl geehrt, die eine Form von erweiterter Medienkunst vertritt. Norment (geb.1970) ist eine in Oslo lebende US-Multimedia-Künstlerin, die als Sängerin und Komponistin (ihres Camille Norment Trio) auftritt, mit Sound, Installation, Skulptur, Zeichnung, Performance und Video arbeitet. In ihren Zeichnungen, Performances und Kompositionen bezieht sie sich ästhetisch und konzeptionell auf den Begriff der kulturellen Psychoakustik. Für Marl wird sie eine neue Soundart-Installation in einem Glashaus entwickeln. Schallwellen werden den Boden erzittern lassen.

Modell des „Glass Sound Pavilion“ für den Skulpturenpark Marl, Camille Norment, Foto: Kunststiftung NRW

Da Zusagen der NRW-Ministerin Ina Scharrenbach für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung und Ina Brandes, Ministerin für Kultur und Wissenschaft (beide CDU) bisher ausblieben, kam es auch zu keiner Ratsentscheidung in Marl. Politpoker auf Kosten eines Museums.  

Im kommenden Frühjahr soll das sanierte Rathaus dann endlich wieder bezogen werden. Auch hier sind die Kosten durch die Decke geschossen. Aktuell wird mit etwa 100 Millionen Euro kalkuliert. 20 Millionen Euro Fördermittel wurden vom Bund und Land bewilligt. Bürgermeister Arndt gibt sich weiter zuversichtlich: „Das Marschall 66 ist neben der Sanierung des Marler Rathauses ein Schlüsselprojekt zur Aufwertung der Stadtmitte und damit Bestandteil der Internationalen Gartenschau 2027“. Und auch: „Es gibt beim Marschall 66 kein Entweder-Oder. Das Vorhaben steht nicht in Konkurrenz zu anderen Projekten. Wir werden alles miteinander vereinbaren können.“

Eine Mehrheit, nicht mal in der eigenen Partie, hat er derzeit nicht. Marschall 66 wird bereits mit rund zehn Millionen Euro aus Bundes- und Landesmitteln gefördert. „Sollte das Vorhaben seitens Politik verschoben oder gar gestoppt werden, droht eine Rückzahlung von aktuell 600.000 Euro,“ warnt Kulturdezernentin Claudia Schwidrik-Grebe. Auch das schon geplante neue Grimme-Quartier auf dem Gelände eines ehemaligen Hallenbades (auch dieses Bauwerk stammte von Günther Marschall), käme ohne das Marschall 66 „nicht zu seiner Entfaltung“, gibt Arndt zu Bedenken. Und weiter: „Wenn Marschall 66 nicht kommt, sind wir verpflichtet, das Gebäude zu erhalten, es zu sanieren und einer anderen Nutzung zuzuführen. Das würde uns viele weitere Jahre kosten.“ Aber Marl würde weiter schrumpfen und auch der Ausverkauf setzte sich beschleunigt fort.

Das umkämpfte Museum

Umbau Stadtmitte. Das Marler Rathaus eingerüstet

Marl ringt vor allem mit sich um sein Museum – und damit um seine Mitte. Die Stadt ohne historisches Zentrum am nördlichen Rand des Ruhrgebiets musste sich immer schon neu erfinden. Sie baute sich in den 60er Jahren mit viel Zukunftsgeist eine neue Mitte auf der grünen Wiese. Sinnbild für das neue Marl wurde der Rathauskomplex der niederländischen Architekten Hendrik van en Broek und Jacob Bakema, die als Sieger aus einem internationalen Architekturwettbewerb hervorgingen. Von den ursprünglich geplanten vier Türmen wurden zwar nur die beiden niedrigen mit sieben und fünf Normalgeschossen gebaut, aber ein Zeichen der Zuversicht am Ende der letzten Ruhrkonjunktur wurde es trotzdem. Seit 2015 steht das Marler Rathaus als markanter Ausdruck der Ruhrmoderne und „Symbol demokratischer Baukultur“ unter Denkmalschutz.

Welchen Stellenwert soll das Museum heute haben? Was ist es den Marlern wert? Was könnte es ihnen bringen? Das war auch die Frage auf der Generalversammlung der ICOM 2019 in Kyoto. Eine Neufassung der Definition von „Museum“ stand auf der Tagesordnung. Die deutsche Sektion erhob Einspruch, weil die neue Formulierung zwar ein Mission Statement für das 21. Jahrhundert sei, aber grundlegende, seit Jahrzehnten unveränderte definitorische Elemente kurzerhand gestrichen werden sollten. „Museen müssen auf Dauer angelegte Institutionen sein“, befanden die deutschen Museumschefs. So steht es jetzt in der neuen Definition: „Ein Museum ist eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht.“ Am besten, die nächste Generalversammlung findet im Marschall 66 statt.

Carl Friedrich Schröer



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