~ ein Diary von Julia Stellmann~
Museumsbesuche sind gefährlich geworden, vielleicht waren sie es auch schon immer, können sie doch in gewisser Weise zu Brandstiftern des Geistes werden.
Umso mehr lechzt die Seele nach Zerstreuung, nach einer Flucht in die Traumräume der Kulturschaffenden. Wohin sonst mit all den Gedanken und Gefühlen, wenn die Orte der Hoffnung geschlossen sind? Wie alle Kulturorte befindet sich auch das KAI 10 im Hafen derzeit im Dornröschenschlaf, schlummert aber hinter den Mauern eine Ausstellung mit Sprengkraftpotenzial.
In einer Zeit des Stillstands, des bewegungslosen Verharrens und des zarten nach vorne Tastens in der Dunkelheit, entwirft das KAI 10 mit der Ausstellung „Eine lange Zeit kurz“ einen Gegenentwurf zur linearen Zeitvorstellung. Die Uhren ticken anders im KAI 10, wenn wankelmütiges Empfinden über die Zeit bestimmt und subjektive Erfahrungen an Raum gewinnen. Acht internationale Positionen geben den Takt vor, der das Leben sonst in zeitliche Strukturen zwingt. Sie führen uns in assoziative (Denk-)Räume des, mal leisen, mal lauten Aufbegehrens gegen das Diktat des unnachgiebig fortschreitenden Sekundenzeigers.
Der Gang durch die Ausstellung ist keine Bewegung auf einem Kontinuum, sondern ein Aufgreifen und Verlieren loser Fäden, ein kurzes Innehalten von Treibgut auf dem reißenden Strom der Gegenwart. Wenn ich mich also in einem Korridor zwischen Vergangenheit und Zukunft wiederfinde, markiert dieser vielleicht den Anfang, vielleicht das Ende, zweifellos jedoch einen Zustand des Übergangs. Dort stehe ich im gleißenden Licht des Moments, werfe Schatten in beide Richtungen und bin zugleich schattenlos. Irgendwo zwischen dem Gestern und Morgen findet das Jetzt statt, der undefinierbare Zeitpunkt des Seins. Wandle im hellen Licht der illuminierten Buchstaben von David Horvitz, blicke zur einen, zur anderen Seite und bin doch gefangen im Zwielicht. Was wenn das Zwielicht die Heimat des Augenblicks ist?
Langsam rieselt Konfettiregen von oben herab, nicht wahrnehmbar für die Kamera, kaum merklich für das Auge. Jedes einzelne Konfetti ein Abglanz von der glitzernden Kulisse dieser Welt. Bunte Papierschnipsel bewegen sich in Zeitlupe, fallen tänzelnd durch die Luft, aber nie ganz zu Boden. Niemand außer mir sieht wie die Zeit fortschreitet und ich will schreien, innerlich wie äußerlich, aber niemand kann mich hören. Die Welt ist im Stillstand begriffen, im endlosen Freudentaumel und mittendrin der stumme Schrei eines Kindes, auf dessen Gesicht sich das blanke Entsetzen spiegelt. Der Schrei aber bleibt gänzlich unbemerkt, weil niemand begreift, wie die Realität über unseren Köpfen zusammenbricht, wie die Welt in 1000 Teile zerspringt und von oben auf uns herniederregnet. Die Schreie bleiben ungehört, weil der Rufende keine Stimme hat, keine Stimme zu sprechen und keine zu schreien. David Claerbout erschafft mit „the ‚confetti‘ piece“ (2015-2018) ein amerikanisches Wahlkampfszenario, das nie in dieser Form stattfand und doch genauso existieren könnte. Sein Zukunftsentwurf wirft lange Schatten auf die Trump-Ära der folgenden Jahre, die soeben ein Ende gefunden hat. Ein Werk, damals wie heute, von ungebrochener Aktualität.
Aber was bedeuten schon unsere Belange angesichts der Ewigkeit der Erde? Ein Wimpernschlag der Geschichte und doch hinterlassen wir Spuren, haben wir so tief gegraben, die Natur so umgepflügt bis sie keine Wurzeln mehr schlug. Endlos lange Monokulturen fügen sich zu einem Muster, erinnern in Drohnenflügen über das künstlich bewässerte Tal der Sonora-Wüste in Kalifornien in der Videoarbeit von Lukas Marxt an Farbfeldmalereien. Tiefe Furchen sind hineingeschrieben ins Gesicht der Erde, die uns nun selbst vor unüberwindbare Gräben stellen, so tief, dass wir sie kaum überwinden mögen.
Wohlmöglich haben wir die Verbindung zur Natur verloren, sind der digitalen Zeitenwende erlegen, die in den analogen Raum hineinragt. Wir denken und handeln vom Ergebnis aus, sind fremdbestimmt von Algorithmen, die unsere Vergangenheit vermessen, die nichts wissen von unseren Träumen und Hoffnungen und daraus die Zukunft erbauen. Eine Zukunft errichtet aus den Reflektionen der Wirklichkeit.
Als ich schließlich aus dem Ausstellungsraum ins Freie trete, ist mir nicht nach dem hektischen Treiben der Stadt. Vielmehr spaziere ich unter goldener Herbstsonne am Rhein entlang und blicke gedankenverloren aufs Wasser, lasse meinen Blick flussabwärts treiben und bin selbst nur Treibgut auf dem Strom der Zeit.
Vorbei an verblichenen Kirchturmuhren, ihr Glockengeläut, ein Relikt vergangener Zeit, das uns zuweilen aufhorchen lässt, uns aus der Hektik des Alltags reißt. Weit darüber vor dunstig blauem Himmel schwebt eine Möwe, die sich aufbäumt gegen den Wind, von ihm getrieben gleichsam auf der Stelle steht, im Flug verharrt, nicht fortkommt und doch keineswegs vom Himmel fällt. Vielleicht birgt manchmal auch Stillstand das größte Fortkommen, denke ich und steige in die Bahn.
Redaktion: Anke Strauch