Wie es der Zufall wollte traf man sich zur After-Show-Party in De Vleeshal in Middelburg in der niederländischen Provinz Zeeland. Der Zufall ist gerade mal zwanzig Jahre her und bei näherem Hinsehen gar kein Zufall. Je länger er dauert, desto mehr zerfällt er in einzelne Schritte, eine Abfolge von Wegkreuzungen und Entscheidungen, die insgeheim, aber unwillkürlich zu eben dieser Begegnung führten: Nadja Thiel und Michael Cosar hatten sich auf den Weg zu einer Ausstellungseröffnung ins alte, gotische Rathaus nach Middelburg gemacht, wo sie auf Melissa Gordon trafen, die ihrerseits aus Amsterdam gekommen war, wo sie für zwei Jahre in De Ateliers eines der internationalen begehrten Künstlerateliers bezogen hatte. Marlen Dumas war dort Mitte der Siebzigerjahre Artist-in-Residenz und betreute dort nun Gordon als Dozentin.
Mehr eine gegenseitige Zubewegung als ein Zufall, möchte man meinen. Die Kette hält. Anfang 2024 richtet die Galerie Cosar Melissa Gordon, 1981 in Bosten/USA geboren, ihre siebente Einzelausstellung aus. Myopia, so der Titel, ist ein schönes, typisches M.G.-Wortspiel, eigentlich ein Gordongram, zieht er doch die Arbeitsweise dieser Künstlerin perfekt in einem Wort zusammen: Es ist spielerisch, andeutungsvoll, widersprüchlich und eingängig.
Melissa Gordon gehört einer Künstlerinnengeneration an, die bestens vernetzt, vielseitig interessiert, präzise unterrichtet, weltgewandt und unbedingt offen ist. Man hat sie Kontext-Künstler genannt, weil nicht das einzelne Werk zählt, das sich beim bloßen Betrachten erschließen ließe. Sondern ein Hinweis, ein Zusammenhang, eine Bedeutungsebene die nächste ergibt – und wer sich in diesen vielfach verschachtelten Bezügen nicht sicher auskennt, irgendwie auf verlorenem Posten steht.
Melissa Gordon gehört keiner Gruppe an, Stilbildung ist nicht ihr Ding, viel zu sehr ist sie an offenen Diskursen und unabsehbaren Entwicklungen interessiert. Sie lebt, ob in Brüssel, ihrem Wohnort, oder in Oslo, wo sie unterrichtet, in permanentem, lebhaftem Austausch mit ihrem circle.
Ihr Atelier darf man sich nicht als ein Ort der Abgeschiedenheit vorstellen. Sie ist unentwegt unterwegs und sie schätzt Kollaborationen, die Zusammenarbeit mit befreundeten Künstlerinnen, so zuletzt mit Rita McBride (something stranger than me, Titel der gemeinsamen Ausstellung 2027/8). Eine weitere Koinzidenz ergibt sich mit der gleichzeitigen Ausstellung von McBride in der Galerie Fischer.
In einem osmotischen Verfahren nimmt Melissa Gordon alle Eindrücke und Empfindungen auf, um sie in immer neue Werke und Werkserien zu übersetzten. Sie spricht viele künstlerische Sprachen. Ölmalerei, Siebdruck, Fotografie, Texte, Collage, Settings, Performance, Wandarbeiten, Rauminstallationen, alles und noch viel mehr werden in diesem prinzipiell offenen Verfahren herausspringen. Kommunikation ist alles, dem Zufall wird dabei viel Raum gegeben. Doch verfolgt sie mit großer Konsequenz und harter künstlerischer Arbeit ihren Weg.
Melissa Gordon lässt sich als Konzeptkünstlerin sehen, die das Collage-Verfahren der Pop Art zu einem Lebens- und Kunstprinzip Post-Warhol erweitert hat. In Abkehr von einer intellektuell zugespitzten Konzeptkunst wendet sie sich der Wirklichkeit, den Gegenständen auch dem Trivialen zu. Doch treten neue Themen und Auseinandersetzungen hinzu, der Feminismus, die Rauminstallation. Ihre großformatigen „Female Readymades”, jeweils 180 mal 200 cm (Acryl, Siebdruck, Flashe, Marmorstaub auf Leinwand) von 2020 greifen zurück auf Marcel Duchamp oder Daniel Spoerri, sie zeigen Besen, Kalender, Mabels Bild, Netz, Seil, Kette, Testleinwand, oder Mikrofon des Komikers, Gürtel, Stuhl, Strümpfe, Seil, Schal und sind doch weibliche Kollagen aus dem Fundus von Fertigprodukten.
Das Bild und die Figur lassen sich als immer wieder kehrendes Auseinandersetzungspotential erkennen und werden auch in der neuesten Werkgruppe zur Grundlage von großen Leinwandarbeiten. Gordon machte sich unlängst auf die Reise zu Ateliers von namhaften oder weniger namhaften Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts in Belgien, Norwegen oder Frankreich, um sich an Ort und Stelle ein Bild von der räumlichen Situation, besonders den Ausblicken aus den Atelierfenstern zu machen. Ihre Fotografien übersetzte sie später in Siebdrucke, um diese wiederum frei malerisch zu verändern. Die Farbe ist hier stark zurückgenommen. Ihre malerische Handschrift gibt sich in den abstrakten Übermalungen der Fensterscheiben zu erkennen. Die Aussicht wird farbig, jedoch aussichtslos. So kommt es zu vielschichtigen, erstaunlich mildgestimmten Interieur-Arbeiten, die die Intimität des Ateliers bewahren, eine Hommage an die Künstlerinnen-Kolleginnen darstellen und doch als Gelegenheit auftreten, dem eigenen Werk eine neue Facette, eine neue Bewegung hinzuzufügen. Zufall ist, worauf wir uns, ohne es zu ahnen, schon seit langer Zeit zubewegt haben.
C. F. Schröer
Melissa Gordon
Lecture Performance “Stand Up”
Dienstag, 30. Januar um 19 Uhr
im Jacobihaus/Künstlerverein Malkasten
Eröffnungen der Galerien in Flingern am 20. Januar
Myopia– Melissa Gordon
COSAR, Birkenstr. 39, 40233 Düsseldorf
99 drawings #1 von Beuys bis Yaz
boa-basedonart, Birkenstr. 112, 40233 Düsseldorf