Im Namen der Kunst

Mit der documenta fifteen erledigt sich die Documenta in Kassel gerade selbst

Documentawiese am Tag der Eröffnung. Im Hintergrund das Fridericianum mit einer Arbeit von Dan Perjovschi

Es herrscht Krieg in Europa und die Documenta findet statt. Seit 1945, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der von Deutschland ausging, seit dem Ende des Holocaust, der von Deutschland betrieben wurde, galt: Die Grenzen sind unantastbar wie die Würde jedes einzelnen Menschen. Auf dieser „Nachkriegsordnung“ basierte ein unwahrscheinlich langer Friede. Wiederaufbau und die Suche nach den Gründen für das weltumspannende größte Gemetzel aller Zeiten waren seine Garanten.   

Seit Februar 2022 führt Russland einen groß angelegten Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits 2014 überfiel Russland die Krim und zerstörte damit den Frieden in Europa, vielleicht in der Welt.

Am 18. Juni wurde die fünfzehnte Documenta in Kassel für 100 Tage eröffnet. Kein Wort, kein einziger künstlerischer Beitrag zum aufflammenden Krieg in Europa, kein Kommentar zum Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. Und dass, obwohl die Documenta in Kassel stattfindet, keine 1000 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt, obwohl die westlichen Demokratien in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit dem russischen Autokraten Putin stehen und der Westen insgesamt in eine gefährliche Frontstellung mit den Diktaturen dieser Welt hineingezogen wird. Die Freiheit, gewiss auch die der Kunst, wird zurzeit im Donbass, vielleicht bald schon an der Grenze zu Polen, Litauen und Finnland verteidigt werden müssen.

Kuratoren vereint. Künstlerkollektiv ruangrupa

Aber das alles ist der documenta fifteen egal. ruangrupa, ein Künstlerkollektiv aus Jakarta, Indonesien, dem vom Aufsichtsrat der gemeinnützigen Documenta und Museum Fridericianum GmbH die künstlerische Leitung übertragen wurde, will politisch sein und sozial wirken, vor allem aber „Lumbung“. Die Documenta in Kassel soll „Teil unseres Ekosistems“ werden, schreibt ruangrupa. „Vor allem aber weigern wir uns, uns von europäischen, institutionellen Agenden ausbeuten zu lassen, die nicht die unseren sind.“ (so steht es im offiziellen Handbuch, der den Documenta-Katalog ersetzt). Niemand fragte sich, was hier „ausbeuten“ bedeutet, wo es doch darum ging, für 42 Millionen Euro aus deutschen Steuereinnahmen eine Kunstausstellung in Kassel entstehen zu lassen, die Ausstrahlung in eine verunsicherte Welt haben sollte. Eine Botschaft, die günstigenfalls sogar eine Stärkung der Demokratie durch Kunst hätte sein können.

Das ist gründlich schief gegangen. Man weiß gar nicht, was eigentlich der größere Skandal in Kassel ist, die judenhasserische Tendenz der gesamten Veranstaltung oder der anti-westliche Diskurs. Was ruangrupa unter „Lumbung“ versteht wird erst allmählich deutlich. Es ist ein umgangssprachlicher Begriff indonesischer Bauern, die Überschüsse ihrer Reisernte in eine gemeinsame Scheune einbringen, um so für Notfälle eine Vorsorge zu treffen. Wobei es jedem Reisbauern überlassen bleibt, wie hoch er seine Überschüsse misst.

Nun kann man die deutschen Steuermillionen als „Lumbung“ begreifen, die als Überschüsse in eine gemeinsame Großveranstaltung eingebracht werden, um Notzeiten vorzubeugen. Doch ruangrupa dachte von Anfang an anders. „Wir wollten stattdessen eine Ausgabe der documenta entwickeln, die etwas zu unseren Bemühungen (in Indonesien) beiträgt“.

Jakarta, Indonesien, der “Globale Süden” sind hier gemeint. Und der wird in einer Frontstellung zum Globalen Norden, zum Westen und speziell zur Documenta in Kassel gesehen. Ihre Weigerung besteht explizit darin, sich in das „seit Langem bestehende documenta-system zu integrieren.“ Lumbung als Einbahnstraße.

Was ruangrupa als „documenta-system“ abkanzelt, hat seinen Grundimpuls und seine weltweite Bedeutung als Gegenausstellung zur Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 in München und vielen weiteren Städten Deutschlands. Mit der Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ ist ja nicht, wie Walter Grasskamp schrieb, „irgendein blödsinniger, vernagelter, oder barbarischer Angriff auf die moderne Kunst inszeniert worden. Vielmehr war sie ein suggestiver und raffinierter Versuch, die moderne Kunst auf der Höhe ihrer Mittel und Probleme zu diskreditieren.“ Die Feme-Ausstellung wurde zum Erfolg, weil sie die Ressentiments gegen die Moderne zu bedienen verstand.   

Deshalb stellten sich alle Documentas mit mehr oder minder großem Erfolg dieser Hetzausstellung von 1937 und der von ihr propagierten Ideologie entgegen. Auch wenn erst im vergangenen Jahr das Ausmaß der Verstrickungen der Gründerväter der Documenta in den Nationalsozialismus deutlich wurde und sie ihrer historischen Aufgabe nicht gerecht werden konnten, blieb es die Aufgabe der Documentas, die moderne Kunst zu rehabilitieren und zugleich ihre Fragwürdigkeiten, Dissonanzen und offensive Arroganz zu beleuchten. Denn das „Projekt der Moderne“ (Jürgen Habermas) war ohne die Entwicklungen der modernen Kunst nicht einlösbar. Der Freiheitsbegriff ist mit dem Westen verbunden, wie mit der modernen Kunst. Er ist im Kern seine Stärke. Ob er auch seine Schwäche ist, wird zurzeit erneut in einem brutalen, blutigen Krieg in Europa ausgefochten. Die Kunstfreiheit, unter der ruangrupa steht und deren Schutz sie selbstverständlich genießt, innerhalb dessen sie agiert und agitiert, gegen den Westen zu wenden, führt die Documenta in eine schwere Krise, ihre Existenzkrise.

Die Documenta war die große Kunstschau, die das neue Selbstbild der Bundesrepublik zeigen wollte, sie war sichtbarer Beweis der Westbindung, Manifest der internationalen Kunstmoderne, Fanal des Werteuniversalismus, weltoffen, selbstkritisch und bereit, auch nichtwestliche Positionen aufzunehmen bis an die Grenze zur Selbstaufgabe. Diese Grenze ist nun überschritten. Denn dem Judenhass der Natioanlsozialisten ausgerechnet auf der Documenta Raum zu geben, haut der Grundidee dieser Ausstellung die Beine weg.

Ruangrupa geht es um die eigene ideologische Agenda, die sie unter dem Schutz der Kunstfreiheit und mit Millionen an Steuergeldern verfolgen und gegen die Agenda der Documenta wenden. Das versteht ruangrupa unter „documenta-System“. Der Konsens, dass die Documenta eine Kunstausstellung ist und dort die Fragen der Kunst verhandelt werden, ist aufgebraucht. Die documenta fifteen verhandelt im Namen der Kunst ideologische Konzepte, die die Kunst benutzt und der Freiheit oft widersprechen. Es geht diesem Kollektiv aus Jakarta so wenig um den Westen wie um westliche Kunst. Es geht ihm im Gegenteil um Propaganda im Sinne eines Postkolonialismus. Was in Kassel unter der Fahne „Globaler Süden“ segelt, ist keineswegs dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern ein Kampfbegriff gegen die westlichen Werte.

So ist der auftretende Antisemitismus in Kassel, genauer der Judenhass, keineswegs zufällig oder beiläufig. Vor ihm ist früh gewarnt worden. Die tätlichen Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen haben in diesem Land einen erschreckenden Höhepunkt erreicht. Der muslimische Antisemitismus ist auf Rekordhoch gestiegen. Wer ihn unterschätzt, geht der Theorie des Postkolonialismus auf dem Leim. Der Postkolonialismus begreift den europäischen Kolonialismus keineswegs als eine abgeschlossene historische Epoche. Im Gegegnteil, er fände seine Fortsetzung in vielen Teilen der Welt mit perfiden und brutalen Methoden bis heute. Der Staat Israel ist nach dieser Lesart Teil und Fortsetzung des Kolonialismus im Globalen Süden durch den weißen Mann. Die Unterdrückung der Palästinenser durch die Juden gilt als das krasseste Beispiel. Dass sich hier postkolonialistische Theorie mit Islamismus und Antisemitismus kreuzen, hätte der Documentaleitung bekannt sein können.

Es geht ruangrupa nicht eigentlich um Kunst, sie will sich auf gar keinen Fall einlassen auf eine Auseinandersetzung mit Kunst, denn sie wittern dahinter ein Herrschaftssystem der alten Kolonialherren, der Weißen, der Juden und Christen, der Europäer. Der Islam kennt keine Aufklärung, doch ist die Kunst der Moderne ohne die europäische Aufklärung eben nicht denkbar. So geriet diese 15. Documenta zum Frontalangriff auf westliche Kunst. Sie kommt, wenn überhaupt nur am Rande vor, als dienstbares Medium, um einseitige politische Inhalte zu transportieren. Daher keine künstlerische Position aus Israel, wohl aber aus Palästina. Keine Position aus den USA oder aus Japan, wohl aber aus Südafrika, Kenia und den Philippinen.

Propaganda pur. Schweinebande mit Geldsack lässt auf das Volk schießen. Banner von Taring Padi

Taring Padi, ein Kollektiv von Künstlern und Künstlerinnen, Aktivisten und Aktivistinnen aus Yogyakarta, denen auch das judenhassserische Machwerk auf der Documentawiese vor dem Fridericianum zu verdanken ist, wurde mit dem Hallenbad-Ost, der C&A Fassade, dem Rodell und dem Friedrichsplatz gleich vier Schauplätze in zentraler Lage Kassels eingeräumt. Ihre „Banner“ in ausgelutschter Agit-Prop Manier, verherrlichen die indonesische Volksfrontbewegung. Ihre Grundsätze, organisieren, bilden, und agitieren lesen wir auch auf einem 5 mal 8 Meter großem Tuch dieser lumbung Gruppe. Im Handbuch sieht man es auf einer doppelseitigen Abbildung. Die kollektive Umerziehung ist hier das Thema. Ein Kapitalistenschwein fängt im Aufruhr Feuer und bläst ein letztes Dollarzeichen aus. Es landet in der Mitte zwischen den Buschstaben NATO. Es ist aber nun mal die NATO, die den Restfrieden in Europa sichert.

Die skandalöse, offen antisemitische Großleinwand, die diese Gruppe erst Tage nach der Eröffnung auf der Documentawiese aufzog, ist dagegen nicht im Handbuch abgebildet.

Gregor Schneider zum Beispiel

Gregor Schneider, zum Beispiel, ist zur documenta fifteen eingeladen. Allerdings nur indirekt. Eine lokale Gruppe von Fridays for Future aber schon. Die Aktionsgruppe Fridays for Future, Lützerath Lebt! hat es sich zum Ziel gesetzt hat, die Kunst als Verbündete im Kampf gegen die Klimakrise zu gewinnen. Sie kann gegen den Tagebau im rheinischen Kohlerevier im zentralen ruru-Hauses in der Kasseler Innenstadt auftreten. Schneider, 1969 in Rheydt geboren, erhielt schon vor 21 Jahren für sein „Totes Haus u r“ im deutschen Pavillon, den Goldenen Löwen der Biennale, seit 2016 ist er Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Alles Auszeichnungen, die diesen Künstler gleichsam für einen Teilnahme an der diesjährigen documenta fifteen disqualifizieren. Wie überhaupt fast ausnahmslos alle Künstler, die jemals im „Kunstsystem“ irgendwie Erfolg hatten.

Schneider wurde von Fridays for Future um Dokumaterial angefragt, das der Künstler seit Jahren über den Braunkohletagebau und die delozierten Dörfer ringsum erstellt. Nur dieses Video-Material schafft es nach Kassel.   

„Ich bin als Privatmensch auf eigene Kosten unterwegs. Hoffe ich kann von den jungen etwas lernen?“, bekundet er Solidarität mit dem Widerstand in Lützerath und ruft auf zu handeln: „Um nicht die letzte Selbstachtung zu verlieren, müssen wir uns jetzt alle im gewaltfreien Engagement für den Erhalt unserer Lebensräume mit den jungen Menschen, die für den Klimaschutz eintreten, solidarisieren.“   

Phrasen, Parolen. Portikus des Fridericianums mit Sprüchen von Dan Perjovschi

Der Westen ist schwer angeschlagen, sein Kunstbegriff ist es auch. Wo niemand mehr sagen kann und sagen will, was Kunst ist, was vor allem herausragende Kunst ist, wo wir stattdessen euphorisch ausrufen „Alles ist Kunst!“ als sei damit der finale Höhepunkt der Kunstentwicklung erreicht, kommt es nicht von Ungefähr zur documenta fifteen, die im Namen der Kunst, die ganze Veranstaltung gegen die Kunst und gegen die Errungenschaften des Westens kehrt.  

Verschleierte Zuständigkeiten

Sollte die Documenta abgebrochen werden? Oder sollte sich jetzt erweisen, was runagrupa auch unter Lumbung versteht: eine Übereinkunft aufgrund von Teilen, von Gesprächen und gemeinsamen Tun finden. Leider ist ruangrupa derzeit abgetaucht. Weder das Kollektiv noch einzelne Mitglieder stehen für Gespräche zur Verfügung, ruangrupa bleibt merkwürdig stumm. An wen sich wenden?  An die Träger der Documenta, den Aufsichtsrat, die Kulturstiftung des Bundes, die Kulturstaatsminsterin?

Immerhin äußerte sich die Findungskommission, die ruangrupa dem Documenta-Aufsichtsrat als künstlerische Leitung anempfahl:

„Nicht zuletzt möchten wir ruangrupa, dem Künstlerischen Team der documenta fifteen und allen daran beteiligten Kollektiven und Einzelpersonen unsere bedingungslose Unterstützung aussprechen für die Fortsetzung dieses nicht-hierarchischen Pluriversums, zu dem sie uns alle einladen, um zu sehen und hören, zu diskutieren und daran teil zu haben.“

Ruangrupa hat 53 sogenannte Lumbung-Künstler bestimmt, von denen wiederrum jeder zehn und mehr weiter einlud, bis es am Ende mehr als fünfzehnhundert an der Documenta beteiligte Mitmacher, Aktivisten, Künstler geworden sind. Die große Zahl war noch nie Garant für hohe Qualität. Aber sicher lassen sich unter den vielen Projekten und den üppigen Etats auch interessante Vorhaben, Räume, sogar Kunstwerke finden.

Pluriversum statt Documenta?

Offenbar ist etwas schief gelaufen im “Pluriversum”. Der Schaden ist schon jetzt verheerend, die internationale Reputation im Eimer. Die Documenta hat ihre eigenen Fundamente zerlegt. Und wieder will es keiner und keine gewesen sein. „Das große Wegducken“ (FAZ) hat begonnen.

Wer übernimmt die politische Verantwortung? Der Vorsitzende des Aufsichtsrat, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle? die hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kultur, Angela Dorn? Die Geschäftsführerin der Documenta, Sabine Schormann? die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth? Sie alle waren gewarnt, sie alle haben ruangrupa lange und lautstark verteidigt und öffentliches Geld in Hülle und Fülle ausgezahlt. 

Was wäre durch Rücktritte gelöst? Es ist eine Frage der politischen Kultur in diesem Land, dass Verantwortliche benannt werden und sie personelle Konsequenzen ziehen für den Schaden, den sie kommen sahen, sich aber blind machen ließen. Sie tragen die politische Verantwortung. Das ersetzt die Diskussion nicht. Es kann sie aber erleichtern.


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