Gutes Neues Jahr!

Hans Hartung pflegte eine Tradition. Seine cartes de bonne année wurden zu beliebten Sammlerobjekten

Weihnachtsgrüße werden dieser Tage zuhauf verschickt – meist als elektronisches Meme. Dazu noch mit einem lustigen „Guten Rutsch!“. Warum nicht gleich im Dreierpack zusammen mit „Frohe Ostern“? Paketlösungen sind so beliebt wie nie.

Die gute alte Postkarte ist vom Aussterben bedroht (Kasper König, der Postkartenweltmeister, starb vergangenes Jahr). Wer schreibt schon noch Weihnachtsbriefe mit der Hand! Alles nichts, gegen die Mühen, die sich Hans Hartung (1904 in Leipzig bis 1989 in Antibes, Frankreich) mit den jährlichen Grußbotschaften machte.  

In Frankreich kennt man keine Weihnachtskarten. Da schreiben sogar die gläubigen Katholiken les cartes de bonne année mit besten Wünschen für eine gute, neues Jahr. Ein ganz irrer Fall kam mir unter, als ich 1996 das schriftliche Archiv von Hans Hartung für die Fondation Hans Hartung et Anna-Eva Bergman in Antibes aufarbeitete.

Hans Hartung hatte die Angewohnheit, den ganzen Dezember über für die Planung und Ausführung seiner cartes de bonne année zu nutzen. Jedes Jahr nahm er etwa zehn große Blätter, auf die er links von oben nach unten etwa 300 Namen schrieb, vom General de Gaulle, Staatschef von Frankreich, über Konrad Adenauer, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, alle wichtigen Museumsleute weltweit, alle persönlichen Freunde und Künstlerfreunde. Alleine schon die Namensliste war beeindruckend, minutiös und bis ins letzte durchdacht. Rechts von den Namen bildete er ein Raster mit vielleicht acht Kästchen, in die er pro Namen jeweils einen andersfarbigen Punkt eintrug. Die Verteilung der Kästchen bedeutete für seine Sekretärin Maria Aanderna, in welches Land und in welcher Verpackung usw. das zu senden sei. Aanderna war Norwegerin wie seine Ehefrau Anna-Eva Bergman. Das Paar heiratete zweimal, 1929 und 1957. Die erste Ehe wurde auf Druck ihrer Mutter – Hartung war damals Staatenloser ohne Pass und konnte Frankreich nicht verlassen, um sich mit Anna-Eva auszusprechen – zunächst bald wieder geschieden. 1952 trafen sich die beiden wieder und heirateten ein zweites Mal, woraufhin sie bis zu ihrem Tod 1987 zusammenblieben.

Neben den Namen stand ein geometrisches Raster, und da trug er lange überlegend ganz en detail ein: schwarzer Punkt, einfach die Neujahrskarte versenden, dunkelblauer Punkt: mit Unterschrift, hellblauer Punkt: mit Widmung und Unterschrift, oranger Punkt: mit handschriftlichem Brief, gelber Punkt: mit handschriftlichem Brief und beigelegter Lithographie, grüner Punkt: mit handschriftlichem Brief und kleinem Leinwandbild. Letzteres galt z.B. für Alexander Calder, Pierre Soulages (der am 24. Dezember Geburtstag hatte) und natürlich Georges Pompidou. Wenn ich recht erinnere, erhielten Malraux und de Gaulle nur eine Litho (weil Hartung Malraux viel weniger schätze als er Pompidou schätzte).

Jedes Jahr, die gleiche Prozedur

Hans Hartung als Fremdenlegionär

Man könnte fragen, will Hartung sich anbiedern? Oder ist er außergewöhnlich pingelig? Woher kam diese Leidenschaft für Neujahrskarten? Woher dieser Elan? Man darf nicht vergessen, dass Hans Hartung in den 1930er Jahren in Paris bettelarm war, dann ließ sich seine Frau von ihm scheiden und die deutsche Botschaft nahm ihm den Pass ab, er wurde staatenlos (wie Max Ernst, Hannah Arendt und Walter Benjamin und viele andere), meldete sich zur Légion étrangère (Fremdenlegion), wo man ihn fragte, ob er auf Deutsche schießen würde. Er antwortete: „Wenigstens ein Deutscher muss ja seine Pflicht tun.“

Schwerst verwundet als Krankenträger auf dem Schlachtfeld bei Belfort im Frühjahr 1945, zweifach beinamputiert, verdankte er seine Rettung dem Umstand, dass sein Bravourakt als Tagesbefehl in allen französischen Armeeeinheiten verlesen wurde und so auch Künstlerkollegen von seinem Schicksal erfuhren. Picasso und der Kunstkritiker Christian Zervos verschafften ihm die französische Staatsbürgerschaft und den Kriegsorden Croix de Guerre. Calder schickte ihm aus New York Essen und Kleidung, sodass er überlebte. Von da ab sah er es als seine existentielle Notwendigkeit an, sich jedes Jahr zu bedanken und allen wichtigen Leuten in Erinnerung zu rufen.

Die Geschichte fand einen versöhnlichen Ausgang. Zur zweiten documenta 1959 in Kassel waren er und seine Frau als ausstellende Teilnehmer eingeladen. Der französische Künstler als der „gute Deutsche“, schwerverwundet als Kriegsteilnehmer ausgezeichnet und ein großer Künstler zudem. Bundespräsident Theodor Heuss eröffnete die documenta II im Saal mit Hartungs großen, informellen Gemälden.1989 erlebte er noch am Ort der Schlacht bei Belfort, wie anlässlich der 200 Jahrfeiern der Französischen Revolution der Bürgermeister von Belfort, Jean-Pierre Chevèment, damals auch französischer Außenminister, den Sitzungssaal des Gemeinderats von Belfort in „Salle Hans Hartung“ umbenennen ließ und die Garde Républicaine vor dem Künstler, der im Rollstuhl saß, Spalier stand. Davon abgesehen, dass Hartung mit seinem Spätwerk heute wieder ein Vorbild und Symbol junger Malerinnen und Maler ist.

Hans Hartung, Lyrische Abstraktion um 1966

Übrigens, weil in der Geschichte von Hans Hartung auch Georges Pompidou vorkommt. Dieser war literarisch und künstlerisch extrem gut bewandert. Von ihm stammt immer noch die beste Anthologie der französischen Dichtung von den Anfängen bis 1970. Pompidou ging auch als Premierminister unter Staatschef de Gaulle jede Woche in Galerieausstellungen, er schrieb an Hartung zur Entspannung dadaistische Gedichte auf Premierministerpapier. Als Pompidou zum Staatschef und Nachfolger von de Gaulle gewählt wurde, wohnte er nun im Elysée-Palast, wo ja rundum gute Galerien ihre Läden haben. Der Staatspräsident ging in den Pausen spontan hinüber auf die andere Straßenseite, um eine Galerieausstellung ansehen, und als sich umdrehte, war die Galerie rammelvoll, weil sämtliche Passanten ihm nachgegangen waren. Ab da wusste er, dass er nicht mehr einfach so in Galerien gehen konnte. So kam er frühmorgens, vor Beginn seines Arbeitstags als Staatschef, in Ateliers, auch mehrfach zu Hartung, schon um sieben Uhr in der Frühe. Später erkrankte er an Krebs, und das letzte Abendessen vor seinem Tod im Elysée-Palast hatte er mit seiner Frau, Claude Pompidou, die dann das Centre Georges Pompidou auf die Beine stellte, mit dabei Anna-Eva Bergman und Hans Hartung. Chapeau!

                                                                                                          Robert Fleck

Hans Hartungs Übung, künstlerisch aufwendig gestaltete Neujahrsgrüße an die „Gemeinde“ zu versenden, wird bis heute von vielen Künstlern und Künstlerinnen fortgesetzt. So sendet beispielweise Katharina Grosse aus Berlin jedes Jahr fulminante Grüße ins Neue Jahr.


© 2022 All rights reserved