Thomas Schütte hatte sich für den Rundgang durch die Akademie ein straffes Pensum gesetzt. Von Montagmorgen bis Freitagnachmittag durchquerte er ganz Nordamerika. Am Montag brach er nach Westen auf, um sich nach Osten nach New York vorzuarbeiten. Am Freitag war Feierabend, die Arbeit war getan.
Eine Landkarte überzog er Tag für Tag mit Bleistift bis die Vereinigten Staaten von Amerika vollständig verdeckt waren. Eine einzige graphitschimmernde Zeichnung blieb übrig.
Schütte nimmt hier Bezug auf das amerikanische Sprichwort „time is money“ (Zeit ist Geld). Denn am Ende will er seine Wochenarbeit für 2000 Mark verkaufen, sein Budget für eine erste Reise nach Amerika.
Das Sprichwort macht auf die monetären Kosten von Faulheit aufmerksam. Wenn man für die Zeit, die man mit Arbeiten verbringt, bezahlt wird, bedeutet das andererseits, dass man die Nicht-Arbeitszeit entsprechend minimiert. Im Umkehrschluss nimmt Schütte im Februar 1975 mit „Amerika“ also auch Bezug auf eine grundlegende Bedingung künstlerischer Arbeit, den Prozess des Entstehens, die Zeit. Time is money meets art is time.
Was ist Schüttes Fünf-Tage-Arbeit wert? Es fand sich damals kein Käufer für die Überzeichnung, die Reise konnte folglich nicht angetreten werden. Das Werk blieb bis heute unverkauft. Es ist Bestandteil (und Prunkstück) einer Ausstellung in der Schütte-Skulpturenhalle, die das famose Frühwerk dieses außergewöhnlichen Künstlers aufblättert. 2024, wenn Schütte 70 Jahre alt wird, wird es in New York (Museum of Modern Art MoMA) eine Schütte-Retrospektive geben.
Trotz der Enttäuschung über den Nicht-Verkauf sollte sich Schütte schon als Student (Klasse Schwegler, später Klasse Richter) als äußerst erfolgreicher Künstler erweisen. Er hatte von früh an etwas von König Medias, dem alles gelingt, was er berührt. Doch ist das beileibe kein leichtes Schicksal. Es kann sogar eine schwere Last werden für einen, der selbstkritisch seinem Werk gegenübersteht.
Was „Amerika“ eindrucksvoll zeigt, entspringt einer eigenen Ökonomie. Abseits des Monetären zeigt sich ein sparsamer Einsatz der Mittel. Die (knappe) Zeit wird hier ebenso zum künstlerischen Antrieb wie die (knappen) Ressourcen überhaupt, die Materialien, die Verfahren, die Wege, die Kommunikation. Nicht aber die Ausdrucksformen. Aus der besonderen Schütte-Ökonomie entfaltet sich ein erstaunlich weitgefächertes Werk, das Zeichnung, Aquarell, Drucke, Modelle, Keramik, Bronze, Aluminium, Glas bis hin zu Architekturen von minimaler bis zu monumentaler Größe umfasst. Aus der Ökonomie gewinnt sich Schüttes konzeptueller Ansatz wie auch seine immense Produktivität. Beides läßt sich bis heute verfolgen.
Noch 47 Jahre nach der Überzeichnung “Amerika” erinnert sich Thomas Schütte an die Zahl der Bleistifte, die er damals zum Einsatz brachte: 24. Die abgenutzen Bleistiftstummel und den Anspitzer dazu hat er aufgehoben. Könnten ja vielleicht noch mal gebraucht werden.
Gerade steht die „kleine Schwester“ neben der „Skulpturenhalle“ (am Rand der Raketenstation Hombroich) vor der Fertigstellung. Sie soll vor allem dem umfangreichen zeichnerischen und druckgrafischen Werk Schüttes dienen. Am 1. April wird der neue Pavillon eröffnet.
Lindenweg, Ecke Berger Weg (Nähe Raketenstation), 41472 Neuss/Holzheim
Demnächst: Bertram Jesdinsky
01.04. – 07.08.2022, Eröffnung: Sonntag, 03.04.2022, 12 – 17 Uhr
Gleichzeitig eröffnet Sean Scully Song of Colors
03.04. – 07.08.2022 at the Langen Foundation
Sehen Sie dazu unseren Film
Besuch bei der kleinen Schwester
Thomas Schütte about his beginnings