Der Wanderer wundert sich

Caspar David Friedrich doppelt. “Wanderer über dem Nebelmeer” zweimal in der Hamburger Kunsthalle

Der doppelte Wanderer

Keine Gipfelleistung

Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ wird überschätzt

Mann und Frau in Betrachtung des Mondes um 1824, Nationalgalerie Berlin Foto: Jörg P. Anders

Am 5. September 1774 wurde Caspar David Friedrich in Greifswald geboren. Der 250. Geburtstag des Dresdner Künstlers, der wie kein anderer Maler die Romantik zum Ausdruck brachte, gibt Anlass zu einer Neubewertung. Noch mehr im Rampenlicht, als das ohnehin der Fall ist, steht Friedrichs Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Unser Autor Jörg Restorff kann sich mit dem Kultbild nicht anfreunden.

Von Caspar David Friedrich, den in diesem Jahr Ausstellungen in Berlin, Dresden, Greifswald, Hamburg und Weimar feiern, gibt es eine Reihe wundervoller Bilder, in denen uns die Figuren den Rücken zuwenden. Es scheint so, dass die Natur vor ihnen ihre und unsere volle Aufmerksamkeit fordere. Spontan kommen einem die „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) in den Sinn. Weitere Musterbeispiele für diesen kontemplativen Bildtypus im Schaffen des Dresdner Romantikers (1774–1840) sind „Frau vor untergehender Sonne“ (um 1818) oder „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ (um 1824).

Keines dieser Gemälde indes reicht im Entferntesten an jene Popularität heran, die „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ genießt – seit 1970 befindet sich das Bild in der Hamburger Kunsthalle. Deren früherer Direktor Hubertus Gaßner sagt, der Wanderer sei für die Kunsthalle, was die „Mona Lisa“ für den Louvre ist. Kürzlich widmete die „Zeit“ dem Kultstatus des Bildes sogar einen eigenen Artikel. Darin spricht Oskar Piegsa von einem „Werk voller faszinierender Rätsel“. Nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, wie wenig wir tatsächlich über das Bild wissen (dazu später mehr). Doch wie steht es mit der Faszination, die das Werk selbst auslöst? Oder auch nicht. Daran scheiden sich die Geister.

Längst nicht alle schwärmen vor und von dem Bild. Der Kunsthistoriker Jens Christian Jensen meint in seinem Buch über Leben und Werk des Malers (DuMont, Köln, 1974) gar, das Gemälde müsse „als künstlerisch misslungen angesehen werden. … Die realistisch aufgefasste große Figur steht in merkwürdigem Missverständnis zur unermesslichen Natur.“ Weniger dezidiert, doch im Tenor vergleichbar das Urteil von Werner Busch in seiner 2021 erschienenen kompakten Darstellung zum Schaffen des Romantikers (C.H.Beck): „Ich muss gestehen, ich mag das Bild nicht sehr, zu laut tönend, zu wenig zurückhaltend und Friedrichs Charakter widersprechend erscheint es mir.“ Das Pathos, so Busch, lasse sich allenfalls erklären, „wenn wir den ‚Wanderer‘ als ein Auftragsbild betrachten und die Rückenfigur, die sich vor der vielfältigen Bergkulisse denkmalartig aufbaut, als die eines Verstorbenen vor Gottes Thron“.

Fatale Feldherrenpose

Mir geht es ähnlich wie Jensen und Busch. Ich fühle mich unbehaglich beim Blick auf den Mann, der sich auf erhobener Warte in Feldherrenpose aufgebaut hat. Spielen Figuren in den meisten Werken Friedrichs eher eine untergeordnete Rolle, so verhält es sich hier genau umgekehrt: Alles ist zugeschnitten auf den Hauptdarsteller, der die felsengeformte Herrscherbühne erklommen hat, als wolle er sich die Bergwelt untertan machen. Eben dieser forcierte Wille zur Erhabenheit sprach die Nationalsozialisten an – bekanntlich vereinnahmten sie den Künstler, den Napoleons Triumphzug zu Beginn des 19. Jahrhundert ins Lager der nationalen Befreiungsbewegung trieb, als Botschafter des „Nordischen“ und „Nationalen“.

Kreidefelsen auf Rügen, 1818, Öl auf Leinwand, Kunst Museum Winterthur, Foto Philipp Hitz

Zugegeben: Überspitztes Pathos, penetranten Patriotismus, auch Franzosenhass, all das kann man durchaus finden, wenn man das Œuvre des Eigenbrötlers durchmustert. Charakteristisch, gar wesentlich für seine Kunst aber ist es nicht. Bilder wie „Mönch am Meer“, „Abtei im Eichwald“, „Kreidefelsen auf Rügen“, „Das Große Gehege bei Dresden“, „Lebensstufen“ oder „Der einsame Baum“, sie sprechen eine andere Sprache.

Hier wird nicht proklamiert, hier bekundet sich eine stille Zwiesprache mit der Natur. Nichts Einschüchterndes haben diese symbolträchtigen, stimmungsvollen, oft melancholisch anmutenden Landschaftsdarstellungen. In vielen seiner Werke hinterließ der fromme Künstler ein gemaltes Glaubensbekenntnis. Gott entdeckte er überall in der Natur – vom kleinsten Sandkorn bis zur mächtigen Eiche.

Dagegen ist der „Wanderer über dem Nebelmeer“ ein Titan, der sich mit der lutherischen Kreuzestheologie, mit der Friedrich sympathisierte, nicht in Einklang bringen lässt. Von der Kommandobrücke der Bergwelt macht er sich die Natur untertan und versperrt den Panoramablick. Dienen die Rückenfiguren in Friedrichs Kunst meist als Mittler zwischen Betrachter und Landschaft, als Identifikationsangebot, das uns gleichsam ins Bild hineinzieht, so ist der Wanderer ein Solitär, einer, der uns allenfalls gestattet, ihn aus der Ferne respektvoll zu betrachten.

Ins kunsthistorische Korsett gezwängt

Immer verdächtig, wenn ein Bild vor allem als Demonstrationsobjekt kunsthistorischen Detektivfleißes dient, wenn die Mittel des Malers zum Zweck gemacht werden. Beim „Wanderer über dem Nebelmeer“ scheint mir das in hohem Maße der Fall. Weil Friedrichs Kompositionen oft auf geometrischen Konstruktionsprinzipien beruhen, weshalb er Lineal, Winkel und Reißschiene nicht verpönte, zwängen Schema-F-Freunde die Zentralfigur (sie steht in der Tat exakt auf der senkrechten Mittelachse) ins Korsett des Goldenen Schnittes. Stolz wird mitgeteilt, dass die Spitze seines linken Fußes und die Stockspitze mit den Vertikalen dieses Proportionssystems übereinstimmen. Aufregender noch: Die obere Waagerechte dieses Systems unterteilt Kopf und Kragen. Doch was ist mit solchen Erkenntnissen gewonnen? Kommen wir der Kunst dadurch näher? Wohl kaum.

Die einzelnen Felsformationen des Bildes hat man auf reale Vorbilder in der Sächsischen Schweiz und den Böhmischen Bergen zurückgeführt. Dort war der Künstler, in jungen Jahren ein eifriger Wanderer, wiederholt mit dem Zeichenblock unterwegs. Doch betrachtete er diese Impressionen bloß als Vorübungen zu den Gemälden. Hier, an der Staffelei schuf er auf der Basis seiner wirklichkeitsgetreuen Studien eine neue Realität. Seine Darstellungen scheinen eine höhere Evidenz zu haben als die realen Schauplätze. Darin besteht eben das Geniale von Caspar David Friedrichs Kunst. Es erschließt sich ohne geologisches Vorwissen.

Das große Rätselraten

Ob uns der Künstler mit seiner Berglandschaft eine symbolische Botschaft hinterlassen wollte? Aber welche? Das ist ebenso Gegenstand kunsthistorischen Rätselratens wie die Identität, die man dem Wanderer attestieren – man kann auch sagen: unterschieben – wollte. Goethe, den der Maler bewunderte, wurde in ihm vermutet, aber auch ein Gefallener der Befreiungskriege, dem Friedrich auf diese Weise ein Epitaph auf Leinwand habe widmen wollen, so eine These. Doch führen solche Spekulationen zu nichts, lenken sogar ab von dem, was uns das Bild zu sagen hat. Frei nach Wittgenstein: Was man nicht sehen kann, darüber soll man schweigen.

Selbstbildnis, um 1810, Kreide auf Papier, Kupferstichkabinett, Berlin Foto Jörg P. Anders

Je intensiver man sich auf diese Ikone der Romantik einlässt, um so deutlicher treten die Wissenslücken hervor. Weder kennen wir das Entstehungsdatum des Bildes (datiert wird es um 1817), noch können wir mit letzter Sicherheit sagen, ob es wirklich von Caspar David Friedrich stammt – Signaturen und Datierungen sucht man in der Regel vergeblich auf seinen Werken. Auch Ute Haug, die sich als Leiterin der Provenienzforschung an der Hamburger Kunsthalle intensiv mit dem Bild beschäftigt hat, vermag keinen hieb- und stichfesten Beweis für Friedrichs Urheberschaft beizubringen.

Ziemlich verschlungen zudem die Provenienz des Gemäldes, das durch verschiedene Galerien und Kunsthäuser wanderte, bis es 1970 für die Hamburger Kunsthalle erworben wurde. Für 600 000 Mark: nach heutigen Maßstäben ein Schnäppchenpreis. Gleichwohl wäre der Ankaufswunsch des damaligen Direktors Werner Hofmann wohl gescheitert, hätte sich nicht der Industrielle Kurt A. Körber an der Finanzierung beteiligt. Eigenartig bei alledem, dass das Werk erst 1938 aktenkundig wurde – damals tauchte es beim Berliner Kunsthändler Wilhelm August Luz auf. „Von der Entstehung des Bildes bis zum Jahr 1938 ist eine große Informationslücke“, bedauert Haug.

Liebling auf Instagram

Wer fühlte sich angesichts einer solchen Häufung von Imponderabilien nicht an das „Literarische Quartett“ erinnert? „Vorhang zu und alle Fragen offen“: Das Motto passt auch auf den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Was der ungemeinen Beliebtheit des Gemäldes keinen Abbruch tut. Mit Briefmarken ist das Motiv ebenso kompatibel wie mit „Spiegel“-Covern. Als Bildzitat oder Paraphrase kommt Friedrichs Gipfelstürmer am laufenden Band zum Einsatz: bei Werbekampagnen, auf Plakaten, Bucheinbänden, Plattencovern und Computerspielen. Auch die aktuelle Hamburger Schau „Kunst für eine neue Zeit“, die mehr als 60 Gemälde und rund 100 Zeichnungen des Meisters vereint, setzt wieder voll auf die Werbewirksamkeit des Wanderers. „Extreme Instagramability“ bescheinigt ihm Kunsthallen-Direktor Alexander Klar. Keine Überraschung deswegen, dass uns der abweisende Hagestolz als Logo des Instagram-Accounts @hamburger.kunsthalle begegnet.

Frei nach dem Motto „Ein markanter Rücken kann auch entzücken“ hat der australische Fassadenkünstler Fintan Magee anlässlich des 250. Geburtstags von Friedrich unlängst im Hamburger Portugiesenviertel ein rund 200 Quadratmeter großes Wandbild geschaffen, das den Bergsteiger auf den Boden der Urban Art holt. Passend zum Hype widmet das Jubiläumsportal „250 Jahre Caspar David Friedrich“ dem Wanderer eine ausführliche digitale Story. „Da musst du hin – für das perfekte Foto!“, so lautet der erste Satz dieser liebevoll gestalteten „Wanderlust“-Strecke, die sich wohl in erster Linie an ein jüngeres Publikum wendet. Flankiert wird sie von Instagram-Fotos, auf denen CDF-Fans den Wanderer im Stil „lebender Bilder“ nachahmen.

Gibt es denn gar nichts Kritisches über das Gemälde zu berichten? Doch, doch, die Digitalstory verweist auf einen vermeintlich wunden Punkt: „Das Bild kann nicht-weiße, nicht-männliche Identitäten und alle diejenigen ausschließen, die nicht so einfach auf einen Berg steigen können.“

Gewiss lässt sich an dem Gemälde manches kritisieren – in diesem Text sind einige Schwachpunkte benannt. Caspar David Friedrichs Werk mit einer an den Haaren herbeigezogenen Triggerwarnung zu versehen, das allerdings hat der Künstler nicht verdient. Das Wesen der Kunst besteht ja eben darin, dass sie Schranken überwindet, dass sie zu jedem spricht, der willens ist, ihr zuzuhören. Um sich an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ zu erfreuen, sich meinetwegen auch daran zu reiben, dazu muss man weder ein Mann sein noch eine weiße Hautfarbe haben. Und schon gar nicht bedarf es hierfür besonderer Bergsteiger-Qualitäten.

Jörg Restorff

Eine Gipfelleistung

Hiroyuki Masuyama bringt den Wanderer in die LED-Box. Aber was springt heraus?  

Wie kann es gelingen, ein Gemälde 204 Jahre nach dessen Erst-Entstehung, wieder erstehen zu lassen? Gleiches Motiv, gleiches Format, gleicher Titel. Gleich und doch ungleich. Wenn wir aus Vergleichen lernen, dann hier. Bei aller frappierenden Ähnlichkeit, verblüffenden Augentäuscherei – auf die Unterschiede kommt es an.  

Hiroyuki Masuyama “nach Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer 1818“, 2022, LED Lightbox

Hiroyuki Masuyama, am 28. Juli 1968 in Tsukuba, Japan geboren, kam 1995 mit einem DAAD Stipendium erstmals nach Düsseldorf. 2022 schloss er seine über Jahre verfolgte Werkreihe zu Caspar David Friedrich mit “Der Wanderer über dem Nebelmeer 1818, nach Caspar David Friedrich“ ab. C.D.F. als LED Lightbox. Das ist für den romantischen Geschmack nun echt eine Herausforderung.

Stand am Anfang eine fernöstliche Sehnsucht, der Versuch, im Werk eines Anderen spurlos aufzugehen? Oder trieb Hiroyuki Masuyama die Concept-Art konsequent auf die Spitze, indem er sich als Künstler anonymisierte und als Künstlerpersönlichkeit unkenntlich machte?

Wer wie er die schier grenzenlosen Möglichkeiten technischer Bilderstellung auslotet und mittels seines konzeptuellen Ansatzes zu immer neuen, überraschenden Ergebnissen führt, agiert schon immer hart am Rande der Idee von der künstlerischen Autonomie und der damit verbundenen romantischen Vorstellung des frei schaffenden Genies. Da die Fotografie bekanntlich kein Original kennt, fiel es den Fotografen immer schon schwer, einem Glauben an das geniale Künstler-Individuum nachzuhängen. Um wie viel mehr erst in Zeiten digitaler Bildbearbeitung und moderner Reproduktionstechniken?

Und was, fragt sich Masuyama, wenn ich als Künstler vollends verschwände, alles wegließe, was doch zu einem echten Künstler gehörte? Keine eigene künstlerische Handschrift, keine wiedererkennbare Bildsprache, keine typische Motivwahl, kein eigens entwickeltes Medium: Kein Original, nichts, was an den Urheber Masuyama erinnert?

In Caspar David Friedrich fand er, kein Zufall, jenen Künstler aus Deutschland, dessen Werke nicht nur allseits verfügbar sind und ikonengleich verehrt werden, sondern auch den Meister, der wie kein Zweiter, als der Künstler der deutschen Romantik gilt, als Malergenie schlechthin. Seine naturalistischen Symbollandschaften stehen für die Kunst jenes Land, in dem ein Künstler seither Genie zu besitzen hat und ausgerechnet hier lebt der Japaner Masuyama seit über zwanzig Jahren.

Im Laufe seiner zahlreichen Flugreisen – zumal von Düsseldorf, seinem Arbeits- und Wohnort bis heute, in seine japanische Heimat – fragte sich der an der Kunstakademie Düsseldorf und der KHM Köln ausgebildete Künstler, wie die ihm inzwischen wohlvertraute deutsche Landschaft ursprünglich ausgesehen habe, bevor die Fotografie erfunden worden war. Für den fotografisch arbeitenden Künstler erschien dies als die entscheidende Zäsur auf dem Weg in die Moderne. Tatsächlich wird man die Landschaften Europas um die Mitte des 19. Jahrhunderts als überwiegend „natürlich” bezeichnen. So stieß Masuyama über die Gemälde Caspar David Friedrichs auf typisch deutsche Landschaften. Auch das eine Täuschung.

Er wollte die Probe aufs Exempel machen und brach zu seiner eigenen Deutschlandreise auf: Zu den von Friedrich in den Bildtiteln meist benannten Orten, Gebirgszügen, Gipfeln und Küstenabschnitten. Er holte Erkundungen beim örtlichen Fremdenverkehrsbüro ein und beschaffte sich einschlägige Touristenführer. An Ort und Stelle angekommen, musste er zu seiner Verwunderung gewahr werden, dass es jene landschaftlichen sites, wie echt und naturalistisch sie auf den Bildern Friedrichs auch widergegeben sind, nicht mehr gab – und auch nie gegeben hatte. Friedrichs Anliegen war es bekanntlich nicht, detailgetreue Portraits einer Landschaft zu malen, sondern vielmehr landschaftliche Fiktionen mit besonderem Sendungspotential. Die Symbollandschaften wurden unter Verwendung eingehender Naturstudien und Zeichnungsskizzen im Atelier konstruiert. Masuyama nahm pro site 300 bis 400 Fotografien auf, um sie in seinem Atelier mittels digitaler Fototechnik zu bearbeiten, montierte so lange, bis jenes Bild entstand, das der Vorlage täuschend ähnlich wurde. Er übernahm alle Vorgaben – Sujet, Bildaufbau, Licht- und Farbwirkung, auch das Bildformat – um ausschließlich mittels hunderter aktueller Fotografien eine digitale Fotovorlage zu erstellen, die Friedrichs Vorlage bis in alle Einzelheiten hinein gleichen sollte. Doch wie verblüffend auch immer diese Fotografie der über zweihundert Jahre alten Friedrich´schen Malerei ähnelt – es sind die Unterschiede, die bestechen und beunruhigen.

Wie sollte es anders sein. Wenn man Friedrichs Gemälde vermehrt aus seiner persönlichen Biographie heraus verstehen lernt, aus seiner besonderen Weltsicht und seiner politischen Haltung zudem, warum sollte man Masuyama das weniger zugestehen?

Hiroyuki Masuyama

Von der deutschen Romantik zur Digitalen Revolution ist es kein Katzensprung. Der Düsseldorfer Japaner Masuyama leistet mit seinen LED-Leuchtkästen einen fernöstlichen Brückenschlag nicht nur über zwei Jahrhunderte, sondern über zwei alte Kulturen hinweg. Digitale Medien und Verfahren sind hier die Grundbedingungen der Bilderstellung, digitaler Technik (LED-Leuchtmittel) ist das Erscheinungsbild (Leuchtkasten) zu verdanken. Masuyama der offensichtlich keinen Schimmer vom Wesen der Romantik hat (und sich darum auch keinen Deut schert), nimmt den Wanderer auch nur als Vorwand, ein eigenes Werk entstehen zu lassen. Und das ist wirklich verblüffend: Masuyamas Wanderer leuchtet von innen. Der Nebel ist japanischer, die Berge Allerweltsberge und selbst der Wanderer wirkt schlanker, aufrechter. Mit seinem frisch ausrasierten Nacken und seiner modischen Frisur wirkt er weniger gedankenschwer, weniger nachdenklich, weniger statuarisch. Er wirkt agiler, eher vom Naturschauspiel erfrischt als ergriffen und zu neuen Taten ermutigt als Friedrichs ins Grausen versunkene Gestalt. Ein entromantisierter Wanderer, ein leichtfüßig Staunender.

Masuyama unternimmt mit seinem digitalen Werkzeug (Fotokamera, Rechner und Photoshop) eine Art Zeit- und Kunstreise zum Planeten Caspar David Friedrich und später in die Bildgalaxis William Turners. Indem er sie auswaidet und sich in seinem Selbstverständnis als Künstler in Frage stellt, konnte ein neuer, an die Fragen unserer Gegenwart rührender Werkblock entstehen. Sowohl bei den frühen Familienbilder, Private Room (seit 1995) den Park-Panoramen (2000) den Wiesenstücken (2001) wie den Flugbildern (Tokyo – London) aus dem Jahr 2001 handelt es sich um konzeptionelle Leuchtkasten-Bilder. Jede Foto-Arbeit, aus mehreren hundert Fotografien Masuyamas am Bildschirm montiert, übernimmt Friedrichs Kompositmethode, seine Bausteine sind statt Bleistiftskizzen digitale Fotografien. Sie beschreiben eine horizontale Zeitreise, wie Friedrich als erster eine horizontale Gleichrangigkeit vom einfachsten, geringsten Gegenstand bis zu den tiefsten Grundfeten der Erkenntnis auf einem Gemälden organisiert. Diese Werkserien hat Masuyama abgeschlossen. KI können das alles schon viel besser, weiß er.

Masuyamas Mimikry nahm einen überraschenden Verlauf. Seine Adaption von Friedrichs Das Eismeer wurde schon 2007 in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt und zwar so, dass der Betrachter beide Werke gleichzeitig in den Blick bekommen konnte: Friedrichs Gemälde aus den Jahren 1823/24 und Masuyamas Leuchtkastenbild aus dem Jahr 2006. Anders heute. Sein “Wanderer über dem Nebelmeer“ aus dem Jahr 2022 hängt neben drei weiteren seiner Friedrich-Adaptionen eine Etage über der aktuellen Jubiläumsausstellung CASPAR DAVID FRIEDRICH. Kunst für eine neue Zeit.

Die gesuchte Ähnlichkeit, die Verstellung und Mimikry war bei aller Mühe, keineswegs vergeblich. Ein naturalistisches Gemälde des frühen 19. Jahrhunderts 204 Jahre nach der Entstehung der Vorlage mittels digitaler Bildtechniken des 21. Jahrhunderts täuschend echt nachahmen zu wollen, ist als künstlerisches Konzept zu sehen (und zu verstehen). Konnte sich Friedrich seiner Rolle als Künstler noch gewiss sein, hat Masuyama diese Gewissheit verlassen. Die Frage nach der Rolle des Kunstwerks wie des Künstlers beantwortet er heute ganz anders. Statt Genie Gemeinschaft. Mit „Dörfler“ hat er ein Projekt aufgelegt, bei dem Hiroyuki Masuyama nur als Anreger auftreten will. Dörfler 2 erwuchs im letzten Sommer aus „Zusammenhalt, Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft, Empathie, Interesse, Aufmerksamkeit, Freude.“ Eine Art Anti-Ego Versuchsanstalt für avancierte Künstler. Kunst ist, was am meisten fehlt.

Als Grundtugenden wurde lediglich eingefordert: „Nicht lügen. Nicht schlecht über andere Dörfler reden. Andere nicht ärgern.“ Das Material für die Häuser, die das Dorf bilden, wurde kostenfrei zur Verfügung gestellt. Alle bekamen die gleiche Grundausstattung. Gekocht und gegessen wurde gemeinsam. Das Dorf sind acht Wochen, sind 33 Künstler, die in einer alten Speicherhalle im Rheinhafen Reisholz ihre Utopie probten. Dort sind Orte entstanden wie das „Gedankengebäude“, ein Blumenladen, eine Dorfsauna, ein Kolumbarium, eine Rikschahängemattentransporthaltestelle oder ein Souvenirshop. Freundliche Neugier trifft auf Fürsorge. Ein afghanischer Frauenchor trifft auf eine japanische Teezeremonie. „Jede Aktion macht die Herzen weit für Neues“, freut sich Hiroyuki Masuyama. Nahezu alle künstlerischen Beiträge definieren sich über Gemeinschaft und Teilhabe. Eine ungewöhnliche Übung. Denn alle beteiligten Künstler sind es gewohnt, sich außerhalb der Dörfler-Gemeinschaft im rauen Alltag behaupten müssen.

Carl Friedrich Schröer


Hiroyuki  Masuyama:

Caspar David Friedrich Kunst für eine neue Zeit (group show) 
15.12.2023 – 01.04.2024
Kunsthalle Hamburg

ZEITENWANDERER / Hiroyuki Masuyama (solo show) 
21. März bis 21. Juni 2024
Bundesrat

und

18. Juli bis Oktober 2024
Pommersches Landesmuseum, Greifswald

Caspar David Friedrich Unendliche Landschaften (group show) 
14. April bis 04. August 2024
Alte Nationalgalerie, Berlin

Der Katalog zu “Dörfler 2” wird Ende Januar 2024 erscheinen.

Caspar David Friedrich:

Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit
Hamburger Kunsthalle
bis 01. April 2024

Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften
Alte Nationalgalerie, Berlin
19. April bis 04. August 2024

Caspar David Friedrich. Wo alles begann
Staatliche Kunstsammlungen Dresden
24. August 2024 bis 05. Januar 2025 (Albertinum)
24. August bis 17. November 2024 (Kupferstich-Kabinett)

Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar
Schiller-Museum, Klassik Stiftung Weimar
22. November 2024 bis 02. März 2025


Kruse, Oliver

ALLOLIVER KRUSE FILM Oliver Kruse ““Das muß einfach geschehen, wie sich ein Stadtteil oder wie sich eine Lebensform entwickelt. Die entwickelt sich immer durch die

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