„Weil es mir um Kunst geht“

40 Jahre Galerie in Deutschland und 20 Jahre im Libanon – ein Gespräch mit Andrée Sfeir-Semler

Galeristin Sfeir-Semler zwischen West und Ost

Sie blicken auf 40 Jahre Galeriearbeit zurück. Waren diese vier Jahrzehnte, vielleicht die allerbesten Zeiten für die Kunst?

Andrée Sfeir-Semler: Es gibt keine besten Zeiten für die Kunst. Eine Galerie hat mit Zeiten der Kunst nichts zu tun. Eine Galerie existiert, wann immer sie das tut, und nimmt auf, was aktuell vorhanden ist. Die Galerie vermittelt. Die Galerie erfindet nicht. Die Galerie versucht in einer bestimmten Phase die Richtigen herauszupicken und rauszusuchen. Die Richtigen, damit meine ich die Besten, aber das ist so ein Begriff. Es hat ja im Grunde genommen viel mit sozio-geographischen Aspekten zu tun, ein Talent zu entdecken.
Ob aber die zurückliegenden Jahre die besten für die Kunst waren? Auf jeden Fall war es eine starke, gesteigerte Zeit. Wenn wir uns erinnern, wie es um die Kunstvermittlung stand, wie die Kunstpreise auf dem Kunstmarkt waren, 1985, als ich eröffnet habe und wie sie heute sind! Ja, das nahm eine exponentielle Entwicklung. Nicht nur preistechnisch, sondern auch, wie das die Gesellschaft besetzt, wie das die Geografien besetzt und wie das zur Mode wird. In jederlei Hinsicht. Was richtig ist und was falsch ist, das alles hat sich ungeheuerlich gewandelt und wandelt sich verschnellfacht.

Würden Sie heute wieder eine Galerie eröffnen?

Ja! Auf jeden Fall.

Warum?

Weil es Spaß macht.

Aber die Zeiten sind nicht mehr so gut für die Kunst?

Für mich sind die Zeiten sehr gut. Jede Zeit ist gut. Auch in Zeiten von Krieg im Libanon, in Palästina, unserm Nachbarland und jetzt sogar in Syrien ist Kunst die einzige Sauerstoffblase, in der man noch Kraft schöpfen kann.

Es fand in diesen Jahren seit 85 etwas statt, was wir den „Kunst-Boom“ nennen. Wie haben sie den erlebt? So etwas möchte man wohl eine gute Zeit nennen. Es vollzog sich vor aller Augen ein immenses Aufblühen, was die Kunstmarktpreise betrifft, aber auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst nahm beträchtlich zu.

Es hat sich ereignet und damit ist es auch passé. Meine Arbeit hat sich verlagert. Zwischen 1985 und 1998 habe ich mit westlichen Künstlern, einem US-Künstler und einem südamerikanischen Künstler gearbeitet. Als ich dann Ende der 90er Jahre Walid Raad entdeckt habe, hat sich mein Arbeitsfeld komplett verändert. Ich habe ab dann meine eigene Heimat entdeckt, wiederentdeckt: den arabischen Raum.

Wie haben sie Walid Raad entdeckt?

Über Catherine David. Catherine David hat Walid erstmals in den Kunstwerken in Berlin gezeigt, das hieß die Atlas Group. Ich komme da rein und sehe eine Ausstellung und sage Oh mein Gott, wer ist die Atlas Gruppe? So heißt die Corniche in Beirut. Und dann komme ich zwei, drei Jahre später auf die Documenta von Okwui Enwezor. Da treffe ich wieder auf Arbeiten dieser Atlas Group, die Beirut zeigten. Als ich bei der Preview den Raum betrete, stand er da. Aber ich habe irgendwie Hemmungen gehabt, sieht mir zwar nicht ähnlich, aber ich hatte Hemmungen. Er stand da vor mir, hochgewachsener, schlanker Mann, unsere Augen kreuzen sich. Ich wage nicht, ihn anzusprechen, aber ich war sehr beeindruckt von seinen Werken. Rufe ihn kurz darauf an und besuche ihn dann in New York. Und ab dann haben wir angefangen zusammenzuarbeiten.

Dieser Wechsel von der westlichen Kunst hin zu einer östlichen, nahöstlichen, hat ja insgesamt die Blickrichtung hin zum globalen Süden geöffnet. Sie waren durch ihre Herkunft prädestiniert und offen genug, um die Zeichen der Zeit sehr früh zu erkennen.

Absolut.

Und deswegen waren sie offen und bereit für diese neuen Sicht, weg von der westlich dominierten Kunst?

Ich war am richtigen Moment am richtigen Ort. Ich hatte das Glück, sehr schnell zu spüren, dass da was passiert. Im arabischen Raum gab es keine Galerien, es gab keinen Kunstbetrieb, es gab keine Museen, es gab keine Kunstschulen, die denen des Westens entsprachen. Aber ich hatte das Glück, dass mein Auge schon geschult war, weil ich mit Menschen wie Robert Barry, Balthasar Burkhard, Sol LeWitt gearbeitet hatte, um ein paar zu nennen. Und ich hatte sozusagen für mich persönlich ein Barometer der Qualität und konnte relativ schnell erkennen, wer die Besseren aus den Ländern Arabiens sind.

Sie gingen mit westlich geschulten Augen auf Entdeckungsreise im Orient?

Nein. Ich habe, was ich gelernt habe, als eine Art Humus benutzt, um Leute aufzunehmen, zu fördern und aufzubauen und später an die Documenta, die Biennalen und Museen zu vermitteln. Die habe ich ja alle von der Pike auf aufgebaut. Auch die alte Dame, Etel Adnan, die kannte ja gar niemand. Und wir haben sie im Grunde genommen zur Documenta getragen. Ich glaube wirklich, dass mir die Tatsache, dass ich mit sehr großen Künstlern gearbeitet hatte, meine Augen geöffnet und mich geschult haben.

Die Galerie wurzelt bis heute in der Concept Art.

Ja.

Das ist eine westliche, amerikanische Tradition, die früh nach Deutschland kam. In den frühen 60er Jahren begann das fast gleichzeitig in den USA und in Westdeutschland, wurde dann schnell groß und zur Königsdisziplin auch für ihre Galerie. Die arabischen Künstler der Galerie sind nicht unbedingt Concept Art geschult. Sie sind nicht über diese westliche Kunstrichtung zur Kunst gekommen.

Das Spannende an den Künstlern aus dem arabischen Raum, die wir vertreten, ist, dass sie alle Politik geatmet haben. Die sind in sehr komplizierten politischen Verhältnissen geboren und groß geworden. Und deswegen thematisieren sie Menschenrechte, Isolierung von den Rechten und sie thematisieren sozio-politischen Krämpfe und Kämpfe. Aber ich mag keine Kunst, die direkt ist, die sozusagen Schlagzeilen auftischt. Dafür nehme ich die Zeitung. Eines Tages, um 3 Uhr nachts, als ich mit Walid Raad in Brüssel saß, sagte er: Hör auf, mit mir so zu reden, als wäre ich ein politischer Künstler! Dann wäre ich ein Journalist oder Autor einer Zeitung geworden. Aber ich bin Künstler. Deswegen ist das Absurde in meiner Arbeit der beste Aspekt meiner Arbeit. Das heißt, das Spannende bei all meinen Künstler ist, dass sie Politik einatmen, jede Verletzung von Menschenrechten spüren, in all ihre Organe aufnehmen, um daraus Kunst zu destillieren. Weil es mir um Kunst geht. Mir geht es um Kunstformen, die neu sind für eine westliche Welt, die die westliche Welt bewegen und sogar erschüttern, die aber in der westlichen Welt auch verstanden werden. Aber sie wurzelt woanders.

In der heutigen, aktuellen Situation mit den unterschiedlichen, virulenten Bereitschaften zu Gewalt und Gewaltanwendung, militärischen Auseinandersetzungen und Kriegen reagiert die Kunst zunehmend empfindlich und wird aggressiv politisch. Es gibt politische Kunst, die Agitation betreibt.

Meine Künstler ziehen hier alle eine Grenze.

Etel Adnan mit Andrée Sfeir-Semler

Auf der Berlinale haben wir es erlebt, auf der Documenta in Kassel, zuletzt in der Berliner Nationalgalerie erneut, dass Künstler offen für ein politisches Anliegen agitieren.

Interessiert mich nicht, das ist nicht mein Ding. Wenn Nan Goldin das Podium nutzt, um gegen Unterdrückung und gegen ein Genozid zu kämpfen, dann ist das gerechtfertigt, das muss sein. Aber es ist nicht Teil Ihrer Kunst. Es ist ein großer Unterschied zwischen einer Haltung eines Künstlers und der Agitation, die er macht, weil er davon fest überzeugt ist, dass im Moment ein Genozid stattfindet, und dem Produkt Kunst, was er, auf die Wände hängt oder in den Raum stellt. Und das muss so sein. Samia Halaby, geborene Palästinenserin, sagt es klar in ihrer Biografie und auch wenn sie über sich selber redet, sie ist Aktivistin und Künstlerin. Die Aktivistin kommt zuerst. Aber als Aktivistin macht sie was anderes und in ihrer Kunst siehst du es nicht mal, dass sie eine Aktivistin ist. Das ist bei jedem unserer Künstler so. Agitation ist Teil des Aktivismus. Weil letztendlich, wenn eine Taylor Swift für eine Kamala Harris agitiert, ihre Lieder und ihr Auftritt auf der Bühne haben mit Politik ja gar nichts zu tun. Das ist bei meinen Künstlern ähnlich. Die sind nicht solche Stars, aber das ist ähnlich. Das heißt, im Herzen sind sie Aktivisten, aber bei den Kunstwerken siehst du diesen Aktivismus erst auf dem fünften Blick.

Eine Gratwanderung. Wenn die Empörung über Ungerechtigkeiten und das persönliche erfahrene Leid steigen, wird davon nicht mehr in die Kunst einfließen?

Nein, ich muss es wirklich immer getrennt sehen. Wenn zum Beispiel eine Emily Jacir, sie ist ja echt eine Politkünstlerin und sie ist eine Aktivistin, wenn ihr praktisch in Berlin das Wort verboten wird und sie sich gezwungen fühlt, zurück nach Bethlehem zurückzugehen, dann ist das eine Schande. Aber ihre Kunst ist destilliert on and on again und ihre Haltung, ihre aktivistische Haltung ist super wichtig, sonst wäre ihre Kunst unglaubwürdig. Aber ihre Kunst zeigt doch etwas anderes. Gute Kunst darf für mich keine Bildzeitung sein.

Und auf den zweiten?

Es muss darin brodeln, aber es muss im Grunde genommen nicht Ziel sein. Die Agitation darf nicht Ziel sein. Wenn wir da an die frühen Werke von einem Hans Haacke betrachten und dann die späten. Dann sind die frühen Werke viel stärker und werden Generationen überdauern und die späten Werke eben nicht. Warum? Weil die späten Werke sind agitatorische Kunst. Nimm mal, Klaus Staeck, nimm mal Haacke, um auf den deutschen Boden zu gehen. Die späten Werke von Hans werden sich erübrigen, wird kein Mensch mehr verstehen, weil letztendlich versacken sie in Tagespolitik. Das ist nicht Ziel von Kunst. Kunst, die sich mit den Rechten von Menschen auseinandersetzt und auch mit politischen Situationen, muss vor allem künstlerisch überdauern.

In Zeiten von wokeness und cancel culture wird gefragt: Wer ist der Künstler? Wo steht er? Hat sich politische Kunst verengt und ist nur glaubwürdig, wenn Geschlecht, Religion, Herkunft oder Hautfarbe stimmen?

Im Moment stehen wir in Deutschland auf einem ganz schwierigen Punkt. Und zwar ist Deutschland wieder einmal auf der falschen Seite der Geschichte. Wenn die deutschen Medien oder Politiker wie diese Frau Roth, die für mich eine Katastrophe ist, Künstler isolieren, dann ist die Documenta bald tot. Das ist ein sehr großer Fehler der Deutschen im Moment.

Also keine staatliche Oberaufsicht und Kontrolle?

Genau, keine Kontrolle. Die wollen alles kontrollieren. Und was? Und die haben so ein schlechtes Gewissen über das, was sie im Zweiten Weltkrieg getan haben, dass sie nicht mal mehr den Unterschied machen zwischen einer Religion und einem Apartheidsstaat.

Aber der Antisemitismus in Deutschland nimmt doch erschreckende Ausmaße an?

Ja und Sie sollten sich das nicht bieten lassen. Wenn eine israelische Zeitung wie Haaretz von einem Herrn Netanjahu im eigenen Land zensiert und bekämpft wird, wenn 600.000 Juden aus Israel zwischen dem 7. Oktober und heute ausgewandert sind, dann muss das den Deutschen was zu denken geben. Wenn 43.000 Palästinenser in Gaza umgebracht worden sind nach dem 7. Oktober muss das die Deutschen beunruhigen. Irgendwie muss ihr Gehirn anders ticken.

Eine grüne Politikerin wie Claudia Roth wird eine Auseinandersetzung darüber mit dem Staat Israel scheuen.

Das Risiko muss sie auf sich nehmen, sonst ist sie wirklich verloren. Die wird es eh nicht überleben, weil sie eine Katastrophe ist, diese Frau.

Die 40 Jahre Galeristin – welche Erinnerung löst das in ihnen aus? Welche Gefühle verbinden sie damit, es bis hinauf auf eine singuläre Position im internationalen Kunstgeschäft gebracht zu haben.

Ich freue mich am meisten eigentlich. Ich freue mich am meisten über die letzten 25 Jahre. Weil die ersten 15 Jahre waren Jahre des Lernens. Wo ich im Grunde genommen versucht habe, mehr oder weniger berühmte Künstler zu vertreten. Und erst als ich ins kalte Wasser des arabischen Raums und des Libanons eingetaucht bin, habe ich angefangen, wenn man so will, Kunstgeschichte zu schreiben. Am Anfang, ob ich da war oder nicht da war, waren die Künste alle wie meine Eltern oder Großeltern-Generation. Mehrere sind tot, viele sind alt geworden seitdem. Letztendlich habe ich mich damit geschmückt, sie vertreten zu dürfen. Aber ich habe gar nichts verändert. Ich hatte da viele Kollegen, die sie sowieso vertreten haben. Mein Alleinstellungsmerkmal und das ist der Grund, warum wir jetzt in einer ganz anderen Liga spielen, mein Alleinstellungsmerkmal ist letztendlich die Entdeckung des arabischen Raums. Alle, die ich heute vertrete, habe ich von der Pike auf bis ganz nach oben hingetragen. Als ich das erste Mal Walid Raad ausgestellte und versuchte, seine Arbeit zu handeln, fand ich tatsächlich Käufer. Walid hat da das erste Mal was verkauft. Das war 2003. Er war bereits auf der Documenta, er war auf dem Cover von Artforum. Ohne mich. Catherine David hat ihn in Berlin ausgestellt. Ohne mich. Dann habe ich ihn übernommen. Jeder Künstler braucht einen Anwalt, er braucht einen Advokaten. Er braucht einen Menschen, der für ihn durch Feuer und Wasser geht. Und den hatte er nicht. Im Grunde genommen begann es mit der Ausstellung, die ich in Hamburg gemacht habe – die 100 explodierten Motoren waren wie ein Symbol des arabischen, des libanesischen Bürgerkriegs. Diese Arbeit konnte ich an die Hamburger Kunsthalle verkaufen, an das MoMA in New York, an die Tate Modern in London. Das war schon nicht schlecht.

Das Jahr 2024 markiert einen Wendepunkt. Das liberale, demokratische Gesellschaftssystem steht schwer unter Druck.

Wo?

Überall in der ganzen Welt.

Nein, in Deutschland.

Sicher nicht nur in Deutschland. Mit der Kunst hat sich die Hoffnung verbunden, immer weltoffener, toleranter und auch friedlicher zu werden.

Viele Autokraten haben die Macht übernommen. Die Kunst kann so etwas gar nicht aufhalten. Die Kunst ist ein Minderheitenphänomen, ein absolutes Minderheitenphänomen. Wen erreicht schon die Kunst?

Sie ist eine Hoffnung auf eine bessere, eine humane Welt.

Nein, ist sie nicht. Die Kunst ist eine Oase. Die Kunst ist, wenn Sie so wollen, ein Strohhalm zum Sauerstoff. Nicht umsonst sitzen sehr viele Freidenker in der Türkei in Gefängnissen, in Russland sowieso und oder sind ausgewandert oder werden im Ausland umgebracht.

Auch im Westen gibt es neuerdings eine Abkehr von immer mehr Offenheit zu mehr Grenzen, zum Nationalen und auch zum Nationalismus. Das war nicht die Sprache der Kunst.

Ja klar, aber das ist die Gesellschaft in Deutschland. Ich muss immer wieder sagen, es ist Deutschland, weil das spürt man in dieser Form nicht In Frankreich. Yto Barrada wird Frankreich vertreten auf der nächsten Biennale. Also das heißt, Sie haben noch den Mut, solche Leute aufzunehmen. Yto ist ein absoluter Aktivist.

Deutschland wurde auf der Biennale u.a. von Yael Bartana vertreten.

War das mutig? Sie ist Jüdin. Ich meine, ganz ehrlich, Çağla Ilk, ich mag sie sehr als Mensch, aber sie hat nicht den Mut zur Sache gehabt. Der deutsche Pavillon war der schwächste Pavillon, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Was ist das denn für eine Fehlgeburt? Yael Bartana schluckt alles auf von allen Seiten. Dieser Türke macht die Fassade zu. Und dann setzt er dieses Häuschen rein. Als man drinstand, verstand man gar nicht, was er wollte, weil man sowieso in dieses Schreinerhäuschen nicht reinkam. Und Yael Bartana, die ich ja sowieso für eine schlechte Künstlerin halte, machte Pseudo-Surrealismus mit ihrem Pseudo-Planeten.

Also hat die Hoffnung an die internationale Kunst Ihre Erwartungen gar nicht erfüllt?

Nein, Deutschland, Deutschland steckt in der Sackgasse. Ich meine, mehrere meiner Künstlerprojekte in Deutschland wurden verboten oder abgesagt, Ankäufe wurden abgesagt. So starke Positionen wie die von Walid Raad, von Susanne Gaensheimer wohl erkannt, werden erstmal in den Keller verbannt. Sie hat den Ankauf der raumgreifenden Videoinstallation Sweet Talk Commissions Beirut (Solidere: 1994-1997) erworben und dann gezögert. Erst in diesem Jahr wurde sie in der Kunstsammlung NRW großartig ausgestellt.  

Wegen seiner Verwicklung in der BDS-Boykottfrage?

Er ist ja gar kein Aktivist.

Immerhin hat er den BDS-Aufruf gegen Israel unterschrieben.

Wieso sollte er das zurückziehen, das ist dann Selbstverleugnung. Warum sollte er das? Er hat das vor über zehn Jahren unterschrieben. Da sollte ihm sogar der Kunstpreis, vom Verein der Freunde des Ludwig Forums, der Stadt Aachen und der Aachener Wirtschaft verliehen, aberkannt werden. Wo steht Deutschland? Wo gibt es noch eine Meinung? Ja, in einem Seitenraum von einem Hotel konnte das noch verliehen werden, nicht im Museum.

Das war vor fünf Jahren. Ist das allein ein deutsches Problem?

Ja. Wenn du im Ausland bist, sagt jeder: Wie kannst du noch in Hamburg überleben? Ich will nicht mehr in Berlin sein, ich will da nicht mehr hin! Ganz ehrlich, die Tatsache, dass die AfD so stark geworden ist, ist Teil dieser Verschiebung. Es ist nicht allein diese Kunstverbietung.

Die Prognosen sagen, die AfD kann im nächsten Bundestag zweitstärkste Fraktion werden.

Ja, warum? Weil die großen Parteien alle versagt haben. Die großen Parteien, statt zu sagen, was sie anders machen werden, wollen die AfD verbieten? Wie peinlich ist das?

Was waren in den letzten 40 Jahre die Höhepunkte Ihrer Galeriearbeit, an die sie sich gerne erinnern?

Ich hoffe, die kommen noch!

Vor 25 Jahren machten sie einen gewagten Turn hin in den arabischen Raum. Heute liegt der arabische Raum mehr denn je in Trümmern. Die Ausweglosigkeit, die Gewalt, die Bombardements, die andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen sind horribler, als wir uns das hier vorstellen konnten. Inwieweit ist die Kunst da involviert?

Gar nicht. Kunst kann nichts verändern. Kunst kann keinen Einfluss auf Politik nehmen, auch nicht auf die Gesellschaft.

Galerie Sfeir-Semler Downtown Beirut

Sie haben unmittelbar nach dem Waffenstillstand ihre Galerie wieder eröffnet. Warum?

Fürs Überleben und fürs Weiterleben. Das wir noch da sind, dass wir uns nicht mundtot machen lassen und dass wir hoffentlich für ein paar, die dann in die Galerie kommen, eine Art Sauerstoff bieten können. Einen Sauerstoff für die Seele und für den Geist.

Wie kann man sich das vorstellen? Wie kann man da eine Galerie betreiben?

Wir verkaufen da gar nichts. Es ist mehr wie so ein Kunstverein. Aber es gibt Menschen, die dann Lust haben, etwas zu erleben. Sie müssen sich die Situation dort vorstellen, es passiert da nichts mehr. Der Alltag eines Menschen im Krieg sieht sehr traurig aus. Du stehst auf, hast eigentlich schlecht geschlafen, weil die Drohnen der Israelis über deinen Kopf die ganze Nacht geflogen sind. Und dann ziehst du dich an und weiß gar nicht, was du tun sollst, weil die Büros zu sind, die Banken zu sind. Alles ist zu. Erst allmählich setzt das Leben wieder ein.

Gibt es da einen Hunger nach Kunst?

Ja, sie kommen die Menschen! Wir haben mehr Besucher in Beirut als in Hamburg. Es gibt im Libanon Moscheen, Kirchen und die paar Kunsträume, die noch existieren. Wenn du nicht religiös bist – und wir sind uns einig, alle Kriege wurden von Religionen verursacht oder sind Religionskriege gewesen – dann gehen sie nicht in die Kirchen. Wir hoffen, dass wir mit den Galerien und mit den Ausstellungen, die wir machen, eine Oase für den Geist außerhalb jeder politischen und religiösen Ausrichtung und Miliz bieten.

Der Hafen an der Corniche Beirut. Hier liegt die Sfeir-Semler-Galerie. Eine gewaltige Explosion zerstörte vor vier Jahren das Silo und beschädigte alle umliegenden Gebäude schwer

Als ein Zeichen des Zivilen?

Des Lebens und des Geistes. Letztendlich, was im Moment auch toll funktioniert, ist unsere französische Tageszeitung. Sie ist zwar auf Französisch, aber sie machen eine großartige Arbeit.

Hört sich hoffnungsvoll an. Eine Hoffnung auf eine Freiheit die im Laizistischen und Zivilen wurzel, die im auch Betrachten von Kunst liegen kann. In der Auseinandersetzung mit dem Anderen.

Klar, ich lebe ja in Deutschland länger als ich im Libanon gelebt habe. Ganz ehrlich, uns beide vereint diese Freiheit.

Und der Kampf gegen die Unfreiheit.

Absolut. Be it political or social. Diese Unabhängigkeit von allen Zwängen in jeglicher Hinsicht ist so unglaublich wichtig und ist ein unglaublicher Ausdruck eines freien Geistes.

Gerade in diesem Nahen Osten, der zwischen die Blöcke geraten ist, wird darüber kriegerisch verhandelt, welches Maß an Freiheit es in Zukunft geben wird.

Im Nahen Osten, ob Palästina gegen Israel, Irak, Iran, Jemen, Libanon, Syrien, Ägypten weniger. Da sind überall Kriege ausgebrochen, die die Menschen nicht selbst verursacht haben. Das sind letztendlich Kriegsfelder, die von außen diktiert sind. An dem Tag, wo der Waffenstillstand in Libanon formuliert wurde, genau am selben Tag ist der Krieg in Syrien aufgeflammt. Haben sie sich gefragt, wo hier der Zusammenhang liegt? Die Menschen, die dort alle leben, haben nichts in der Hand, Nichts. Und wenn sie das Gefühl haben, sie könnten irgendetwas verändern, dann belügen sie sich selbst.

Spielt die Kunst da überhaupt eine Rolle? Ohne Freiheit ist keine Kunst vorstellbar. Das Neue, Unvertraute, auch Fremde wird aufgenommen – darin könnte doch ein Reichtum liegen?

Lina Kiryakos ist Direktorin der Galerie Sfeir Semler in Beirut

Das ist, wenn du so willst, eine Überlebensoase. Durch die Kunst und durch die Gespräche und die Kunstform, die man zeigt, hat man praktisch wie eine Oase, die grün ist, wo die Luft rein ist und der Himmel blau ist. Wir müssen uns aus dem Kopf streichen, dass wir mit der Kunst, auch wenn sie wundervoll ist, irgendetwas verändern können.

Das Jahr 2025 wird aller Voraussicht nach nicht das Einfachste werden. Wie wollen sie ihr Galeriejubiläum begehen?

Ich musste schon vieles verschieben und verändern. Ganz ehrlich, meine ganze Biografie besteht aus Verschieben, weil ich nun mal im Libanon geboren wurde. Ich wollte eigentlich mein Jubiläum groß feiern in Beirut mit einem Symposium, wie ich es 2015 gemacht habe und dann mit einem Fest und einer Ausstellung im April. Das ist aber zu früh im Jahr, auch zu nah am Krieg. Jetzt versuche ich es Ende August, da sind sechs Monate mehr Zeit. Ob sich was ändert, wissen wir alle nicht. Ob das dann möglich sein wird, wissen wir auch nicht. Wir werden trotzdem versuchen, das ganze Jahr über große Ausstellungen zu machen, wichtige Ausstellungen in Beirut, in Hamburg und überall und mit jeder Messekoje, die wir machen. Wir läuten das Jahr mit Etel Adnans 100. Geburtstag am 24. Februar und dem Auftritt von Corinna Harfouch ein. Ich habe sie gebeten In Kriegszeiten, Times of War zu spielen. Wir haben überall Krieg, da können wir nicht so tun, als gäbe es diesen nicht. Deswegen ist Corinna besonders geeignet, weil sie von ihrer sanften Art her solche sehr knallharten Texte sprechen kann. Unglaublich. Auf diesen Auftritt in der Galerie freue ich mich sehr. Dazu die Ausstellung von Etel Adnan, die ja wie ich in Beirut geboren wurde.

Galerie Sfeir-Semler Fleetinsel Hamburg

Als weiteres Highlight wird am 28. Oktober Ian Hamilton Finlay 100 Jahre alt und wir machen eine Ausstellung mit allen anderen Galerien, die ihn rund um die Kugeln vertreten. Dann werden wir die Jubiläumsausstellung in der Galerie in Hamburg machen und so Gott will, im August in Beirut. Noch so ein Traum, den ich immer hatte, wird im kommenden Jahr wahr. Giacometti und Marwan sind für mich seelenverwandt. So habe immer davon geträumt, die beiden in einer Ausstellung zusammenzubringen. Und tatsächlich bekommt Marwan am 13. Oktober eine Einzelschau in der Fondation Giacometti in Paris, parallel zu Art Basel Paris. Auch das ist auf meinem Mist gewachsen.

Wir werden auf alle Fälle etwas publizieren, das hoffentlich überdauern wird. Ich bereite gerade einen Reader vor, eine Festschrift. Keine Festschrift über mich und auch nicht über die Galerie, sondern über die Entstehung einer Kunstszene, über die Voraussetzungen einer Kunstszene im arabischen Raum. Um 1990 gab es da gar nichts. Nirgends. Erst danach ist diese Kunstszene überall im arabischen Raum entstanden und konnte sehr schnell wachsen. Ich habe alle Macher gebeten, jeweils über sich selber zu schreiben und über ihren eigenen Anteil daran. Hoor Al Qasimi, jetzt im Weltkompass auf Platz eins, schreibt über Sharjah Art Foundation und die Biennale von Sharjah. Das ist die älteste Biennale im arabischen Raum. Dann wird Sheikha Mayassa Bint Hamad Al-Thani über Katar und die Entstehung einer Kunstszene dort schreiben. Richard Armstrong berichtet über die Entstehung des Guggenheim Abu Dhabi. Sofi Makariou, Vertreterin von Musée France, schreibt über die Entstehung der französischen Initiativen, den Louvre Abu Dhabi, jetzt Alola und die Museen in Saudi-Arabien. Catherine David wird eine Konversation mit Walid Raad führen. Carolyn Christov-Bakargiev, die die maßgebliche Documenta gemacht hat, ist mit einem Text vertreten. Wir haben alle Facetten. Wir haben die Direktorin, die das neue NYU Abu Dhabi gegründet hat. Wir haben die Center Player gewonnen. Auch Antonia Carver, die Privatsammlungen und die großen, staatlichen Sammlungen. Christine Tohmé, die in Libanon die Flamme seit den 90er Jahre immer hochgehalten hat und ihre Home Works in Beirut macht. Aus Ägypten ist William Welles dabei, der das Townhouse geführt hat. Ein Kanadier, der dort 30 Jahren das geleistet hat und jetzt in Bahrain etwas Ähnliches aufbaut. Omar Berrada schreibt über die Situation in Marokko. Yasime el Rashidi hat einen Beitrag beigestuert. Die Historikerin hat Bidoun, diese berühmte Zeitschrift über den arabischen Raum mit Negar Azimi und Lisa Farjam aufgebaut. Dazu haben wir Leute, die von außen, aus dem Westen geholfen haben, die arabische Kunstwelt zu erschliessen. Mehrere Professoren der Universität in Genf, die arabische Kunst unterrichten und die zum Beispiel eine Untersuchung über die Szene im Irak und die von Syrien geschrieben haben. Alexandre Kazerouni von der Ecole normale supérieure, der Saudi-Arabien und die Golfstaaten vor dem Ölkrieg beschreibt.

Es wird also ein Kompendium, ein zusammenfassendes Handbuch für diesen Zeitraum.

Für diese Ecke der Erde. Es sind 35 Autoren.

Zählt Israel zum Nahen Osten?

Nein! Es sind Besatzer, das ist ein Apartheidsstaat. Und da grenzen wir uns ganz scharf ab. Über Palästina hat Reem Fadda einen fantastischen Text gemacht. Also Palästina ist natürlich in dem Buch, aber natürlich nicht Israel.

Und was ist die Hisbollah?

Eine Miliz, eine Armee im Libanon vom Iran finanziert. Die nimmt uns alle als Schutzschilder. Eine grausame Truppe. Eine retrograde Bande. Die haben mehr Waffen als die libanesische Armee. Aber was soll ich sagen? Es ist wie Pest und Cholera. Israel droht jetzt damit, wenn wir Hisbollah nicht in den Griff kriegen, werden sie ganz Beirut und ganz Libanon bombardieren. Aber was soll das heißen? Wir können die Hisbollah nicht kontrollieren, dahinter steckt der Iran. Und jetzt? Jetzt will Israel gegen Iran Krieg führen. Und das machen sie auf unserem Boden?

Die Libanesen sind Geiseln in der Hand der Hisbollah?

Wer hat denn Hisbollah groß gemacht? Hisbollah ist entstanden im Südlibanon, um gegen Israel zu kämpfen, weil die Armee nicht dazu in der Lage war. Vorher waren die Palästinenser bewaffnet. Der Libanon ist ein sehr komplexes Land. Wir haben 17 oder 18 Religionen im Land und keiner mag den anderen. Das Schöne, was je gewesen ist, diese vielen Religionen lebten lange in Koexistenz. Das ist jetzt wieder extrem bedroht. Wir kommen aus einem schweren, 15 Jahre währendem Bürgerkrieg. Dann gab es eine kurze Hoffnung, weil Saudi-Arabien daran Interesse fand. Aber leider Gottes hat uns Saudi-Arabien fallen gelassen und die dann haben die Iraner und die Syrer und mit Ihnen Hisbollah als verlängerter Arm Hariri umgebracht. Und auf der anderen Seite haben wir diesen Netanjahu. Ein grausamer Typ. Alle denken, er hat recht, das zu tun, weil der 7. Oktober passiert ist. Und keiner in Deutschland hat gefragt: Wieso konnte dieser 7. Oktober passieren? Wieso konnte die Hamas das machen? Wenn Sie jetzt die neuen Informationen in Haaretz und Co online lesen, gibt es einen Prozess in Israel, weil er am Abend vorher wußte, dass es stattfinden wird. Ich habe Informationen, dass sie es ein Jahr im Voraus wussten, dass der 7. Oktober geschieht. Ich muss es sagen, der 7. Oktober ist nur passiert, weil sie es haben gewähren lassen. Um den Grund und das Recht zu haben, Gaza platt zu machen.

Wo wird die Festschrift vorgestellt?

Ich hoffe, dass wir im Libanon ein großes Essen machen und ein großes Fest und eine große Ausstellung. Unsere Künstler haben Ausstellungen überall auf der Welt, Yto Barada beispielsweise in der Fondation Maeght.

Aktuell ist Sung Tieu mit einer Soloschau in der Hamburger Galerie zu sehen, eine Vietnamesin, die in der DDR groß geworden ist. Keine Araberin. Eine Erweiterung nach Fernost?

Ich vertrete auch Dineo Seshee Bopape aus Südafrika. Ganz ehrlich, es ist schwer. Die Märkte, die Biennalen und die Museen packen dich in eine Schublade: Dann stehst du für eine Sache. Dagegen wehre ich mich. Meine Freiheit ist es, ein paar interessante Künstler auszuwählen, die nicht arabisch sind, die aber aus dem globalen Süden stammen. Sung Tieu ist Vietnamesin. Alles, was sie macht und thematisiert, ist Vietnam. Sie ist in Saigon geboren. Mit ihren Eltern ist sie nach Ostdeutschland umgesiedelt, aber sie fühlt sich als Vietnamesin.

Eine Befreiung aus der Schublade?

Ob sie aufgeht ist die andere Frage. Ich werde von den Museen angerufen und die wollen immer Ausstellungen mit arabischen Künstlern. Wenn ich jetzt jemand anders aufs Parkett bringe, ist es immer sehr viel schwieriger, Gehör zu finden. Nun, mit Tieu ist ein Leichtes, weil sie ist eine großartige, fantastische Künstlerin ist. Deswegen konnte ich François Pinault und all diese Leute gewinnen. So konnte ich sie in Paris in dieser alten Börse ausstellen und auch in Mailand im Pirelli HangarBicocca, auch im Migros Museum in Zürich. Doch wird es immer schwieriger, diese selbstgebastelte Schublade wieder zu verlassen. Wir gelten als Qualitätsbarometer für Künstler aus dem arabischen Raum. Ich laufe überall offene Türen ein. Wenn ich jetzt eine SMS an Glenn Lowry schicke, antwortet er mir umgehend.


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